Probe aufs Exempel: APROPOLLINAIRE (8)

Ein Widmungs- und Gedenkgedicht

von

Felix Philipp Ingold

ins Deutsche gebracht nach einer französischen

Partitur von Stanley Chapman

 

Zugang

Die nachfolgende Textsequenz umfasst − ohne den vorangestellten Gruß − insgesamt 20 Gedichte, die komplex strukturiert und auf vielfältige Weise aufeinander bezogen sind. Als formales Ordnungsprinzip dient der Name GUILLAUME APOLLINAIRE, der als Akrostichon eingesetzt wird: Vor- und Nachname, vertikal angeführt, liefern für jede Verszeile den Anfangsbuchstaben. Zu GUILLAUME ergibt dies 9 Zeilen, gegliedert in 3 Strophen, jede gereimt nach dem Schema ABC bei gleichbleibender Lautqualität (-ant / -eit / -acht).
Das Schema kommt also dreifach zur Anwendung, allerdings darf jedes Reimwort innerhalb des Gedichts nur einmal vorkommen. Die 9 Verse werden ergänzt durch die Titelzeile, die sich im ersten Gedicht auf den ersten, im zweiten auf den zweiten, im dritten auf den dritten Vers reimen muss (usf.). Auf dieser stark verdichteten, dabei höchst variantenreichen Reimqualität beruht im Wesentlichen die ausgeprägte, gleichsam symphonische Klanglichkeit der Einzelgedichte wie auch der beiden Gedichtfolgen insgesamt.
Im zweiten Teil dient die Buchstabenfolge APOLLINAIRE als Akrostichon für die 11 Gedichtzeilen (2 Strophen mit je 5 Versen, dazwischen eine separat stehende Zeile). Als Reimschema gilt hier durchgehend für alle 11 Gedichte ABCBA C BACAB, wobei wiederum drei gleichbleibende Lautqualitäten eingehalten werden (-ant / -at / -icht). Bei den 11 Gedichttiteln handelt es sich um exakte Anagrammbildungen aus dem Namen APOLLINAIRE; diese Anagramme können, wie Verse untereinander angeordnet, als ein selbständiges Gedicht gelesen werden.
Innerhalb der beiden Reimschemen lassen sich Verse mit gleicher Reim- beziehungsweise Lautqualität sowohl innerhalb der Einzelgedichte wie auch innerhalb der beiden Gedichtfolgen frei austauschen. Dadurch vervielfachen sich die Lesarten − aus den vorgegebenen 20 Gedichten können durch entsprechende Permutation Tausende weiterer Gedichte generiert werden.
All diese − realen wie auch virtuellen − Gedichte sind nicht nur durch gemeinsame formale Qualitäten (Metrum, Endreim, Strophik) miteinander verbunden, sondern auch, auf der Aussagebene, durch stetig wiederkehrende Namen und Motive aus dem dichterischen Werk von Lewis Carroll, Alfred Jarry und Guillaume Apollinaire sowie aus der Lebens- und Gedankenwelt der französischen Pataphysiker und Oulipoten. Die zahlreichen diesbezüglichen Anspielungen könnten nur in einem umfangreichen kritischen Apparat aufgearbeitet werden, was sich aber zumindest vorläufig erübrigt, da das Dichtwerk in erster Linie als Klangereignis konzipiert ist.
Das Modell für die vorliegende Textkomposition, bei der Übertragung und Originaldichtung in eins fallen, bietet ein französischer Privatdruck, den der britische Architekt, Designer und Dichter Stanley Chapman (1925-2009) unter dem Titel Onze mille verbes, cent virgules („Elf Tausend Wörter, ein Hundert Virgeln“) 1969 in Verviers (Belgien) vorgelegt hat; der Titel nimmt unmittelbar (durch Assonanz) Bezug auf Guillaume Apollinaire, der 1907 seine Onze mille verges, eine Sequenz pornographischer Gedichte, in anonymer Ausgabe publiziert hatte – „verges“ (Ruten, Schwänze, d.h. männliche Glieder) verballhornen hier das Wort „vierges“ (mit Bezug auf die biblischen 11.000 Jungfrauen), um schließlich bei Chapman als „verbes“ (Verben, Wörter) wiederzukehren.
Ob Chapman, der kaum Französisch sprach, das Dichtwerk selbst abgefasst oder nur einfach seinen Namen als Pseudonym für einen anderen Autor eingesetzt hat, ist ungeklärt. – Bei der vorliegenden Textfolge handelt es sich um die stark überarbeitete Neufassung eines bibliophilen Drucks (mit kritischem Apparat) von Felix Philipp Ingold, den der Verleger Klaus G. Renner (Zürich/Ottiglio) veranlasst und ermöglicht hat (2008). – Der Gesamttitel Apropollinaire stammt vom Nachdichter.

(Mai 2020)

 

GRUSS

Gesang so trocken wie Champagne

Rinnt aus dem Kehlchen als wär’s Zinn
Ubu der Riesenzwerg tut was er kann

Sein Fuß schwebt ungefähr auf Höhe Kinn
So macht er uns bald Angst ba-bald Ba-Bang

 

M

MELONE HIESS DER HUT VOR LANGER ZEIT
für Oskar Pastior

Grapscht er nach Wörtern Zahlen Ärschen mit der Hinterhand
Universalien sind eh sein Ding er weiß genau Bescheid
In Sachen Popularität hat’s Raymond Queneau weit gebracht

Luna Park überbevölkert wie ein Mutterland
Lektüre ist das was das Buch entzweit
A bis Z im klugen Alphabet via die Acht

Uvula klafft die Tröte schweigt wie abgebrannt
Manege melancholisch eingeschneit
Enzyklopädisch wird Verstorbener gedacht

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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