Jörg Schieke: Die Rosen zitieren die Adern

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jörg Schieke: Die Rosen zitieren die Adern

Schieke/Feininger-Die Rosen zitieren die Adern

FERNE NERVEN

und mignon das zauberhafte zweifel-
volle zwischenwesen tönt die blassen
adern nach das bedeutet wenn ich zögre
und ermatte kann ich das geheimnis fassen

wenn sich die gefühle kreuzen
an dem stichtag der gespräche schon seit
gestern geistern phrasen wie der mantel
des begleiters sei für diese frau zu weit

bis zum schluß verteilt der bote
seine post laut alphabet
und wenn die gespräche kreisen um den stich-
tag der gefühle komm ich denk ich doch zu spät

 

 

 

Ich folge den Gedichten von Jörg Schieke

seit Jahren mit Bewunderung und werde mich wohl weiter freuen und wundern über ihre klare, karge Schönheit. Die strenge Wortwahl, ihre melodischen Unterbrechungen. Den zarten Sinn für das Angestrebte, feinselige Territorium. Diese Gedichte bestechen durch sorgfältig arrangierte, immaginäre Details: „Drehn sich im Kreise die Gräser wie einst – / Als wir tanzten geneigt / waren, beinah miteinander zu tanzen“. Dieser junge Dichter hat für mich schon einen scheuen, eigenständigen Ton. Unspektakulär. Ausgeglichen. Kein Lärm. Keine Fahnen. Kein Jahr Neunundachtzig. Kein Davor. Kein Danach. Es sind vorallem Liebesgedichte in diesem Buch zu finden. „Statt Caterin einmal wieder Tereza oder Liane statt.“ Die wechselnden Frauennamen in den Gedichten, die scheinbare Beliebigkeit ihrer Aufzählung, setzen ein vermutliches Beherrschen der Resignation voraus, einer Technik des Sich-Abfindens, aber jederzeit ausgerüstet mit der Ahnung, die uns Roland Barthes in den „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ nüchtern ans Herz gelegt hat:

Da wo du zärtlich bist, sagst du deinen Plural. Ja auch die Musik lehrt uns das Wagnis der Wiederholung.

Und dazu taugt Musik sehr. In trockenen, metallischen Metaphern oder in diskretem Nylon gehalten. Denn unsere Begierden bestärken uns in dem Hang, etwas ähnlich, beinahe identisch zu wiederholen.

Thomas Kunst, Druckhaus Galrev, Frühjahrskatalog, 1995

 

