Gyula Illyés: Poesiealbum 180

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gyula Illyés: Poesiealbum 180

Illyes/Nuh-Poesiealbum 180

SCHWARZ-WEISS

Diese Art, die schwarz heute nennt,
was weiß gestern war, horrend
find ich sie, ja, um jeden Preis.

Hängt den Mantel nur nach dem Wind!

Wer mit dem schwarzen Haar mich noch kennt,
der sehe: heute ist es weiß.

Wer da sagt: Sonderbar −
wende sich ans Haar,

spalte dann den Spruch: ein Mann steht fürs Wort.

Oder klaube auf – ach, sie fliegen fort −
all die Ausweisblätter, die die Zeit zerfetzt,
wie die Namen auch, von der Fläche fegt;
schau nur, wie einen Baum bewegt

nur ein Jahr und jetzt.

Übertragen von Brigitte Struzyk

 

 

 

Gyula Illyés

Für jeden seiner Verse hat Gyula Illyés bezahlt – mit Münzen, deren Seiten von Phantasie und Erfahrung geprägt sind. Er hat sie eingesammelt in seiner ungarischen Heimat und im vielstimmigen Paris, hat sie sich verdient bei den Bauern der Pußta und den Dichtern des Montmartre. Der heute Achtzigjährige streut seinen Schatz mit beiden Händen aus: Weisheit, Temperament und Zuversicht geben seinen Gedichten einen Klang, in dem die Ursprünglichkeit von Volksweisen und die Welthaltigkeit moderner Bildsprache zusammenfinden.

Ankündigung in Kathrin Schmidt: Poesiealbum 179, Verlag Neues Leben, 1982

Ein Dichter

ganz nach meinem Herzen. Einer, der vor allem Mensch ist, der nicht wie ein Engel erscheinen will. Einer, der mit Werkzeugen vertraut ist – dem Wesen der Dinge. Der eine gute Flasche Wein ebenso genießt, wie eine Horazasche Ode. Einer, der gern schwimmt, umgräbt in der sonne, Holz hackt, Nägel einschlägt. Einer, der nicht nur körperlich, sondern auch geistig von athletischer Statur ist und tänzerischer Beweglichkeit. Der sich nicht scheut, sich und andere zu verspotten und nichts weniger ausstehen kann als die Launen, die Taktierer der Literatur – und Mägen, die nichts vertragen.

Jean Rousselet, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1982

 

Gyula Illyés – Gestalter der Gegensätze

I
„Wer sich in Europa nach ungarischer Literatur erkundigt, dem werden unter den ersten Werken jene von Gyula Illyés genannt“, so die Einleitung eines nahezu ganzseitigen Illyés-Interviews in der Neujahrsausgabe 1975 von MAGYAR SZO, einer in Jugoslawien erscheinenden ungarischen Tageszeitung.
Leider entspricht diese Behauptung nicht ganz der Realität. Für Jugoslawien mag sie zutreffen, wohl auch für andere europäische Länder. Wer sich aber im deutschsprachigen Raum, namentlich in der BRD, nach ungarischer Literatur umsieht, wird sehr bald feststellen, wie unzuverlässig derart verallgemeinernde Aussagen sind.
In Ungarn selbst genießt Illyés hohes Ansehen, seit bereits vier Jahrzehnten. Dreimal wurde er mit dem Kossuth-Preis ausgezeichnet, und in den Gymnasial-Lehrbüchern zur ungarischen Literaturgeschichte nimmt er mit über fünf Seiten einen ungewöhnlich breiten Raum ein.
Ein Ausdruck dafür, daß seine Bedeutung auch außerhalb Ungarns – und nicht nur im Osten – längst erkannt wurde, ist die Verleihung des Internationalen Grand Prix für Lyrik 1965 in Knokke.
Wie also ist es zu erklären, daß er in Deutschland noch relativ unbekannt geblieben ist und auch der Herder-Preis, der ihm 1970 zuerkannt wurde, nicht viel daran hat ändern können?

