25. April

Antonin Artauds Theater der Grausamkeit (cruauté) ist im deutschen Bereich zu einem Missverständnis geworden, weil man die doppelte Semantik des Begriffs übersehen hat; denn in »cruauté« steckt »cru«, und es geht keineswegs darum, auf der Bühne grausame Szenen vorzuführen, sondern die Szenen in ihrer Krudheit, das heißt in ihrer Rohheit, Reinheit, Einfachheit bestehen zu lassen; Rohheit ist die bessere Übersetzung für »cruauté«, da Rohes und Grausames im Deutschen (wie im Französischen auch) in eins fallen. – Noch mehr Poetica nach chinesischen (daoistischen) Weisheiten: Nichts beiseite lassen, nichts fallen lassen, nichts unbemerkt lassen, alles – lassen. – Auch nichts auf die Spitze treiben, nichts befördern, nicht mal ausrichten, um alles (möglichst vieles) in der Virtualität zu halten. – Verschiedenstes koexistieren lassen, egal ob in Harmonie oder in Antagonismen. – Alles offenhalten, alles zusammenhalten (zusammendenken). – Groß (sinnhaft usf.) kann nur sein, was fallengelassen wird, was liegenbleibt. – Leben lassen; es nimmt seinen Lauf. – Keine Bücher mehr? Bei mir sind es zur Zeit ungefähr fünfzehn- bis sechzehntausend Bände, einige Hundert davon signiert von den Autoren, manche gewidmet; und täglich werden es mehr. Obwohl ich bereits drei Kellerräume als Bücherlager eingerichtet habe und in der Wohnung keine einzige Wand mehr ohne Regal ist, kann ich das Sammeln nicht aufgeben … kann nicht einmal darauf verzichten, Doubletten anzuschaffen, wenn ich auf ZVAB oder anderswo im Internet antiquarische Angebote durchnehme. Habe eben – gleichzeitig – von Valery Larbaud die Erstausgabe des großartigen ›A. O. Barnabooth‹ von 1913 und die Gesamtausgabe der Bibliothèque de la Pléiade bestellt, obwohl ich den ›Barnabooth‹ bereits als Taschenbuch besitze und … und obwohl ich mir darüber hinaus im Klaren bin, dass meine ganze Büchersammlung insgesamt nichts als zwei, drei, vielleicht vier Tonnen Makulatur ausmacht, die ich nicht mal als Schenkung jemals loswerden kann. Junge Leute von heute kommen demgegenüber mit ihrem Smartphone aus, auf das sie vom Börsenbericht via Sport, Musik, Tratsch und Kino bis hin zu den ›Römischen Elegien‹ (und noch viel mehr) herunterladen können – und es auch tun. Im Unterschied zu mir empfinden sie dabei keinerlei Defizit, nein, als ich unlängst einer schreibenden Kollegin vom Jahrgang 1982 meine Anthologie ›Als Gruß zu lesen‹ und Maurice Blanchots ›Freundschaft‹ geschenkweise mitgeben wollte, bat sie mich, die Bücher nur ja nicht zu widmen, da sie sie ohnehin nicht behalten, sondern weiterreichen werde – an ihre Tante Simonida, die einzige Person in ihrem weiten Bekanntenkreis, von der sie wisse, dass sie »noch auf Papier liest«. – Habe heute (bei Vollmond) zwölf Stunden in Folge geschlafen, viel geträumt, alles vergessen, wieder ein Kilo abgenommen, bin vermutlich auch um einen oder anderthalb Zentimeter kürzer. Überhaupt das Abnehmen! Ich muss mich als Hungerkünstler behaupten, wenn ich irgendwann, wie ich es mir wünsche, spurlos verschwinden will, einfach plötzlich weg sein, ohne vermisst zu werden … ohne gesucht und, vor allen Dingen, ohne gefunden zu werden. Weg sein, wie nie dagewesen. Weg sein? Der Weg dahin ist lang. Und Julien Torma ist kein verlässlicher Vorgänger. – Hochsommerlich angehaucht alles, schon gegen Mittag um die fünfundzwanzig