Leidenschaften, die nie existierten

– Zu den Gedichten von Jörg Schieke. –

Jörg Schiekes Gedichte sind – um es mit einem Bild zu beschreiben – Einladungen zu einer Bootsfahrt an einem gleißend weißen Sommertag. In einer merkwürdig geladenen Spannung, die keine Erdung findet, scheint das Gefährt lautlos dahinzugleiten. Von einem für einen solchen Sommertag unweigerlich zu erwartenden Unwetter meint man, jeden Moment die ersten Wolken zu sehen. Erhöbe man jedoch den Blick tatsächlich zum Himmel, würde man keinerlei Beweise für ein solches entdecken können. Keinerlei reale Vorgänge wiesen auf seine Existenz. Es bleibt eine Fata Morgana.
Vielleicht ist der Grund für das Entstehen solcher Phantombilder die Angst, die das anhalten des Atems vor dem Beginn der Unumkehrbarkeit einmal begonnener Vorgänge ist. Denn bräche – um das Bild zu vollenden – das Gewitter einmal aus, ist es ein nicht mehr zu unterbrechender, sondern sich unweigerlich bis zum Ende entladender Prozeß.
„Die Rosen zitieren die Adern“ ist der erste Gedichtband des 1965 geborenen Jörg Schieke. Die Veröffentlichung eigener Gedichte, also das öffentliche Sprechen vor einem Publikum, mag letztlich Anstoß für ihn gegeben haben, sich am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zu bewerben, an dem er in diesem Sommer sein Studium aufnahm. Der Band enthält auf den ersten Blick untypische Äußerungen für die moderne urbane Generation der etwa Dreißigjährigen. Den Gedichten ist eher die Atmosphäre eines pastellenen impressionistischen Stillebens aus dem verflossenen Jahrhundert eigen. „Lautlos“, „du erlaubst doch“, „dürfen“ sind wiederholt vom Autor verwendete Worte, die das Verhaltene anzeigen.Die Gedichte scheinen gängigen Verarbeitungen von Moderne, Großstadt und Chaos entgegenzustehen. Wenn überhaupt, enthalten sie allein das Chaos eines ungestillten, ort- und ziellosen Sehnsuchens. Sie verhalten sich wie ein Oszillograph, der keinen Ausschlag mehr anzeigt, sondern dessen Funktion zur Monotonie eines gleichlautenden Signals geschrumpft ist. Die Aufgabe der Worte besteht darin, diese Stimmung nicht abreißen zu lassen, sie wird in immer neuen Situationen reproduziert.
Jörg Schiekes Gedichte enthalten keine Träume, obwohl der Leser an manchen Stellen vermuten könnte, daß es sich um solcherart Beschreibungen handelte. „Ich werde in zukunft / meine träume notieren das ist kein spleen das ist der morgen / an dem ich mir / einen namen mache unter den andren / patienten mit ihren geregelten / tagesabläufen…“
Seine Texte sind im Gegenteil Studien von Gegenständen, Situationen, Begebenheiten aus möglichen Erinnerungen: „wie einst, als wir tanzten, geneigt / waren beinah / miteinander zu tanzen“ – in helle, ineinanderfließende Farben übersetzt. Es sind verlorene, aus dem Gedächtnis reproduzierte Leidenschaften, deren Entstehungsorte im dunkeln liegen oder die in Wahrheit nie existierten, nur in der Vorstellung des sich Erinnernwollenden. „Über wasserdampf gehaltene / sätze mit so wunderbar weichen füßen / aus japan. Und ich konnte nicht anders, vertauschte marlén / mit marléns zigaretten.“ Oder, um einen Titel zu zitieren: „Auf der Reise in die Schwebe“. So entsteht im aneinanderreihen von Splittern, die kein vollständiges Bild mehr ergeben, ein filigranes Netz von Imaginationen. Sie lassen vage das Gefühl des Verlustes ahnen. Doch selbst die Herkunft dieses Verlustes scheint sich im Laufe der Texte zu vergessen.
Baudelaire, Lacan und Djuna Barnes, vom Autor als maßgeblich für Einflüsse auf sein Schreiben zitiert, finden in seinen Gedichten ein Echo. Die Faszination des Klanges beispielsweise französischer Titel und Namen – la grande malade, passé, René, Lou – verdoppelt (bisweilen vorsätzlich) die Magie der Ferne.

