3. August

Miese Tage allein mit Herrn Kopf, der seinerseits voll mit der Migräne beschäftigt ist. Ob die Migräne, weil Besseres fehlt, als Muse zu denken wäre? Als produktives Leidwesen! Als ungutes Glück! – Das Mögliche als spezifische Wirklichkeitsform. Paradies oder Bordell? Aber doch beides zugleich! Meint Monsieur Teste; und darüber hinaus stellt er, im Konditional, souverän fest: »Wüssten wir, wir sprächen nicht – wir dächten nicht, wir redeten nicht miteinander.« Um so besser denn, dass er nicht weiß. Allerdings weiß er, dass er nicht weiß, und dieses Wissen um sein eigenes Nichtwissen lässt ihn seine menschliche Verfassung aus der Negation heraus besonders klar erkennen … lässt ihn erkennen, dass Ein– und Un– (zum Beispiel also Einsamkeit, Ungemach) sein hiesiges Dasein wesentlich bestimmen. »Gut so!«, würde jener Teste wohl sagen: »Das Wesentliche ist gegen das Leben.« Und gern lass ich ihn ausreden: »Alles, was ich mache und denke, ist bloß Spezimen des mir Möglichen. – Das mir Mögliche lässt mich niemals im Stich. – Was ich an Unbekanntem … an mir selbst Unbekanntem in mir trage, macht mich überhaupt erst aus. Was mir an Unbedarftheit … an Ungewissheit anhängt, das ist mein eigentliches Ich.« – (Bin ich oder ist Ich?) – »Meine Einsamkeit – das ist nur einfach, seit vielen Jahren schon, der Mangel an dauernden und tiefen Freundschaften; an vertrauten Gesprächen … an Dialogen ohne Präambel, ohne die letzten Finessen – kostet mich viel. Das Leben ohne Widerstände, ohne solch lebendigen Widerpart, solchen Zugriff, solch andere, gegnerische Person ist kein ›Leben‹, bleibt abgesondert von der Welt, ist Hindernis und Schatten des Ich – andern Ichs – ist rivalisierende, nicht zu unterwerfende Intelligenz – der beste Freund als Feind, göttliche, schicksalhafte, innerste Feindseligkeit und …« Und all dies wörtlich. – Habe heute Nacht bis gegen drei Uhr gearbeitet, ohne jede Ermüdung, in seltsamer Erregung, als bliebe keine Zeit mehr für das Wichtigste; bereits um halb sechs wieder wach und gleich aufgestanden; der Tag zeigt sich in merkwürdiger Verfassung – ein dichtes, nach oben ausfransendes Nebel- oder Dunstband liegt unmittelbar über der Erde und lässt noch keinen Schatten aufkommen, während der Himmel bereits offensteht, hellblau angehaucht und locker verspannt mit weitläufigen, teilweise sich kreuzenden Kondensstreifen, die sich aber rasch auflösen und in bauschige Wölkchen zerfallen. Ungewöhnliches Zwielicht. Angenehme Frische. Rundgang durch den Klosterbezirk, als erster Kunde in der Bäckerei, dann Frühstück auf der Gartenterrasse, nebenbei notiere ich ein paar Traumfragmente, lege mir, eher lustlos, ein Tagesprogramm zurecht. Die steinerne Tischplatte wärmt sich unter der steigenden Sonne allmählich auf. Plötzlich der ungute Eindruck, mein Kopf mache sich über mich lustig. – Irgendwo in Bangladesch ist in diesen Tagen irgendein Fabrikgebäude eingestürzt … an einem bestimmten Ort in Bangladesch ist vorgestern ein bestimmtes mehrstöckiges Fabrikgebäude eingestürzt, hat Hunderte von Textilarbeiterinnen unter sich begraben, fünfhundertvierunddreißig Tote und hundertsechzehn zum Teil schwer Verletzte sind bisher geborgen worden, mehr als einhundert werden noch in den Trümmern gesucht. Gesucht werden auch die Schuldigen. Doch Schuldige gibt es in diesem Fall nicht. Niemand hat das Gebäude willentlich zum Einsturz gebracht, niemand hat die Opfer ausgewählt, um ihnen zu schaden oder sie ums Leben zu bringen. Niemand wird aus der Katastrophe Profit ziehen können. Zwar hat man den Fabrikbesitzer und die Geschäftsleitung verhaftet, in Straßendemonstrationen und in einem Teil der Presse wird ihre Hinrichtung gefordert, doch eine vorsätzliche kriminelle Tat mit erkennbarem Motiv ist nicht auszumachen. Nicht Schuld ist auszumachen, aber Verantwortungslosigkeit, Schlamperei, Mogelei. Die Bauherren haben am Material gespart und Sicherheitsvorschriften missachtet; die Baustatiker haben fehlerhaft gerechnet und falsch disponiert; korrupte Beamte haben Bestechungsgelder kassiert und die Baubewilligung erteilt; die Fabrik hat unter dem Preis- und Konkurrenzdruck ausländischer Auftraggeber produziert; die Auftraggeber haben sich um die Missstände nicht gekümmert; die hiesigen Käufer der Billigware haben nicht nach