Grad, dazu ein angenehmer linder Wind; Krys steckt die Haare hoch, in ihrem Nacken schimmert der blonde Flaum; mit offenem Dach fahren wir über Vaulion nach Le Pont; im Saftladen am Quai gibt’s eine Quiche, dazu Mönchstee; ich trage mein Tagebuch nach, sie notiert zu meinem jüngsten Liedtext eine Melodie, in der schwarzen Sonnenbrille, die sie auf die Stirn geschoben hat, spiegelt sich die Bucht, der schmale Sandstrand, dahinter Hügel, der Wald nach Frankreich hin. Bald wird es zu heiß, wir bitten um einen Sonnenschirm. Ich versuche mich an der Übersetzung des mehrsprachigen Schneegedichts von Valery Larbaud: Un año màs et iam eccoti avec nous again
aaaaaArm und klein on the graves dos nossos amados édredon
aaaaaE pure pionsly tapàudolos in their sleep
aaaaaDal pallio glorieux das virgens et infants … – Ich berichte Krys von meinem allmählich sich klärenden Romanprojekt. Diesmal soll die Zeit um 1800 die Kulissen liefern (Landschaften zwischen Marokko und dem Ural; Straßenbilder und Interieurs aus Paris, Petersburg, Hamburg, Rabat, Tulczyn usf.), in denen aber Protagonisten unserer Zeit, mit unserem Wissen und Bewusstsein agieren – der Plot soll als eine Art Second-Life-Inszenierung vorgeführt werden, die wie auf einem Monitor laufend entworfen, verändert, verfremdet wird. So kann ich nach Belieben Avatare ins Spiel bringen und sie auf immer wieder andern Schauplätzen zusammenführen, zum Beispiel bei einer Lesung in Klopstocks Hamburger Loge, zu der ich reale wie auch fiktionale Figuren delegiere, etwa Breton oder Byron oder einen gewissen Amos von Somach, um sie über Politik oder literarische Fragen reden zu lassen. Dazu benötige ich einen »gleichgültigen«, als Medium geeigneten Erzähler, der die Handlung jedoch eher wie ein Regisseur aufbaut, stets also mit dem Blick darauf, was hier und jetzt zu sehen ist, und nicht, wie üblich in der Erzählliteratur, was man wissen oder vermuten kann. Die Techniken … die Möglichkeiten von »Second Life« bestimmen dabei nicht allein die Darbietung des Plots, das »zweite Leben« ist auch metaphorisch zu verstehen als Versuch einer Autobiografie mit andern Mitteln, anderm Personal, in andern Zeiten und Räumen, als ein »literarisches«, somit virtuelles Leben, das man ebenso zufällig nicht gelebt hat, wie man es von Zufall zu Zufall zu bestehen hat, ein Leben, das man allenfalls hätte leben wollen, dessen Realitätsstatus sich aber auf die Dimension einer »möglichen Welt« beschränkt. Ich vermute, sage ich, dass dies auch dem Status unseres Bewusstseins … unseres heutigen Welt- und Selbstbewusstseins entspricht, da die Realität sich mehr und mehr dem Möglichen öffnet, aus Möglichkeitsformen sich aufbaut und umgekehrt das Reale in der Dimension des Möglichen gleichsam verdampft. »Klar!«, stöhnt Krys: »Bei dieser Hitze!« Also gut – ein vielleicht zu großes Thema für diesen Nachmittag, vielleicht ein Thema, das vom Roman … dass mit den Techniken des Romans nicht mehr zu bewältigen ist. »Aber wie und wo«, frage ich: »Und von wem denn sonst? Von der Philosophie? Wohl kaum. Kunst? Auch nicht. Musik vielleicht!« – Nichts zu sagen haben? Wer nichts zu sagen hat, kann nicht widerlegt, nicht gelobt, nicht missverstanden werden. Doch wie im Detail der Gott hockt, so lauert im Nichtssagenden der Abgrund.

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