Johannes Ciesciutti: Robinsonade

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Johannes Ciesciutti: Robinsonade

Ciesciutti-Robinsonade

AN DIE KRITIKER

Freilich, euch, die ihr bei den Brunnen verweilt
und mit geübter Hand die vollen Eimer
auf- und niedergehen heißet,
euch sind die Gärten bereitet.

Aber er, der verworfen herbeikommt,
dem nur die Hände dienen, einzig die Hände,
der steigt hinab, hinab in die Rundgruft,
mühsam das Köstliche bergend.

Und ihr rühmt, rühmt die wechselnden Eimer,
einzig das runde Gefäß, mit Klingklang getrieben.
Doch den qualvoll lallenden Bruder
nennt ihr den Fälscher der Gärten.

Auf und nieder steigen die glänzenden Eimer,
fein gespielt und euch noch zum tändelnden Ruhme.
Aber am Schrei der Welt, am Aufschrei
bauen die mühsamen Hände.

 

 

 

Einleitung

Von der Aussichtsbastei der Hollenburg blickt man gegen Südosten auf Ferlach, die Karawanken und die Drau. In dieser Landschaft, genauer gesagt in Reßnig bei Ferlach, wurde am 7. Dezember 1906 Hans Ciesciutti geboren. Während es zu dieser Zeit Kindern aus der sogenannten „besseren Gesellschaft“ vergönnt war, ihre Entwicklung auf einer sorgsam behüteten Jugendzeit und einem geregelten Bildungsweg aufzubauen, zählten die Ciesciuttis zu jener Gesellschaftsschicht, die nur mühsam und unter großen Anstrengungen ihren Familienunterhalt bestreiten konnte.
Der Vater war Hafnergeselle, die Mutter Dienstmädchen, und die Ehe der beiden stellte die jungen Leute vor nahezu unlösbare materielle Probleme. Möglicherweise war einer der Vorfahren Ciesciuttis im 18. oder beginnenden 19. Jahrhundert wie viele andere auf der Suche nach Arbeit aus dem Friulanischen nach Norden gereist und dann im Rosental hängengeblieben. Der Dichter sagt über seine Eltern, daß sein Vater der Zögernde, der Nachdenkliche, der Bodenständige, auch der Träumende gewesen ist. Die Mutter dagegen war Realistin und äußerst tatkräftig. Beide ergänzten einander hervorragend und gewannen schon in jungen Jahren eine weit über das damals übliche Maß hinausgehende Weltsicht. Die unbefriedigende wirtschaftliche Situation bildete den Anlaß, die Heimat zu verlassen und im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ das Glück zu suchen.
Im Jahre 1912, Hans Ciesciutti war gerade sechs Jahre alt geworden, entschlossen sich die Eltern, Kärnten zu verlassen und sich mit Hilfe von Verwandten in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Existenz zu schaffen. Allerdings ließen sie die Kinder vorerst noch hier, während sie in der Neuen Welt ihr künftiges Zuhause vorbereiteten. 1914 durften die Söhne dann nachkommen. Sie reisten mit einer Begleitperson per Schiff von Triest nach Halifax. Die Überfahrt und die in den USA herrschenden Verhältnisse wurden im Leben der jungen Menschen einerseits zum nachhaltigen Erlebnis. Andererseits entfremdete die Umstellung den in sich gekehrten und nachdenklichen Hans ungemein, denn in einem Aphorismus schrieb er Jahrzehnte später:

Ich mußte einen Ozean überqueren,
um zu erfahren,
wie das Fremde dich zum Fremden macht.
Zurückgekehrt, wurde ich ein Fremder
in der Heimat,
ich hatte den Anruch des Ausländers an mir.
Mit jedem Schritt, den man macht,
mit jedem Buch, das man liest,
mit jedem Wort, das man spricht,
wird man fremder.

