4. Juni

Bin gestern in einer Kiste mit »unentgeltlicher Liquidationsware« vor dem Ortsmuseum in Orbe auf die Erstausgabe des achten und letzten Bands von Marcel Prousts ›Recherche‹ gestoßen, erschienen neunzehnhundertsiebenundzwanzig bei Gallimard an der rue de Beaune in Paris. Es handelt sich um eine herrlich hässliche Broschur, 237 Seiten, holzhaltiges, schon deutlich vergilbtes Papier, fahrige Fadenbindung, schlecht ausgedruckter Satz – aber wie das leichtgewichtige Buch in der Hand liegt! Welch benebelnder Geruch davon ausgeht! Und wie großartig sich der Text in dieser Fassung liest, die ihn doch fast unlesbar erscheinen lässt mit den überlangen Zeilen, die sich oft seitenlang, eng gesetzt und absatzlos, dahinziehn. Jetzt bin und bleibe ich am Lesen. Doch ich lese nicht wirklich die langfädigen und über weite Strecken tatsächlich langweiligen Geschichten, für die ich kein Interesse aufbringen und die ich mir auch gar nicht merken kann; vielmehr lese ich, schlicht und vordergründig, Sätze, Satzperioden, delektiere mich an ingeniösen Vergleichen und Metaphern, bewundere Prousts einzigartige Beschreibungskunst, in der die Aura der vergegenwärtigten Objekte, Personen, Gebäude, Landschaften, Kunstwerke noch einmal auflebt, als wäre ich der, der sie wahrnimmt. Überhaupt ist dies der Triumph langweiliger Bücher, dass in ihnen, sofern sie stark geschrieben sind, die Handlung verdämmert oder jedenfalls zurücktritt, damit umso klarer die Machart des Texts, der Bau der Perioden, die Konstruktion der Bilder hervortritt. Ich unterstreiche auf jeder zweiten, dritten Seite einen Satz, den ich auch dann noch im Gedächtnis behalte, wenn ich längst wieder vergessen habe, durch welche Handlung … durch welche Handlungen er das zahlreiche Personal – Charlus, Verdurin, Brichot, Jupien, Léon, l’Abbé, Saint-Loup, Françoise, Albertine und wie sie alle heißen – überhaupt zusammenführt und zusammenhält. Ich bleibe dran. – Ich laboriere … ich kranke weiterhin an meinem Roman, komme schlecht voran, verliere Lust und Interesse am Schreiben, bin mir auch – plötzlich – nicht mehr sicher, ob die Fiktionalisierung von Jan Potockis realer Lebensgeschichte und deren Engführung mit einem vorprogrammierten Computerspiel über zwei-, dreihundert Seiten literarisch machbar ist und von Interesse sein kann. Bin heute gegen Mittag bei offenem farblosem Himmel und brutaler Hitze nach Le Pont hochgefahren, sitze nun auf der Terrasse des Hôtel de Joux über dem flachen Seeufer; eine älteres Paar (irisches Englisch) hält sich noch beim Brunch auf, keine Gäste sonst. Ich bestelle einen Rosé von der Côte de l’Orbe, mit Eis, sehe mit Blick auf die leicht gekräuselte, im hohen Licht glitzernde Wasseroberfläche plötzlich meinen Helden ins Bild treten und lasse ihn nun in einer Episode aufspielen, die ich eigentlich nicht vorgesehen hatte und die sich vielleicht auch gar nicht in den Roman wird einpassen lassen. Doch ich versuch’s mal, beginne rücksichtslos und aufs Geratewohl in einem noch leeren Moleskinebuch zu krakeln und lese beim zügigen Schreiben, was folgt. »Es folgt die Geschichte eines denkwürdigen Duells, das einige von uns (und sicherlich auch einige von euch) als 3D-Game aus der Serie ›Russian Geniuses, Adventurers & Martyrs‹ kennen, über das hier aber unbedingt noch einmal realitätsnah berichtet werden soll und das außerdem durch einige vergessene Details zu ergänzen ist. Für uns werden vor allem andern die folgenden Fakten von Interesse gewesen sein. Zur Person des Helden: Gewöhnlich ist er in schwankender Stimmung, sein melancholischer Charakter und seine leise, zischende Redeweise verstärken den Eindruck des Geheimnisvollen, wenn nicht Unheimlichen, das ihn umgibt. Dazu trägt nicht zuletzt das Gerücht bei, er beherrsche zweiunddreißig Sprachen, mindestens aber – in Wort und Schrift – deren siebzehn, darunter auch manch eine ausgestorbene. Warum er die militärische Karriere ausgeschlagen und wie er den Weg auf die Festung gefunden hat, weiß hier niemand, und keinem ist so richtig klar, aus was für Mitteln und mit welchem Ziel er sein gleichermaßen ärmliches und verschwenderisches Leben an diesem Punkt der Erde und der Weltgeschichte absolviert …«

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