5. August

Epiktet, Marc Aurel – Sklave, Kaiser; Zeitgenossen und beide zusammen soviel wie der Mensch in all seinen Wirklichkeits- und Möglichkeitsformen. Bei Marc Aurel findet sich immer wieder der Hinweis auf das Vorausdenken, das Vor- und Vorhersehen, das sich Vorstellen als Grund von Verdruss und Ungemach. Da liegt wohl der Ansatz zum Verständnis der sprichwörtlichen Melancholie schöpferischer Menschen. Bei mir ist’s nicht anders. In allem, was ich tue … in dem, was ich sage, schreibe, schwingt immer schon mit, was ich als Reaktion darauf, als Antwort erwarte, ohne eine solche in irgendeiner Weise zu provozieren. Heute lese ich in einem medizinischen Tagungsbericht der FAZ, dass das menschliche Gehirn, vermutlich also auch meins, in all seinen Optionen und Operationen nicht vorab auf ein Reales angelegt sei, sondern immer auf ein Mögliches, Wahrscheinliches, vage zu Erwartendes. Mag also sein, dass jemand, bei dem diese Grundfunktion besonders stark entwickelt und aktiv ist, unwillkürlich vom realen Hier und Jetzt ins labyrinthische Gehege der konjunktivischen und konditionalen Welt abdriftet. – Früh morgens treffe ich bei meinem Rundgang nächst dem Friedhof auf eine kleine Gruppe von Kühen, die wie ausgemusterte Schränke im Gelände weit auseinander stehen. Reglos stehen sie da, nur ihre Schwänze mit der schweren Quaste sind in ständiger Bewegung, fliegen, kreisen über den massigen Leibern, beschreiben Linien, Figuren von lässiger Schönheit und sind doch für nichts anderes gut als für die Verscheuchung der bläulich glitzernden Fliegenschwärme, die um ihre glotzenden Augen und um ihren verschmierten After tanzen, bis ein weiteres Mal – jetzt! – der Schwanz durch die Luft peitscht und das Ungeziefer wegklatscht. – Nachbemerkung zu Boris Vildé (Gefängnistagebuch). Dass der Mann in dem Jahr zu Tode gebracht wurde, in das meine Geburt fällt, und dass sein Schreiben unterm Druck einer schwindenden Lebensfrist stattfand, das hat mich nicht unberührt gelassen, hat mich – mir selbst – die Frage stellen lassen: Was eigentlich mache ich, wie gebe ich mich zu erkennen und wohin geht meine Schreibbewegung angesichts der rasch sich verkürzenden Zielgerade? Vildé hat dafür die optimale … hat eine multiple Schriftform gefunden: Selbstbefragung, Selbstbekenntnis, Selbstkritik, dazu Lektüre als Überlebenstext (selbst schwache Autoren werden für ihn zu Partnern seines Denkens), inszenierte Dialoge, Reminiszenzen. Es gibt für Vildé keine Hoffnung mehr, keine Projekte, kein Haben und kein Wollen über das eigene Leben hinaus, auch nicht … nicht einmal den Wunsch, irgendetwas bedeuten zu wollen … bedeutend sein zu wollen im Nachgang zum Leben. Auch ich sollte mich auf riskante, nicht vorab berechenbare Schreibbewegungen beschränken, auf intransitive Bewegungen, die sich mehr oder minder eigendynamisch entfalten, nicht auf ein vorgefasstes Ziel hin (das Ziel also, etwas Bestimmtes beziehungsweise etwas Bestimmendes in einer bestimmten Form zu kommunizieren), vielmehr im Akt des Schreibens einzuholen, einzubringen, was in vorbestimmter Form nicht möglich, jedenfalls »nicht der Rede wert« wäre. Das Schreiben selbst als Suchbewegung und Erkenntnisakt – wie viel mehr gewinne ich doch an Einsicht beim Schreiben … durch das Schreiben eines Gedichts, als wenn ich (wie üblich in der Publizistik, in der Wissenschaft) resümiere, was ich, zuvor erarbeitet, bereits begriffen habe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00