Manches aus der Jugendzeit in den USA greift hinüber in das Werk des Arbeiterdichters. Ist es vorerst die Heimat-, später die Berufslosigkeit, so kommen im Laufe des Lebens andere gewichtige Momente wie das dunkle Schwelgen in Stimmungsmischungen, die Neigung zu Selbstgesprächen und das „Nach-innen-Schauen“ hinzu, die Ciesciutti einem romantischen Typus verwandt erscheinen lassen. Die Mischung verschiedenen Blutes, die im Süden Österreichs besonders häufig feststellbar ist, macht ihn von vornherein zwiespältig, aber um so feinnerviger und feinfühliger für Reize und Farben, für Töne und Stimmungen.
Drüben, im fremden Land, in der Großstadt Chikago mit ihrem rasenden Industrialisierungstempo, muß den Vater Ciesciuttis bald das Heimweh gepackt haben. Er war es dann auch, der seinen Kindern immer wieder von den Karawanken und von der Drau, vom „Harloutz“ und von der Hollenburg, von den Schneerosen im anbrechenden Frühjahr und von den kristallklaren Tagen im Herbst erzählte, die Kindheitserinnerungen auffrischte und die Sehnsucht nach Kärnten wachhielt. Diese Erzählungen und Empfindungen wurden für den Dichter zu geistigen Quellen, aus denen er später immer wieder schöpfte, obwohl er oft genug betont, Kosmopolit zu sein und stets ein wenig unter der losen Bindung zu seinem Heimatland gelitten zu haben. Im Gedicht „Hollenburg“ kann er seine wahre Einstellung kaum verschweigen, wenn er schreibt:

Aber nirgends ging mir der Laut
der selbstgeschnittenen Flöte
so tief und so nah wie hier,
wo die Drau und die uralte Burg
den Abend mit Sagen verplaudern.