II
1902 als Nachfahre transdanubischer Hirten in der Puszta (= ungarisches Tiefland) geboren und in einer Puszta (= Kleinsiedlung) aufgewachsen, hatte Illyés schon als Kind erfahren, was es heißt, von der Gnade eines Grundbesitzers abhängig zu sein. Daß er, gerade 17 Jahre alt, Rotgardist wurde, ist nur die logische Folge dieser Erfahrungen.
Wenig später hält er sich als politischer Flüchtling in Paris auf, wo er die linksorientierten Surrealisten Aragon und Eluard kennenlernt. Er studiert an der Sorbonne – seinen Lebensunterhalt verdient er als Buchbinder –, hält Vorträge, schließt sich einer Theatergruppe an, erteilt Sprachunterricht, übersetzt französische Gedichte und veröffentlicht eigene Arbeiten. Aber auch diese an Aktivität reiche Pariser Zeit ist keine glückliche für ihn; sein autobiographischer Roman HUNNEN IN PARIS beweist es.
Autobiographisch ist ferner sein episches Hauptwerk, der Roman PUSZTAVOLK, der 1936 erscheint und seinen Ruhm in Ungarn begründet. Hier zeichnet er, wissenschaftlich exakt in den Tatsachen und künstlerisch unanfechtbar in der sprachlichen Gestalt, ein Bild vom Leben der ungarischen Kleinbauern und Landarbeiter. Fortan gilt er als prominentester Vertreter dieser dichterischen Gattung.
Sein Engagement für die revolutionäre Jugend, sein Eintreten für die Bodenreform und seine Zugehörigkeit zur antifaschistischen Märzfront, zu deren Führern er bald gerechnet wurde, weisen ihn endgültig als den linksgerichtet fortschrittlichen Patrioten aus, der er bis heute geblieben ist.
Die kämpferisch-optimistische Grundtendenz freilich ging mit dem Zerfall der Märzfront verloren. Als Horthy Ungarn dem Nationalsozialismus auslieferte, resignierte Illyés. Nach 1945 fand er zwar noch einmal optimistische Töne, besang die Kraft der Arbeit und beschwor die Gemeinschaft der Menschen, aber der zweifelnde Grundton blieb bestimmend und kennzeichnet auch heute seine Arbeit.
Den genannten Romanen folgten weitere, die autobiographische Novelle MITTAGESSEN IM SCHLOSS kam hinzu, zahlreiche Reiseberichte sind zu erwähnen – und eine lange Reihe dramatischer Werke, die zum Teil große Beachtung fanden. Seit dem historischen Drama DOZSA GYÖRGY (Thema: ungarischer Bauernkrieg von 1514; Uraufführung: 20.1.1956 in Budapest) gehört Illyés zu den bedeutenden Dramatikern seines Landes. Interessant ist, daß er denselben Stoff 1972 noch einmal bearbeitete und unter dem Titel TESTVÉREK (deutsch: BRÜDER) auf die Bühne brachte. Während in DOZSA GYÖRGY die historischen Ereignisse selbst in monumentalen Szenen vor dem Zuschauer ablaufen, handelt es sich bei dem Vierpersonenstück TESTVÉREK um eine Psycho-Tragödie, in der ein Streitgespräch der ungleichen Brüder György und Gergely die Handlung ersetzt.
Auch als Biograph war Illyés tätig. Seine Arbeit über Petöfi, schon vor dem Krieg erschienen, kann ohne Übertreibung als die bedeutendste innerhalb der Petöfi-Sekundärliteratur bezeichnet werden.

III
Von allen Werken, die bisher genannt sind, wurde nur ein Roman ins Deutsche übersetzt: PUSZTAVOLK. Das ist bedauerlich, beantwortet aber die eingangs gestellte Frage nur zur Hälfte.
Trotz seines umfangreichen epischen Werkes und seiner zahlreichen Dramen ist Illyés in erster Linie Lyriker. Folglich müßten, um ihn hierzulande bekanntzumachen, zunächst seine Gedichte ins Deutsche übertragen werden.
Über die Schwierigkeiten bei Übertragungen lyrischer Texte in andere Sprachen ist oft genug gesprochen worden; bei Illyés, dem Meister der Antinomie, kommt hinzu, daß seine Gedichte selbst in Ungarn als überaus schwierig und rätselhaft gelten.
Wer des Ungarischen mächtig ist, weiß, daß diese Sprache wie kaum eine andere Möglichkeiten für die Anwendung des Doppelsinns bereithält, nicht nur im einzelnen Wort, ebenso im ganzen Satz. Die sprachliche Bandbreite der Möglichkeiten, die sich hieraus für den Lyriker ergibt, nützt Illyés konsequent. Der Übersetzer jedoch kann sich nur für eine der Deutungsmöglichkeiten entscheiden nur selten gestattet ihn die eigene Sprache die voll ausgespielte Doppeldeutigkeit des Originals –, und schon ist das Rätselhafte, ein Markenzeichen für Illyés, verloren. Daß abgesehen davon auch Satzbau, Rhythmus und Klang nur andeutungsweise wiedergegeben werden können, erklärt sich aus der ungarischen Sprache von selbst: sie gehört nicht der indoeuropäischen Sprachfamilie an.
So bleibt als Fazit: Nicht jedes Gedicht aus dem Ungarischen kann ins Deutsche übertragen werden – schon gar nicht jedes Illyés-Gedicht. An dieser Einsicht ist festzuhalten, auch wenn dadurch besonders für Illyés typische Gedichte nicht vorgestellt werden können.