Cornelia Jentzsch, 26./27.8.1995

Die Rosen zitieren

Zurückhaltung hieße, die Dinge selbst ins Gespräch zu bringen; in einem Moment ihrer eigenen Wirklichkeit. Sicher bewirkt diese Haltung vor den Dingen eine gewisse Scham des Sprechens & Schreibens, sie gebietet zugleich den Abstand, von dem aus das Sprechen beginnt. Die Gedichte Jörg Schiekes verwalten diese Distanz als jene „aus Prinzip“, was hieße, den Dingen nicht dazwischen zu reden: „die rosen zitieren die adern“, allein.
Wenn man einmal versucht, die Gesten und Bewegungen zu verzeichnen, mit denen der Autor die Figuren seiner Gedichte ausstattet, hat man bald das Inventar für die Tragikomödie der immerverfehlten Begegnungen beisammen. In dieser lyrischen Inszenierung, in diesem „spiel für eine weibliche und eine männliche stimme“, ist ein unmittelbares Aufeinandertreffen im Grunde auch nicht mehr vorgesehen, im Gegenteil, gerade „weil die frau / ihre erfahrungen hat im umgang / mit einer angefangenen flasche, weil der mann / seine erfahrungen hat im umgang / mit einem angebrochenen abend, weil die frau / nichts weiß, ob der mann / noch einmal zurückkehrt, weil der mann / nicht weiß, wovon / ihr augenzwinkern eigentlich handelt …“, weil jeder seine Spielanleitung im Kopf behalten und befolgen muß, kommt es zwischen „mann“ und „frau“ nur zum austausch ihrer grotesk konkurrierenden rituale. Und so wird  „bis zum geht nicht mehr“ aus jedem blickkontakt ein „fernduell“, man spricht nicht viel, fast ist es still – bis auf „ein leises singen wie / vor dem schuß…“.
Die vielleicht schönsten Gedichte hingegen entwerfen die Spielregeln einer anderen, geradezu gelungenen „DISTANZ“ (ein Gedichttitel). Dann allerdings ist immer das Meer ganz in der Nähe, dann ist Abstand Bedingung für „ein wagnis am strand“, dann „baden die beiden vom boot aus und lautlos“, und später „auf der flucht… / aber erst wenn / wir schwimmen entledige dich deiner kleider –“. Aber auch diese Texte kultivieren eine Tristesse, in der selten etwas wirklich geschieht, jedoch beinah alles fast geschieht, „wie einst, als wir tanzten, geneigt / waren beinah / miteinander zu tanzen…“. Dabei gelingt es Jörg Schieke mit einem feinen Gespür für Ironie, seine ansich schwer melancholischen Texte „auf der reise in die schwebe“ zu halten, ohne daß ihm dabei ein einziges Mal das Steuer aus der Hand geglitten wäre.
Jörg Schieke, gemeinsam mit Barbara Köhler, Träger des diesjährigen Brentano-Preises, wurde 1965 in Rostock geboren und lebte in Stralsund, wo er im Kreis der Stralsunder Gruppe um Uwe Lummitsch, Thomas Kunst und Jörn Hühnerbein zu schreiben begann, ehe er über Halle nach Berlin kam. Seine nordische Herkunft und das Leben in der Großstadt bezeichnen denn auch die Orte und Bildwelten des Gedichts, backbord „das meer / so grau / und aufgewühlt und reiterlos“, steuerbord die „etagenbrände… vor den toren berlins“.
„es geht um die bilder“ schreibt Schieke, und vornehmlich geht es um ihre Details: „die billets / in marseille & in london / die tickets; ein gestell / wie aus lumpen entfernt / anonym…“ Viele seiner Texte sind Gebilde solcher sorgsam und mit rhythmischer Strenge ineinander montierten Bildausschnitte, deren Sequenz an Videoclips erinnert. „ich versuche den anderen dort zu treffen, wo das von mir belebte detail auch ihm zugestoßen sein könnte, und ich versuche, ihn in genau jenem moment zu treffen, da er diese spur ohne meine hilfe unweigerlich verloren hätte.“ Jörg Schiekes Essay über die Entstehung eines Textes („falscher name, blanker stein“, in: moosbrand, Heft 2, 1994) verweist auf Personen-Namen als Initialzündung eines „work in progress“, als „ein zwar neutrales, aber höchst geheimnisvolles material“ aus dem Archiv des Details.Wenn das Schreiben sich aus solchen Quellen speist, besteht wahrscheinlich kaum Gefahr, Gedichten zu begegnen, die im Design der Moderne ein intellektualisierendes patchwork aus Gentechnik, Kant und Zeitgeistattitüden veranstalten. Ich habe dieses Buch sehr gern gelesen, es hat seinen Platz im Regal der Lieblingsbücher.