Künftighin hat er, der in den Vereinigten Staaten im Zusammensein mit Iren, Slowenen, Russen, Finnen, Franzosen und anderen Volksangehörigen Internationalität im Kindheitsalter erlernte, wenig Verständnis für Chauvinismus oder übertrieben ausgedrückten Nationalismus, wie er in der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa vielfach politisch dominant wurde.
Man muß sich das vorstellen: Die aus Kärnten stammenden Buben mit ihrer alpenländischen Kleidung, mit Hahnenfedern auf ihren Hüten, wurden von den anderen Jugendlichen, auch von den Erwachsenen in Chikago wie Exoten bestaunt und mit Befremden aufgenommen. Herausgerissen aus dem friedlichen Rosental, schliefen sie nun in einer Mietskaserne mitten in einer vollindustrialisierten Großstadt, an der Tag und Nacht die bereits elektrifizierte Hochbahn vorbeidonnerte. Sie konnten vorerst nachts kaum schlafen, aber Kinder gewöhnen sich schnell um. Unter der Bahntrasse hatten kinderliebende Erwachsene einen Spielplatz eingerichtet, auf dem der Nachwuchs aus „aller Herren Länder“ zusammenkam, der sich in dem Viertel aus ähnlichen Voraussetzungen angesiedelt hatte.
Einzelne prägend empfundene Erlebnisse erlangten für Ciesciutti schicksalhafte Bedeutung. Bis auf die Zeit im Jesuitenkolleg in Chikago erhielt der Literat in seinem späteren Leben keine Chance, jemals einen weiterführenden Bildungsweg zu beschreiten. Alles Wissen erreichte er autodidaktisch und mit Hilfe der Literatur. Nie war es ihm möglich, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten, Erfahrungen auszutauschen, Hinweise zu bekommen oder auf diese Weise früher das Schreiben zu erlernen. Freilich war der Arbeiterdichter sowohl bei der Auswahl seiner Bücher als auch bei der seiner Freunde überaus vorsichtig.
Ciesciutti ist ein literarischer Spätstarter, und sein Alleinsein wurde für das Leben und Schaffen bestimmend. „Wenn die Gedanken kommen, muß man allein sein, um sie zu Ende zu denken“, sagt er heute und hat sein isoliertes menschliches Schicksal tatsächlich nie als Fluch, sondern immer als Segen empfunden. Bei jedem Herausreißen durch andere litt er Höllenqualen, wurde ungehalten und geriet dann in einen Gewissenskonflikt, ob er sein Gegenüber nicht gekränkt hatte. Dies bezieht sich vor allem auf seine Mutter und seinen Bruder, später auf seine Frau und seinen Sohn. Auch während der Arbeit auf der Straße und auf dem Bau wußte er sich derart abzusondern, daß ihn die Gedanken einholten. Oftmals lehnte der „Baraber“ die angetragene Arbeitshilfe ab, schwang den Pickel doppelt so schnell und – war allein.
Die Umwelt in seinem Betrieb, in den Gemeinden Köttmannsdorf und Maria Rain verlieh dem sonderbaren Denker einen halb spöttisch, halb bösartig gemeinten Spitznamen. Sie nannte ihn „Herr Gedicht“ und präzisierte damit Ciesciuttis Alleinsein, für das die einfachen Menschen kein Verständnis aufbringen konnten. So entstanden die lyrischen Anfänge, die ersten Verse unter dem Einfluß von schweren Schlägen, die ihm das Leben zugedacht hatte.
Als junger Bursche verliebte sich Ciesciutti in eine Verkäuferin, die seine Zuneigung allerdings nur so lange erwiderte, bis sie erkannte, daß der hübsche, gebildete Bursche „nur“ Bauarbeiter war. Zu dieser Zeit las er Hölderlin und stieß auf Themen wie „Diotima“ oder den „Eispalast der Turandot“. Das baute er in Verse um, dachte dabei voll Wehmut an Diotima, lachte dazwischen grimmig auf und dichtete seinen inneren Aufschrei. Es entstanden Gedichte, die selten jemand beachtete, weil niemand erkennen konnte, was mit ihnen verarbeitet wurde. Vielleicht nahm man in den zwanziger Jahren an, hier schreibt einer längst veraltete Verse aus dem 19. Jahrhundert um, hoffnungslos romantisch und durchaus nicht der zum Untergang verurteilten Sachlichkeit des kaum genesenen Bürgertums verhaftet, veraltet also und unbrauchbar in der umgestürzten, von alten Werten entledigten Gesellschaft.
Gemessen am Wissensstand und an Bildung war Ciesciutti seinen ländlichen Mitmenschen um Klassen voraus. Dennoch spürten diese zwar wohl die intellektuelle Einsamkeit, aber auch die Schutzlosigkeit des Denkers und verspotteten ihn deshalb. Ebenso ließ ihn die eigene Bescheidenheit auf der Suche nach einem Beruf nie über die Hilfsarbeit und die schwere manuelle Tätigkeit hinausgelangen. Sein berufliches Wunschbild entsprach dem eines Bibliothekars. Immerhin hatte er bereits als Knabe in Chikago zum Benutzerkreis der großen städtischen Bibliothek gehört, aus der er mit Vorliebe philosophische und schwer lesbare Bücher holte.
Zu Beginn der zwanziger Jahre, als die Familie nach Kärnten zurückgekehrt war, arbeitete der Dichter auf der Weizelsdorfer Säge als Hilfsarbeiter. Zu lesen gab es nichts, – kein Buch, keine Zeitschrift; Kalenderblätter bettelte Ciesciutti bei den Bauern, um auf diese Weise etwas anspruchsvollere Texte zu erwerben. Mehrere Monate, ja Jahre ging das so, bis in Klagenfurt die neuerrichtete Arbeiterkammer eine Bibliothek eröffnete. Das war im Jahre 1924. Die Bücherei war aus ehemaligen Gewerkschafts-Handbüchereien zusammengestellt worden, und wenig mehr als 2.000 Bände standen anfangs zur Verfügung. Aber für den angehenden Worteschmied eröffneten sie eine neue Welt. Jede Woche pilgerte der „Baraber“ die 20 Kilometer zu Fuß von Weizelsdorf nach Klagenfurt und dann wieder zehn Kilometer zurück nach Aich bei Köttmannsdorf und zählte damit zu den regelmäßigsten Besuchern, welche die AK-Bücherei jemals registrierte. Er ist auch heute noch wöchentlicher Gast dieser längst den Kinderschuhen entwachsenen Bildungseinrichtung.

Die Etikette ,Hilfsarbeiter‘ ist ein Steckbrief
für den Fall, daß ein Exemplar dieser Gattung
aus der hohen Einzäunung ausbricht
und in den Gefilden der Literatur Amok läuft
,

heißt es in einem bezeichnenden Aphorismus Ciesciuttis, der beschreibt, wie schwer für den autodidakt Arbeitenden dichterische Anerkennung zu gewinnen war. Das Rüstzeug für die Formulierfähigkeit holte er sich in der Arbeiterkammerbücherei, von der er heute noch sagt, daß viel zu wenig bekannt sei, was diese alles für die Menschen leistet.

