Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Das eine Wort (Teil 1)

Das eine Wort

 

Im «Sandbuch», seinem Spätwerk von 1975, referiert Jorge Luis Borges («nicht wörtlich, aber glaubwürdig») nach diversen Textvorlagen einen alten Reisebericht, in dem vom vergessenen Volk der Urnen die Rede ist, deren Dichtung aus einem einzigen – unverständlichen – Wort besteht: undr. Die Suche nach dem Sinn dieses einen Wortes erbringt nichts als Vermutungen, undr könnte «Wunder» bedeuten, oder auch «Gott», oder einfach «Wort». Wäre letzteres der Fall, würde undr nicht die Bedeutung für «Wort» wiedergeben, sondern wäre selbst (nichts anderes als) das Wort.
Die Frage nach der Wortbedeutung erledigt sich in aller Regel durch den jeweiligen Wortzusammenhang, den Satz, den Kontext also, innerhalb dessen das Wort verwendet wird. Tritt das Wort kontextfrei auf, verliert es zumeist seine Eindeutigkeit und ermöglicht, ja, evoziert unterschiedliche Lesarten, die weder als richtig noch als falsch auszuweisen sind.
So kann etwa das Wort «Gang», wenn es freigestellt ist, alternativ eingesetzt werden für das Gehen (zu Fuss sich bewegen), für den Gang (Schaltung) eines Motors, für den Gang (das Laufen) einer Uhr, für die Gang (als Gaunerbande), für den Gang als Flur, Korridor, Stollen, für den Gang als Teil eines Menüs u.a.m. – Dass die meisten Wörter demzufolge mehrdeutig sind, kann man als sprachlichen Reichtum verbuchen, man kann es aber auch umgekehrt als ein Defizit der Sprache auffassen, die eben nicht für alle möglichen Bedeutungen ein eigenes Wort zur Verfügung hat.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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