Lutz Seiler, moosbrand, Heft 4/1996

Rituale der Distanz

DIE ROSEN ZITIEREN DIE ADERN nannte Jörg Schieke seinen ersten Gedichtband, und mir scheint, der Autor wäre der letzte, der den Rosen bei dieser Arbeit dazwischen redete. Zurück-Haltung als Schreibhaltung heißt für den, der schreibt, die Dinge des Gedichts zu hüten, heißt, statt ihnen froh & forsch „auf den Grund“ zu gehen, sie zuerst selbst ins Gespräch zu bringen in einem Moment ihrer eigenen Wirklichkeit. Sicher bewirkt diese Achtung vor den Dingen und ihrer uns nur begrenzt zugänglichen Wirklichkeit eine gewisse Scham des Sprechens und Schreibens und gebietet schließlich auch den Abstand, der das Sprechen erst ermöglicht. Bei Jörg Schieke ist diese Distanz zugleich ein Prinzip, das seine Gedichte sprachlich und thematisch bestimmt.
Wenn man einmal beginnt, die Gesten und Bewegungen zu verzeichnen, mit denen der Autor die Figuren seiner Gedichte ausstattet, erhält man bald ein umfangreiches Inventar für die Tragikomödie einer verfehlten Begegnung. Noch mehr: In dieser lyrischen Inszenierung, in diesem „spiel für eine weibliche und eine männliche stimme“ ist ein unmittelbares, überraschendes Aufeinandertreffen nicht mehr vorgesehen, im Gegenteil, gerade „weil die frau / ihre erfahrungen hat im umgang / mit einer angefangenen flasche, weil der mann / seine erfahrungen hat im umgang / mit einem angebrochenen abend, weil die frau / nicht weiß, ob der mann / noch einmal zurückkehrt, weil der mann / nicht weiß wovon / ihr augenzwinkern eigentlich handelt…“, weil jeder seine Spielanleitung im Kopf behalten und befolgen muß, kommt es zwischen diesem Mann und dieser Frau immer nur zum Austausch ihrer meist grotesken, konkurrierenden Rituale. Und so wird „bis zum geht nicht mehr“ aus jedem Blickkontakt ein „fernduell“, man spricht nicht viel, fast ist es still – bis auf „ein leises singen wie / vor dem schuß…“.
In „Musike“, dem in der Mitte des Buches plazierten Prosastück, wollen der Mann und die Frau gern noch einmal in ihren narzistischen Ritualen glänzen, aber es ist nur noch ein Abglanz zu haben von dem, was sie einmal sein wollten und nun zu sein vorgeben müssen. Ihre Rolle ist verbraucht, sie selbst sehen sehr verbraucht aus und auch ihre Kindheits-Erinnerungen („ich brauchte sehr lange, bis ich mich daran gewöhnte, daß der leib meiner kleinsten russischen Puppe nicht mehr zu öffnen war…“) wirken wie Selbstzitate zum x-ten Mal. „Musike“ ist eine gut gemachte, kurze Geschichte über das Scheitern von Nähe. Weil Jörg Schieke sie locker, beinah naiv erzählt, weil er sie mit seinen grotesken Einfällen auf eine surreale Ebene hebt und die Figurendetails prägnant und außergewöhnlich sind, fragt man am Ende, ob sie nicht wirklich noch etwas hätte weiter gehen können, die Geschichte „von der frau mit den entscheidungsfreudigen zähnen und dem mann, der die bühne betritt und das hufeisen gleich wieder aufbiegt“. Weiter geht schließlich die Geschichte der schwierigen Begegnungen, aber unter umgekehrten Vorzeichen: Die vielleicht schönsten Gedichte in diesem Buch entwerfen die Spielregeln einer anderen, einer geradezu gelungenen „Distanz“ (ein Gedichttitel). Dann allerdings ist immer das Meer ganz in der Nähe, dann ist Abstand Bedingung für „ein wagnis am strand“, dann „baden die beiden vom boot aus und lautlos“, und später dann heißt es „auf der flucht… / aber erst wenn / wir schwimmen entledige dich deiner kleider –“. Aber auch diese Texte kultivieren eine Tristesse, in der selten etwas wirklich geschieht, jedoch beinah alles fast geschieht, „wie einst, als wir tanzten, geneigt / waren beinah / miteinander zu tanzen…“.
Dabei gelingt es Jörg Schicke mit unterschwelligem Sarkasmus und einem feinen Gespür für Ironie, seine an sich schwer-melancholischen Texte „auf der reise in die schwebe“ zu halten, ohne daß ihm dabei ein einziges Mal das Steuer aus der Hand geglitten wäre. Man merkt, daß der Autor, wenn er hier auch als „Debütant“ erscheint, schon seit über zehn Jahren anwesend ist in der Literatur seiner Zeit. 1965 wurde er in Rostock geboren und lebte in Stralsund, wo er im Kreis der Stralsunder Gruppe um Uwe Lummitsch, Thomas Kunst und Jörn Hühnerbein zu schreiben begann, ehe er über Halle nach Berlin kam. Seine nordische Herkunft und das Leben in der Großstadt bezeichnen denn auch die Orte und Bildwelten des Gedichts, backbord „das meer / so grau / und aufgewühlt und reiterlos“, steuerbord die „etagenbrände… vor den toren berlins“.
Jörg Schieke schreibt „es geht um die bilder“, und vornehmlich geht es um ihre Details:

die billetts
in marseille & in london
die tickets; ein gestell
wie aus lumpen entfernt
anonym…

Viele seiner Texte sind Gebilde solcher sorgsam und mit rhythmischer Strenge ineinander montierten Bildausschnitte, deren Sequenz an die Technik moderner Videoclips erinnert. Damit vermeidet er zugleich, mit dieser „Poesie des Details“ ins Anekdotische abzurutschen.

ich versuche den anderen dort zu treffen, wo das von mir belebte detail auch ihm zugestoßen sein könnte, und ich versuche, ihn in genau jenem moment zu treffen, da er diese spur ohne meine hilfe unweigerlich verloren hätte.