Die Passion
Die richtige Würdigung eines geistig hervorragenden Menschen kann nur aus der zeitgemäßen Betrachtung seiner Lebensumstände heraus erfolgen. Daß Ciesciutti zwar lebenslang seinem beruflichen Wunschbild nachtrauerte, ändert nichts an der Passion, der er sich zu unterwerfen hatte. Das Hilfsarbeitertum wurde zum fortwährend wirksamen Steckbrief. Jeder durfte ihn demütigen und ihm Steine hinterherwerfen. Auf diese Weise betrachtete er das Leben von der realistischen Seite und zeichnete keine Wunschbilder. Die schlechten Erfahrungen brannten tiefe Narben in die Seele, und viele von ihnen fanden über die Lyrik den Weg in die Öffentlichkeit. Der Dichter mußte die schwierigste körperliche Tätigkeit verspüren und hündische Schläge ertragen, damit ihn die Gedanken aufsuchten, jene schönen Bilder, die er dann doch nicht aufschreiben konnte, weil gerade keine Pause erlaubt war, weil der Bleistift fehlte oder weil der Vorarbeiter seine „Baraber“ mit den Worten „Gemma, gemma“ brutal antrieb.
Auf diese Weise ging viel Wertvolles in Ciesciuttis Leben verloren, aber der Ablauf – zugegeben ein Teufelskreis – war nicht zu ändern. Barabern und Dichten fielen zusammen, erzeugten eine spannungsgeladene Wechselwirkung, verflochten Ciesciuttis Gedanken zu der ihm beschiedenen hochsprachlichen Lyrik, die metrisch ausgereift, dem Sprachliebhaber oftmaligen Lesegenuß bereitet, wenn sich dieser dem Eindruck der so vermittelten Stimmungen und Metaphern hingibt. Düsterkeit und Vergänglichkeit überschatten viele Gedichte, und schmerzhafte Trauer über die ewige Unvollkommenheit der Menschen mit ihrer Unduldsamkeit, ihrer Selbstherrlichkeit und Heuchelei kommt zum Ausdruck. Ciesciutti versetzt seine Gefühle und seine Sehnsüchte oftmals in die antike Mythologie, die ihn als Lesestoff immer wieder begleitete. Für den Unkundigen sind deshalb besonders im lyrischen Schaffen des Poeten zahlreiche Passagen schwer zugänglich und können aus diesem Grund nicht ohne das Verständnis mythologischer und philosophischer Begriffe gelesen werden.
Doch zurück zum Leben des „Barabers“. Im Jahre 1935 heiratet er die geborene Maria Rainerin Theresia Wigotschnig, und nach einem Jahr Ehe haben die jungen Leute für ihren Sohn Erich zu sorgen. Zu dieser Zeit, als in Österreich rund 600.000 Arbeitslose gemeldet sind, trifft das Beschäftigungsproblem auch die Ciesciuttis voll. Es vergehen trotz der staatlichen Bauprogramme oft Monate, bis der Familienvater eine schlecht bezahlte Hilfsarbeit zugewiesen bekommt; im Sommer überhaupt nur fallweise auf einem Hochbau und im Winter bei der Draubauleitung, die im Rosental Flußregulierungsarbeiten vergibt. Das Bild ändert sich 1938 schlagartig, als Österreich dem nationalsozialistischen Deutschen Reich angegliedert wird. Schmerzlich empfindet Ciesciutti die Auflösung der Gewerkschaften und der Arbeiterkammer und den dürftigen Ersatz durch die Deutsche Arbeits-Front. Politisch denken war ab nun nur noch erlaubt, wenn eine nonkonforme Meinung nicht geäußert bzw. niedergeschrieben wurde. Der Dichter erkannte dies sehr rasch, denn eine von ihm geäußerte Kritik an der Organisation seines Arbeitsbereiches hatte postwendend die Drohung „Dachau ist nicht weit!“ zur Folge.
Keine österreichische Familie kann sich in diesen Jahren den verhängnisvollen Ereignissen entziehen. Diese bedeuten für den Arbeiterdichter im Jahre 1940 die Einberufung zur Deutschen Wehrmacht und die Kriegsdienstleistungen an mehreren Fronten des Zweiten Weltkrieges. Bis sich sein Leben wieder einigermaßen normalisiert, vergehen fünf Jahre, die ihm viele Illusionen rauben, eine lebensgefährliche Verwundung eintragen, die Gefangenschaft bescheren, ihn aber auch mit jenen Menschen in Kontakt bringen, die dem dichterischen Amateur den Schritt zum exakt arbeitenden Skribenten ermöglichen.
Die Erzählung „In der Schule des Lebens“ zeichnet der Nachkriegsgeneration und deren Kindern ein reales Bild des österreichischen Soldaten, der zwangsläufig dem Treiben der Nationalsozialisten ausgesetzt war und mit dem Einsatz seines Lebens für die politischen Fehler einer ganzen Gesellschaft büßte. Auch ein zwölfjähriger Schüler versteht diese Geschichte, die die Wut, die Verzweiflung und die Erkenntnis von der Sinnlosigkeit des Krieges beim betroffenen Individuum zum Ausdruck bringen.
Der Zweite Weltkrieg wurde für die ganze österreichische Bevölkerung der Jahre 1938 bis 1945 zum Schlüsselerlebnis. Doch während die gleiche Bevölkerung 40 Jahre Schweigen als Mantel über die Ereignisse breitete, hat Ciesciutti in Erzählungen und Gedichten das Geschehen so verarbeitet, wie er und viele andere es verspürten. Ihm blieb es vorbehalten, den Erinnerungen auch eine sprachliche Form zu geben.

