Esther Andradi: Microcósmicas / Mikrokosmen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Esther Andradi: Microcósmicas / Mikrokosmen

Andradi-Microcósmicas / Mikrokosmen

ALTE MAUER

In Berlin träumt die Mauer, dass sie zu Schutt und Asche zerfällt, dass ihre Festigkeit innerhalb eines Tages zu Staub wird und Touristen sie zum bloßen Kunstobjekt machen.
Lange Zeit war es nur eine gefürchtete Vorstellung, doch jetzt ist ihr Alptraum Realität geworden.
Wütend wacht sie auf und vermehrt sich empört an allen Grenzen, die die Welt zu bieten hat. Immer höher, immer unbezwingbarer.
Doch selbst die leichteste Brise verletzt ihren zu Tode gekränkten Stolz.
Und die Schlaflosigkeit zerfrisst sie von innen.

 

 

 

Zu Esther Andradis Microcósmicas

Esther Andradi entwickelt die Welt aus dem Wort. Und die Welt ward Wort und das Wort wurde zur Welt. Der Titel dieses Bandes verkündet es programmatisch: Die Mikrokosmen dieser zwischen Berlin und Buenos Aires lebenden Schriftstellerin erheben Anspruch auf den Makrokosmos, ihre Mikrotexte bringen en miniature einen Kosmos hervor, der in seiner Entstehung und Ausgestaltung sein ureigenstes Chaos niemals verleugnet. Denn „Schreiben ist / sich anlegen / mit dem Chaos.“ (Axioma doméstico). Ein Prozeß, der nie zu Ende sein kann, der nie zu Ende ist.
En miniature? Das ist das Gegenteil des Harmlosen, des Niedlichen, des einfach Netten. Miniaturisieren bedeutet, wie die Kunst, wie die Wissenschaft ein Modell zu entwickeln: ein Modell der Welt, das letztlich die Welt begreifen, nach der Welt greifen will. Hinter dem scheinbar Harmlosen lauert im Alltäglichen täglich der Abgrund: Er lächelt uns an.
Wie in „El Laberinto“. Auf der Tastatur des Rechners jagt eine Katze die Maus. Die Katze schaut uns an und lacht. Doch die Welt in Esther Andradis Schöpfung ist kein Paradies, kein Land des Lächelns. Denn im Blick der Katze, die das Ich beim Spiel der Buchstaben begleitet, lauert das Labyrinth. Nicht irgendein Labyrinth. Am Anfang oder Ende von Ariadnes rotem Faden findet sich nicht der Ausgang, sondern der Minotauros. Gewiß: der Mikrotaurus. Aber auch er steht miniaturisiert für Rätsel und Gesetz, Suche und Tod. Das Leben, sei es noch so klein, bleibt Leben: Darin liegt Hoffnung.
Nein, ein idyllisches Zusammenleben gibt es in diesen Texten, die verdichtet zupacken, nirgendwo. Zwischen diesen Zeilen ist das Leben kein ,Ponyhof‘: Dies gilt nicht nur für die Ziegen im gleichnamigen Gedicht „Cabras“. Das Paradies muß anderswo sein, doch ist es nicht verloren. Immer wieder schimmern durch die raschen Bilder eines friedlichen Zusammenlebens, eines vom Virus noch nicht befallenen Lebens die flackernden Flammen einer kleinen Hölle durch, aber die Wege durch das Fegefeuer dieser Schöpfung teilen doch mit Heinrich von Kleist die tiefe Einsicht und Hoffnung:

Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.

Machen wir also eine kleine Reise um die Welt. Und lassen wir anderen die schlechten Fiktionen:

Die Aktien landen im Fegefeuer. Die Hypotheken in der Hölle. Nur das Paradies ist für die Scheine: Dort werden sie zum Baum der Erkenntnis und die Schlange lacht sich tot. („Las hojas muertas“)