deren Herkunft und Produktionsbedingungen gefragt. Alle sind in irgendeiner Weise mitschuldig … alle sind mitverantwortlich an der Katastrophe, auch wenn keiner sie gewollt hat. Auch wenn keiner sie gewollt hat, hat doch jeder ihre Wahrscheinlichkeit ermessen können, und jeder hat sie, bewusst oder unbewusst, als Möglichkeit in Kauf genommen. Dennoch sind die Opfer und ihre Angehörigen nicht die Opfer der Verantwortlichen. Keiner der direkt und indirekt Verantwortlichen hatte es auf sie persönlich oder auf sie als Kollektiv abgesehen – sie sind Opfer des Zufalls, nicht anders als die Opfer einer Naturkatastrophe. Ein Erdbeben hätte exakt dieselben Folgen haben, dieselben Opfer fordern können wie dieser Fabrikeinsturz. Ohne Schuld Opfer zu werden gehört ebenso zu den unbegreiflichen Fatalitäten des normalen Menschenlebens wie ohne böse Absicht – wenn auch aus Nachlässigkeit oder Profitgier – Opfer zu verursachen. In beiden Fällen gibt es weder Schuldige, noch gibt es Gerechtigkeit. Wer da klar kommt! – Ich lese Hans-Jost Freys »Lesespäne« zu Dante und meine stellenweise mich selbst zu lesen … so weitgehend stimme ich im Verständnis von Dichtung mit ihm überein. Zwar fehlen mir Freys methodische Konsequenz und sein didaktischer Impetus, doch insgesamt konvergieren unsere Lektüreerfahrungen wie auch deren kritische Reflexion in fast jeder Hinsicht. Bisweilen kann die Übereinstimmung auch etwas Befremdliches haben … eine befremdliche Vertrautheit, die sich einstellt, wenn ich im Text des andern Sätze zu lese bekomme, die ich selbst hätte schreiben können … die ich mir selbst zuschreiben könnte; einfache Sätze wie diese – für jedermann verständlich, von kaum jemandem begriffen: »Das Gedicht ist vor allem anderen ein Sprachgebilde, als solches gedacht und gemacht. Man nimmt es beim Wort, indem man auf seine Sprachlichkeit achtgibt.« – »In der Dichtung ist das Mittel immer zugleich auch das Ziel.« – »Man versteht einen dichterischen Text nur dann als solchen, wenn man versteht, dass die Bedeutung dessen, was er sagt, nur von der Art her zu verstehen ist, wie es gesagt ist.« – »In dichterischen Texten sind die Verfahrensweisen sinnstiftend.« – »Jeder Veränderung des Wie fällt auch das Was zum Opfer.« – Und letztlich die »Einsicht, dass Poesie keine andere Wahrheit begründen kann als die des sprachlichen Akts, der sie ist«. Usf. Die Pauschalität und Trivialität solcher Aussagen kontrastiert mit der bedauerlichen Tatsache, dass sie weithin … dass sie fast durchweg missachtet, übergangen oder als elitär abgewiesen werden. Denn auch heute noch wird das Gedicht in erster Linie auf seine Mitteilung abgefragt, derweil seine Sprachlichkeit, falls überhaupt, als ein Supplement begriffen wird, das dann noch dazukommt. – Barack Obama, US-Präsidentschaftskandidat, stellt seinen running mate vor – er redet im Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln vor ein paar tausend Leuten, dann hält der präsumtive Vize Joe Biden seine Rede, derweil Obama, sichtlich mit anderm beschäftigt, neben ihm auf einem Stuhl sitzt, schwungvoll ein Bein übers andere schlägt, dabei eine große, zitronengrün durchscheinende Petflasche direkt an den Mund setzt, um sie in einem Zug leerzutrinken. Warum fällt mir das auf? Was ist an der Episode bemerkenswert? Was bedeutet dieser eine Moment für Obamas Kampagne, für seine Wahlchancen, für sein Image, für sein Fortkommen, und was wird er einst für sein Leben bedeutet haben? Sicherlich nicht nichts, aber was denn sonst? – Bei neuerlicher Lektüre von Johann Wolfgang von Goethes Schriften zur Literatur und Kunst fallen mir einerseits seine resümierende Betulichkeit und sein Beharren auf Harmonie und Naturnähe in künstlerischen Dingen auf; anderseits das Divagierende dieser Texte, bei denen das vorgegebene Sujet – zum Beispiel in den Versuchen über Etienne Falconet oder Laurence Sterne – nicht einmal erwähnt wird: Goethe rezensiert hier gewissermaßen um seinen Gegenstand herum. – In der NZZ ist heute auf der Seite der vermischten Meldungen eine Notiz zu lesen, wonach Margaret Thatcher – einstige Iron Lady – inzwischen so dement sei, dass sie den Falkland- mit dem Balkankrieg verwechselt und stur der Meinung ist, sie habe auch diesen Krieg gewonnen.

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