Glaube und Tod
Naturgemäß verliert der Tod für den, der sich dem überindividuellen Leben derart verbunden fühlt wie unser Literat seinen Schrecken. Mit dem Gefühl, Bleibendes zu schaffen, ist durchaus das Bewußtsein verbunden, daß neues Leben um den Preis des Todes erkauft werden kann, daß der Tod Werden und Vollendung und nicht Aufhören und Ende bedeutet.
Für den christlich empfindenden Arbeiterdichter besteht dennoch ein starker Widerspruch zwischen gelebter Ungerechtigkeit und empfundener Religiosität. Um das Los seiner Klasse zu mildern, schrieb er offensichtlich sehr früh den Vers „Einladung Christi“ und gab mit dem Gedicht den Verwaltern des Christentums auf Erden Hinweise, auf wessen Seite sie zu stehen hätten:

Komm zu uns in die Hütten,
meid die Paläste.
Wir halten dich warm
und teilen mit dir unser Brot.

Wir werden dir lauschen,
denn wir teilen dein Los
und senken die Häupter
vor deinem Wort.

Wir, die Getäuschten,
werden kaum glauben,
aber wir werden teilen mit dir unser Brot,
und in unserer Mitte
hast du es warm.

Der Glaube an den überirdischen Einfluß auf das Leben schlechthin, somit auch die Gewißheit, daß nach dem Tod der Fortbestand des Individuums in Form geschaffener Werte möglich ist, findet bei Ciesciutti oftmals sehr einfache, ja naive Sprachformen. Im Krieg sieht er, wie dieser Gott, an den er zu glauben gelernt hat, nicht verhindern kann, daß seine unmittelbaren Kameraden und darüber hinaus Millionen Menschen zu Krüppeln werden und gewaltsam sterben müssen. Im Betrieb erlebt er die zur Schau getragene Ungerechtigkeit der Besitzenden über Besitzlose und die Verspottung der letzteren, die in Unterdrückung und Ausbeutung gipfelt. Auch hier greift Gott nicht ein. Am nachhaltigsten verspürt er Gottes Enthaltsamkeit aber dort, wo der Untergang des ganzen Spezies Mensch droht: im Konflikt der denkbegabten Zweibeiner mit der Natur.
Dieser Relativierung allen Lebens- und Gegenwartsgefühls entspricht ein Verlangen nach dauernden Werten. Soll sich der Dichter nicht gänzlich in der ihn umgebenden Ignoranz und Unvollkommenheit verlieren, muß eine Gegenlast das Gleichgewicht halten, und um diesen Halt geht es in Ciesciuttis Ringen um Gott, zu dem er übrigens ein durchaus ambivalentes Verhältnis unterhält, das mitunter in Feindseligkeit zu den institutionalisierten Verwaltern und Denkern der katholischen Kirche umschlägt.
Aber nicht nur in der uferlosen Breite des Daseins, nicht nur in der Gesamtheit der Dinge, die er durchaus als Partner, als Freunde, ja als Brüder behandelt, nicht nur als transzendente Kraft kommt ihm Gott entgegen. Dieser offenbart sich Ciesciutti vielfach auch in gelebten Tagträumen, die seine Geschichten ungemein befruchten. In immer neuen, vielfach der Mystik eigentümlichen Bildern Widersprechliches aneinanderreihend, sucht er das Wesen dieses Gottes, der ihn umgebenden Natur und das Charakteristische an Gottes Geschöpfen zu erfassen, versucht das Wechselverhältnis, dem Menschen und Schöpfung ausgesetzt sind, zu erklären und kann trotz allem Wissenserwerb nie eine schlüssige Antwort auf die wesentlichsten Daseinsfragen geben. Ciesciutti hat sich viele Male gefragt, warum Hitler eine derart starke Faszination auf die Massen ausübte und er hat sich ebenso gefragt, warum auf der anderen Seite nur so wenig dafür maßgebend ist, daß dieselben Massen in Kritiklosigkeit, Obrigkeitsgehorsam, Ergebenheit und schließlich in Versklavung versinken, wenn ihnen dies abverlangt wird. Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auch auf die Kärntner Seele wurde zum alles beherrschenden Rätsel der Nachkriegsjahre, und da dieses das Glaubenkönnen umschließt, beschäftigte es den Dichter immer wieder.
Draußen in der Natur, wo man „mit den Bäumen sprechen“ konnte, entstand ein Beobachtungsfeld, das von keiner menschlichen Lüge, von Ehrgeiz oder Gewinnsucht beeinträchtigt wurde. „Wahnita – ein göttliches Spiel“ erklärt – als Fabel erzählt – komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge, denen sich die Kriegsgeneration ausgesetzt sah und denen sie sich auch zu unterwerfen hatte. Offensichtlich scheute sich der Poet nicht, selbst mehrere Stunden über einem Ameisenhaufen zu stehen und die Erzählung zu Ende zu denken.