Lassen wir Schlange und Katze lachen und folgen wir der „Invitation au Voyage“ in Esther Andradis Mikrokosmen: Erleben wir eine richtige Reise um die Welt in fünfzig Texten. Berlin ist Buenos Aires, Buenos Aires ist Berlin: Ein Ort ist immer auch ein weiterer Ort, ein Wort gibt immer auch ein weiteres Wort. Nicht das Andere zählt, die Alterität, sondern das Weitere, das Weite. Das Labyrinth des Minotaurus dürfen wir getrost auf Kreta verorten, doch ruft es zugleich jene Labyrinthe auf, die von einem erblindenden Schriftsteller in Buenos Aires aus so vielen Traditionen und Perspektiven zugleich schöpfend erfunden oder gefunden wurden. Als argentinische Schriftstellerin hat man das gute Recht, mit Jorge Luis Borges, dem Autor aus dem Stadtteil Palermo, Katz und Maus zu spielen. Aber ihn auch wieder hinter sich zu lassen und zu sehen, ob das Kleist’sche Paradies nicht von irgendwo anders wieder zugänglich zu machen ist.
Doch bleiben wir noch einen Augenblick am Rio de la Plata. „Las hojas muertas / The Autumn Leaves“ spielen mit der so fruchtbaren lateinamerikanischen Tradition der Blätter jener Kurztexte, die der uruguayische Schriftsteller José Enrique Rodó niederschrieb. Er verstarb vor hundert Jahren auf seiner Reise um die Welt, auf seiner Suche nach dem unendlich beweglichen Text, 1917 in Palermo, auf jener Insel im Mittelmeer, auf der sich die Sprachen und Kulturen so intensiv wie auf Europas Insel Kreta in allen Migrationen kreuzen. Sein Meisterwerk, seine Motivos de Proteo, die nur aus Kurz- und Kürzesttexten bestehen, hatte er bereits verfaßt: ein Buch ohne wirkliches Ende. In seinen Proteus-Motive ließ er alle Bewegungen im Bild eines Laubwirbels, ja eines Laubsturmes aufgehen. Rauscht darin nicht etwas vom Baum der Erkenntnis?
Esther Andradis Schreiben mag mit den Pfoten der Katze spielen: Aber es ist tief eingesenkt in jene Traditionen eines Schreibens aus anderen Hemisphären, das eine Weltliteratur Goethe’scher Prägung hinter sich läßt. Es ist ein Schreiben im klaren Bewußtsein, daß die Weltliteratur mit ihrem Zentrum in Europa (oder auch in den USA) längst historisch geworden ist und ihren Platz den Literaturen der Welt überlassen hat. Diese sind nicht auf einen Ort und eine Logik zu reduzieren, sondern viellogisch und von vielen Orten her verfaßt. Diese Literaturen der Welt öffnen sich auf alle Geographien. Denn sie entwerfen andere Kartographien als jene, die Europa einst als Netze über die Welt auswarf.
Esther Andradis Texte sind viellogisch und vielsprachig: Sie orientieren sich nicht an einem einzigen Meridian. Sie entfalten Kartographien, in denen sich das Mittelmeer auf dem Berliner Schreibtisch unversehens auf ein Argentinien hin öffnet, welches das Kleist’sche Irgendwo immer woanders sucht. Sie führen uns vor, daß wir die Welt nicht von einem einzigen Ort, von einer einzigen Sprache aus adäquat verstehen können. Sie führen uns dies en miniature vor: wie in „Memoria Cafuné“, wie in einer „Kunst, durch die Haare zu streicheln“.
Der Mikrokosmos läßt sich im Sinne Esther Andradis als Makrokosmos nicht von einem einzigen Ort aus leben, nicht von einem einzigen Ort aus lesen. Sein Lebensprinzip ist die Bewegung. Die Mikrokosmen, die in diesem Band versammelt sind, bilden weder Utopien noch Atopien und schon gar keine Dystopien. Sie entwickeln die Choreographien von Bewegungs-Orten, die immer mehr sind als ein fester Ort. Ihre Vektoren bilden Vektopien. Von der Kunst, auf beiden Seiten des Atlantiks zugleich zu leben. In denen das Irgendwo nicht zu einem Nirgendwo und damit zur Ent-Täuschung gerinnt, sondern sich auf ein neues Wo hin öffnet, in dem die Täuschungen der Fiktion, die Wahrheit der Lügen, sich stets auf ein Weltbewußtsein zubewegen, das doch in seiner Fülle nie zu erreichen ist.
Wie der Makrokosmos ist auf diesen Seiten auch der Mikrokosmos in ständiger Bewegung. Ja mehr noch: Er ist verdichtete Bewegung: an jenen Orten, an denen sich Dichtkunst und Mikrotext verbinden. In der Tat ist in dieser Literatur ohne festen Wohnsitz alles in Bewegung: zwischen den Orten, zwischen den Worten, zwischen den Sprachen, zwischen den Metamorphosen, den sich immer wieder verändernden Zuständen des Seins. Das Sein ist in diesen Mikrotexten, in diesen Mikrokosmen stets ein Geworden-Sein, eine Welt im Wandel und eine Welt in Stücken zugleich. Wie eine Musik, die sich als Fuge, als Flucht in der Zeit, in immer neuen inneren und äußeren Bewegungen entfaltet, verklingt und wieder anhebt: in einem Allegro ma non troppo, einem Andante furioso, einem Rallentando, einem Vivace und einem Fine. Aber gibt es da wirklich ein Ende?
Denn alles ist im Fluß – „Panta Rei“:

Im Meer des Bauches sind wir alle Reisende und Migranten.

In diesem Meer bilden Esther Andradis Texte lebendige Inseln. Diese ordnen sich zu Archipelen an, die im Zeichen von Proteus, im Zeichen des unabschließbaren Wandels, miteinander in Verbindung stehen. Es gilt, von Insel zu Insel zu übersetzen und überzusetzen.

Ottmar Ette, Potsdam, September 2017, Nachwort

 

Dieses Buch spricht über die Schöpfung

in all ihren Sinnen: die des Lebens und des künstlerischen Schaffens, das unter anderen möglichen Artikulationen die Verbindungen (zwischen Lebewesen, Menschen und Tieren) und der Vergangenheit durch Erinnerung beinhaltet. Es ist ein Buch, das von Tieren und Menschen bevölkert ist, geschützt oder hilflos in Chaos und Schöpfung, eingeschlossen im Microkosmos.

Sandra Bianchi, argentinische Autorin und Literaturkritikerin, Klak Verlag, Klappentext, 2018

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

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Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts

 

Esther Andradi und Tobias Schwartz in Folge 17 von Berliner Salon im La Ninfa Eco aus Berlin.

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