Jörg Schiekes Essay über die Entstehung eines Textes („falscher name, blanker stein“, in MOOSBRAND, Heft 2/1994) verweist auch auf die wichtige Rolle von Personen-Namen als Initialzündungen eines „work in progress“, als „ein zwar neutrales, aber höchst geheimnisvolles material“ in seinem Archiv der Details.
Wenn das Schreiben sich aus solch eigenen, eigenartigen Quellen speist, besteht glücklicherweise nicht die Gefahr, Gedichten zu begegnen, die im Design der Moderne ein intellektualisierendes patchwork aus Gentechnik, Kant und Zeitgeistattitüden veranstalten. Sicher, damit wird es nicht wahrscheinlicher: im Betrieb der Feuilletons auf Fürsprecher oder gar Liebhaber zu stoßen, was solls. Ich habe dieses Buch sehr gern gelesen, und jetzt hat es seinen Platz unter den Büchern im Regal gleich neben dem Schreibtisch, dem allerkleinsten Regal, dem der Lieblingbücher.

Lutz Seiler, Ostragehege, Heft 4, 1996

Jörg Schieke hat eine behutsame, zärtliche

und dazu noch angenehm verrückte Art Liebesgedichte zu schreiben. Texte von fast vollzogenen Berührungen und Erinnerungen, von Tänzern und verschwundenen Städten, Gedichte im Zimmer und auf einer vorsichtigen Flucht. Schiekes erste Buchveröffentlichung gewinnt einen besonderen Reiz aus der vertraulichen, oftmals einfach und klar durchatmenden Sprache der Texte, die doch alles andere als transparent sind. „Es bereitet mir Spaß, dich verlegen zu machen“, heißt es z. B. in „Das Streicheln der Stühle verpflichtet zum Kauf.“ Die Verwirrung beginnt frühestens im Kopf des Lesers, oder auch nicht, denn wer könnte Schieke widersprechen, wenn er einräumt: „Ja, du hast recht, auch die Schaukel gehört zu den nützlichen Tieren, genau wie der Kellner“.

UG, 5/1995

Zweifellos ein Buch, das sich nur öffnet,

wem Lesen nicht Form der Zerstreuung ist, sondern der Konzentration.

Gleiches gilt für das Lyrik-Debüt „Die Rosen zitieren die Adern“ von Jörg Schieke. Wie bei Böhme das Fragen, ohne Antwort zu erwarten, ja ohne sie zu wollen. Das Tasten nach dem, was dem Text zugrunde liegt, in ihm selber aber nicht vorkommt, oder wenn, dann als schweigender Hintergrund – „ich werde in Zukunft / meine träume notieren das ist kein spleen das ist / der morgen / an dem ich mir / einen namen machte unter den andren / patienten mit ihren geregelten Tagesabläufen.“
Es bleibt die Leerstelle, die jeder gute Text produziert, eine mehrdeutige Schwebe. Tages-Polemik dagegen vereinseitigt, ist so entschieden wie kurzgriffig. Dichtung bleibt Unentschiedenheit, provokante Schwäche, die sich als unausweichlich erfährt und in notwendigen Worten ausspricht.
Wortarmeen, zur Vernichtung des anderen ausgeschickt, funktionieren wie die Zeitung von gestern, sie sind in Immer-Heute desertiert, feiern beständig die Machbarkeiten, die Sieger. Dichtung aber ist Angelegenheit der Verlierer: „wir warten / nun nicht mehr wir / zögern. Appetit / habe ich keinen, wohl aber / hunger und, wie soll ich sagen, die hausflur- / beleuchtung im rücken, ein hygienischer / schmerz…“
Des dreißigjährigen Dichters Erstaunen über die Selbstverständlichkeit, mit der jede neue Gegenwart Macht-Ansprüche anmeldet, speisen tiefeingegrabene Erinnerungsspuren: „bis zum schluß verteilt der bote / seine post laut alphabet / und wenn die gespräche kreisen um den stich- / tag der gefühle komm ich denk ich doch zu spät“
Die Uhren des Dichters also gehen immer noch und beständig anders. Das – als Ärgernis – ist selbstläufigem Alltag zu gönnen.

Gunnar Decker, Wochenpost

 

JÖRG SCHIEKE
Kindermund

wenn der Wolf nicht mehr angst einflößt
soll er aus dem Nachthemd fahren
bis keiner mehr glotzen tut oder das Maul
aufsperren und mit den Zähnen Speichel lecken.

Peter Wawerzinek

 

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