Not und Tugend
Bereits seit seiner frühesten Jugend machte Ciesciutti mit der Not Bekanntschaft. Sicher keine lebensbedrohende, existenzielle Not, wie sie noch die Kärntner Dienstboten und Arbeiter des 19. Jahrhunderts gekannt haben, aber doch Armut, die das Kind, den jungen Arbeiter, den Soldaten, den Ehemann und Familienvater, den „Baraber“ schließlich die grenzenlose Ohnmacht immerwährender materieller und gesellschaftlicher Benachteiligung fühlen ließen.

Wir sind wie die dunkle Rasse,
mit Distanz geht man an uns vorbei.
Wir sind abgestempelt, vierte Klasse,
Mensch von unten her und Schrei.

Einmal, Gott, und sei’s im Traume,
laß uns mitbeteilter Bruder sein.
Einmal nur in diesem Erdenraume
laß uns in die Gärten ein
,

heißt es im „Straßenarbeiter“, einem Gedicht, das Ciesciutti im Jahre 1976 veröffentlichte. An keiner anderen Stelle seines Schaffens beschrieb er so eindringlich die erlebte Not, die von der begüterten Umwelt als Mangel angesehen wurde. Die Betroffenen, denen er sich zugehörig fühlte – die Bauarbeiter – pochten allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus auf den Stellenwert ihrer gesellschaftlichen Leistung und gestalteten aus der Not eine Tugend, die in gewerkschaftlicher Solidarität, in volkswirtschaftlich motivierten Demonstrationen, im Willen, Arbeitsverhältnisse und Einkommen zu verbessern, ihren Ausdruck fanden. Wenn die Bauarbeiter marschierten, gab es für Ciesciutti kein Abseitsstehen. Er marschierte an der Seite seiner Kollegen und seines Betriebsrates ebenso selbstverständlich mit wie er täglich die schwere manuelle Tätigkeit und die soziale Abseitsstellung in vielen Lebensbereichen mit den „Barabern“ teilte.
So nennt der Arbeiterdichter auch genügend Beispiele für das Außenseitertum der Bauarbeiter, denen er wie sich selbst Not zuschreibt. Eines erzählt davon, daß die ganze Partie während einer Mittagspause in einem Gastgarten Platz nahm. Nebenan saß halb abgewendet eine Dame mit einem großen Hut. Als die Arbeiter im schattigen Garten gerade ihr Mittagessen verzehren wollten, kam die Kellnerin und bat sie, an einen Tisch vor dem Gasthauseingang zu Übersiedeln. Die „feine Dame“ hatte sich über den üblen Geruch und die Ausdünstung beschwert. Nur mit Mühe gelang es dem Partieführer, seine Leute vor Tätlichkeiten zurückzuhalten.
Ein anderer Fall, den uns der Arbeiterdichter überliefert, erzählt von der Straßenarbeit in einem Wörther-See-Kurort. Wieder während der Mittagszeit mußten die „Baraber“ erleben, daß sie als Gäste nur Menschen zweiter Klasse waren. Die Kellnerinnen flitzten hin und her, aber keine kam zu ihrem Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Es verging eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, und sie saßen noch immer ohne Suppe am Tisch. Nach 40 Minuten begriffen sie dann, daß sie „unerwünschte Nigger“ waren. Selbst der Zugang zum Trinkwasser wurde ihnen versperrt, und als sie nach Saisonbeginn im Mai ihr Quartier in einer ohnehin drittklassigen Villa belegt hatten, teilte ihnen die Hausfrau mit:

Ihr müßt ausziehn, jetzt kommen Leut einer!