IV
Ein ungarischer Arzt, nach seiner Meinung über den Dichter Illyés befragt, antwortete knapp: „Ö nem költö, bölcselö!“ („Er ist kein Dichter, er ist Philosoph!“). Im Verlauf des Gesprächs räumte er zwar ein, daß Illyés  a u c h  Dichter sei; in erster Linie aber sei er Philosoph: „Philosophische Gedanken in dichterischem Gewand“, meinte er schließlich.
Die Entgegnung, die hier möglich gewesen wäre, kennen wir alle. Er kannte sie auch; deshalb war sie nicht nötig.
Aber die Aussage dieses Arztes ist mehr als ein Allgemeinplatz. Illyés ist auf seine Art und in einer anderen Weise Philosoph, als wir es von vergleichbaren Dichtern gewohnt sind; er ist es in einer zugleich selbstverständlichen und herausfordernden Weise. Nur ein Philosoph kann die scheinbar unvereinbaren Gegensätze des Lebens in sinnvolle Beziehung setzen, wie Illyés es tut; nur wer zum Philosophieren bereit ist, kommt als Adressat seiner Lyrik in Frage.
Zur Vereinigung von Gegensätzen bedarf es einer Mitte. Diese Mitte ist bei Illyés in der Regel der Mensch, genauer das typisch Menschliche. Sein Bemühen, Gegensätze zu gestalten und ihre Beziehungen verständlich zu machen, bringt er häufig auch optisch zum Ausdruck, indem er seine Verse symmetrisch anordnet. So auch bei dem Gedicht „Flieger“, nur daß hier natürlich vorrangig die Darstellung eines Flugzeuges intendiert ist.
Das optische Element wird bei Illyés überhaupt häufig und in vielfältiger Weise als Mittel der Verdeutlichung eingesetzt. Ist es im „Abendlied“ die räumliche „Heraus“-Stellung der Zwischengedanken und – in der Erinnerung an die Signale der „Vögel“ – die Verwendung eines anderen Schriftbildes, so treten in dem Gedicht „Neujahrsfenster“ die erdrückende Masse von Schnee durch die 50fache Wiederholung des Wortes „hó“ (= Schnee) und das überaus große Ausmaß an Leid durch die fast 100fache Wiederholung der Klage „oh“ mehr als deutlich in Erscheinung.
„Gestalter der Gegensätze“ und „Meister der Antinomie“ ist Illyés genannt worden. Das kann nicht hingehen ohne weitere Belege, wenn auch „Flieger“ und „Stürzende Segel“ schon als solche gelten können.
In dem Gedicht „Elementare Kraft“, in dem die Wut der Hölle aus den vereinigten Wassern von 70 Quellen zum Himmel schreit, heißt es zuletzt:

Der Nachfolger verrückter Götter kann
nach Herzenslust zerstören und erschaffen

weil er dereinst um Frieden rasselnd
ein passendes See-Bett gefunden und

weil Menschen um ihn wohnen.

Eine „Römische Ruine“ besingt Illyés, indem er die Schönheit beschwört, die nicht gealtert – in den zerbrochenen Säulen lebt. Eine „unzertretbare Kraft“ nennt er diese Schönheit, läßt sie aber, in einer eleganten Schlußwendung, „mit jeder Minute auf Leben und Tod“ kämpfen.
Ein „beleidigtes Kind“ – um ein letztes Beispiel anzuführen – läßt er das Objekt seiner Klage, den Erwachsenen, nur stumm „durch das Brennglas seiner Träne“ anschauen. Mit gesteigertem Schmerz wächst aber auch der ertappte Urheber, bis er dem Kind als allmächtig erscheint, so daß aus Anklage schließlich Anbetung wird.

V
Neben seinen typischen, oft als rätselhaft empfundenen Gedichten hat Illyés eine Reihe zarter Liebesgedichte und bisweilen kindlich-naiv anmutender Naturbeschreibungen verfaßt; durch schlichtere Sprache, Allgemeinverständlichkeit und oft besonders eingängige Reime unterscheiden sie sich von den ersteren.
Auch sein kleines Gedicht „Visitenkarte“ zeichnet sich durch diese Attribute aus. Es steht zugleich als weiteres Beispiel für früher Gesagtes (Form; Gegensätze; Pessimismus) und ruft überdies schlaglichtartig noch einmal Illyés Lebensverlauf ins Gedächtnis:

VISITENKARTE

Das I, ein frischer Amselpfiff,
schließt meinen Namen auf;
es singt von Lenz und Knospenduft,
von gutem Lebenslauf.

Hoch fliegen die zwei l – voran! –
wie kühne Himmelsritter.
Drauf zischt das s und kündet mir
ein düsteres Gewitter.

Die beiden Trommeln u und a
am Namensende dröhnen
von Trauer und von Einsamkeit –
wie in der Nacht ein Stöhnen.

August Kirchfeld, die horen, Heft 105, 1. Quartal 1977

 

WURZELN SIND FÄUSTE
Nach Gyula Illyés

Jede Wurzel gleicht
Am Ende
Der zur Faust geballten Hand.

Solange nicht das Leben aus ihr weicht,
Ist der Baum der Kämpfende:
Er kämpft mit seiner Wurzel-Faust um den Bestand.

Und
Dem Wind, der flucht und schnarrt,
Entgegnet er fausthart
In seinem Unter-Grund.

Bernd Jentzsch

 

 

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Zum 70. Geburtstag des Autors:

J. Matusz-Schubiger: Gyula Illyés zum 70. Geburtstag
Die Tat, 25.5.1974

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Kalliope

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