Ciesciutti leitete aus diesem langjährig beobachteten unwürdigen Verhalten sein „Niggertum“ ab, sprach von den Bauarbeitern als der „dunklen Rasse“ und von sich als dem „weißen Marumba“. Sie waren gut genug, die Straßen im aufstrebenden Fremdenverkehrsland Kärnten zu bauen, die Kurorte zu erschließen und erst befahrbar zu machen, doch wenn die Saison anbrach und die Fremden im Land logierten, schämte man sich der Arbeiter und versuchte sie zu verstecken, wie man einen körperlichen Mangel oder ein behindertes Kind vor der Umwelt geheimhält.
Not verspürte der Poet wohl auch, als er sich bemühte, zur Drucklegung seines Schaffens einen Verlag zu finden. Das war sehr spät, denn erst im Alter von 59 Jahren erschien Ciesciuttis Gedichtband Die Folterung der Nachtigall im Klagenfurter Carinthia Verlag. Wer die Bescheidenheit des Literaten, seine Zurückhaltung vor Institutionen und wirtschaftlichen Mechanismen kennt, wird verstehen, welchen Schlag jede Ablehnung seines Manuskriptes für ihn bedeutete. Jahre-, ja jahrzehntelang reiften die Gedichte in seinem Geist, wurden gefeilt, geschliffen, sprachlich ausgewogen und immer wieder überprüft; die verwendeten Wörter wieder ausgetauscht und durch andere Begriffe ersetzt, bis die Verse vor ihrem heftigsten Kritiker – dem Verfasser – standhielten. Und dann gab es da einige, dem Publikumsgeschmack nachkriechende provinzielle Verleger, die mit fadenscheinigen Ausflüchten ablehnten.
Ja, wenn man bereit war, die halbe Auflage selbst zu kaufen war der Vertrag rasch unterzeichnet, denn das Buch bedeutete ja auch einen Druckauftrag für den Verlag. Wie aber sollte der „Baraber“ diese Mittel aufbringen, wenn ihm und den Seinen andererseits zum Leben kaum genug blieb.
Um dieses Problem entspannte sich ein immerwährender Kampf, den Ciesciutti im reiferen Alter stets verlor. Er wollte nie wahrhaben, daß sein Schaffen keineswegs die Massen, sehr wohl aber viele ähnlich wie er empfindende Menschen anspricht. Seine Büchlein – einmal gekauft – werden immer wieder hervorgeholt, um Stimmungen zu verstärken und den Geist zu erfrischen.
Das literarische Lebenswerk des „Herrn Gedicht“ spiegelt nur selten dessen herbes und karges äußeres Schicksal. Viel öfter ist bei ihm ein reiches inneres Dasein erkennbar, das Ciesciutti mit der ihm eigenen sprachlichen Urkraft zum Schöpfer wunderbarer Gedichte machte. Recht wenig ist sohin der eigentlichen Darstellung der Arbeiter oder ihrer Bewegung, den Lebensumständen, dem Leid oder den Arbeitskämpfen gewidmet, die sich vor den Augen des „Barabers“ abspielten oder in die er sogar verwickelt war. Und dennoch ist seine Lyrik „Aufschrei“ und „Gegrübel“ zugleich, geschöpft aus demselben sozialen Umfeld, aus dem die Arbeiterbewegung hervorging und zur Umgestalterin der alten Gesellschaftsformen wurde.
Empfand eine ganze Generation wie er die gesellschaftlichen Ereignisse der letzten 60 Jahre; hat er dieses Empfinden in eine sprachliche Form gegossen? Bestimmt nur zum Teil. Aber im Bemühen, die Dinge zu sagen, das heißt sie zu gestalten, sie in Geist zu verwandeln und die Erde unsichtbar in uns erstehen zu lassen, fand Ciesciutti seine Anhänger.
Als er seine ersten Lesungen veranstaltete, feierte man ihn, der nur „Gänseblümchen“ sein wollte, als „neuen Beckett“. Als er die Einordnung, ja Typisierung ablehnte, begann ihn der Literaturbetrieb zu ächten und herabzuwürdigen.
Dennoch setzte er sich als zäher Literaturidealist durch, und gar nicht wenige Kärntner Journalisten und Schriftsteller stellten sich in den letzten 20 Jahren bei Ciesciutti als Bewunderer, wohlmeinende Anhänger und sogar als Freunde ein, die den zurückgezogen Lebenden fallweise aufsuchten oder mit ihm schriftlich verkehrten. In Erinnerung geblieben ist ihm die Zusammenarbeit mit Otmar Wolbart, mit Wilhelm Rudnigger und Ida Weiss, mit Rudolf Gasperschitz, Walther Nowotny, Erich Nußbaumer und vielen anderen. Ganz besonders haften geblieben ist die Auseinandersetzung mit dem großen Kärntner Dichter Johannes Lindner, der zu den Unterstützern ciesciuttischer Lyrik zählte, bis die beiden Schöngeister der Sprache wegen Kafka und Joyce zu streiten begannen.
Erich Nußbaumer hat in seinem Beitrag zu Ciesciuttis Buch Vielleicht, daß die Botschaft die Küste erreicht den Arbeiterdichter als Gequälten bezeichnet, dessen Dichtung inneren Reichtum an Weisheit und Kunst, Religion und Philosophie ausdrückt. Wir wissen, daß in der nüchternen und fortschrittlichen Nachkriegszeit lyrische Arbeiten jener Prägung, die Ciesciutti versucht hat, wenig angesehen waren. Keinesfalls hat die Republik Österreich aber den Literaten mit Vergessenheit gestraft. Vielmehr ehrte ihn der Bundespräsident mit der Zuerkennung des Titels „Professor“ und würdigte somit die wertvolle Nachdenklichkeit und das Schaffen eines großen Kärntners, der im Jahre 1986 sein 80. Lebensjahr vollendet hat.

Vinzenz Jobst, Vorwort

 

Die Robinsonade

des Arbeiterdichters Hans Cieciutti ist die Zusammenschau der wichtigsten Stationen im Leben eines der Literatur verfallenen Menschen. Das Buch erzählt in fünf Abschnitten von der Berufung eines Lyrikers, der sich um der Dichtung willen härteste körperliche Tätigkeiten und materielle Armut zuordnete.
Was auf den ersten Blick wie persönliches, unübertragbares, gottgewolltes Schicksal erscheint, stellt sich bei näherer Betrachtung als harte Auseinandersetzung mit sechs Jahrzehnten mitteleuropäischer Zeitgeschichte heraus. Die alles beherrschende Dominanz der Ideologien der dreißiger und vierziger Jahre kommen in Ciesciuttis Dichtung ebenso zum Ausdruck wie der verwerfliche Judenhaß der nationalsozialistischen Gesellschaft im lokalen Raum oder des illusionierenden Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges auf den einfachen Soldaten, der sich als Arbeiter dem Geschehen nicht entziehen hatte können und der möglicherweise nur noch in der Phantasie eine Chance zur Gegenwartsbewältigung erblickte.
Ciesciuttis Robinsonade skizziert, einmal verdichtet zu verträumten Versen, ein andermal herausgeschrien als glasklare Gesellschaftsanalyse, ein drittesmal orakelhaft vorausblickend, das Leben eines Kärtners, an dem die Ereignisse nicht abgeprallt sind.
Ahnungen, gefaßt in schöne Sätze und Verse, drücken aus, worauf es früher ankam und was auch künftig Geltung hat: Verständnis und Toleranz stehen vor Haß und Mißgunst; Liebe und Einklang mit der Natur bedeuten als ewig gültige Werte mehr als Raffgier und Ausbeutung um des kurzen Vorteils willen. An der Schwelle zum Unvergessensein hinterläßt uns der Arbeiterdichter mit den Variationen einer Flaschenpost immer wieder hervorholbare Hinweise für eine besser gestaltbare Zukunft.

Verlag Röschnar, Klappentext, 1986

 

Vinzenz Jobst: Robinson im Niemandsland. Eine Hommage an Prof. Johann Ciesciutti (* 7.12.1906 – ✝︎ 9.8.1997), Klagenfurt 2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber
Fakten und Vermutungen zum Autor

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