15. Mai

Arthur Schopenhauer oder Otto Weininger über die Frauen, Lew Tolstoj über Künstler, Kleriker und Kapitalisten, Max Nordau über die Entarteten, Wassilij Rosanow oder Louis-Ferdinand Céline über die Juden, E. M. Cioran über die Nationalsozialisten, Peter Handke über die serbischen Altkommunisten und Neofaschisten – wo hat man Lächerlicheres und Entsetzlicheres gelesen? Wo sonst … bei wem sonst triumphiert genialisches Denken so dreist im luftleeren Raum der Blödigkeit! Und vor allem – warum? Wozu? Da all diese trotzigen Auftritte in der Quasselbude außer kurzfristiger Empörung keinerlei Erkenntnisgewinn erbringen – woher also kommt der Impuls dazu, das Interesse daran? Schopenhauer, Rosanow, Cioran! Soviel Niedertracht und Schwachsinn bei soviel Luzidität und besserem Wissen? Pathologie? Provokation? Selbstversuch? Rollenspiel? Aber Paulus und Saulus sind nie nicht eins. – Weiter mit Lew Schestow (übersetzen), der Verleger möchte den Band bereits für den kommenden Herbst haben, ich muss also den Roman vorübergehend zurückstellen. Immer wieder bin ich irritiert durch Schestows ausschweifende Rhetorik, seine endlosen Wiederholungen, Pleonasmen und Vergleiche – da er doch, egal womit er sich beschäftigt, nur eine Wahrheit zu vertreten hat: Die elementare, dennoch weithin (auch in der Philosophie) verdrängte Wahrheit, dass »Wahrheit« rational nicht zu erschließen ist … dass sie nur dort und erst dann gefunden werden kann, wenn der Mensch angesichts des Äußersten – das Äußerste im Hiesigen ist der Tod – in seine ultimative existentielle Bedrängnis gerät. An diesem Punkt muss und kann über Wahrheit nicht mehr geredet werden … an diesem Punkt ist die Wahrheit, hier steht sie gewissermaßen schon immer fest und wartet darauf, angetroffen zu werden. – Von meinem Vater habe ich den Händedruck, nicht aber die Hand; als Sportsmann – Handballer, Kunstturner – hatte er seine Hand … hatte er seine beiden Hände zum Zupacken und Festhalten trainiert. Meine Schreibhand ist demgegenüber schlaffer, ist schwächer ausgebildet als seine, auch ist sie unruhiger, und bei Föhn oder Aufregung wird sie fühlbar feucht. Vater hatte eine kleine, runde, kraftvolle, kühle, stets trockene Hand, die er (so schien es mir) nie nicht als Faust in Bereitschaft hielt. – Früh aufgewacht nach langwierigen Träumen (Schuhe, CDs, Mandarinen, Waterhouse, Werklisten, Limousine, Absperrung, Umleitung, Wiesengrund usf.); schon um sechs die Alternative zwischen einem traumhaft schönen Tag, der zu begehen, zu genießen wäre, und der Schreibtischarbeit, die mich auf Jan Potockis zweitem Lebensweg vielleicht um drei, vier Jahre voranbringen könnte – im ersten Fall wäre die Rückkehr das Ziel, im zweiten der Vorstoß ins Offene und Ungewisse. Durch Aufräumarbeit im Haus und im Garten lenke ich mich von der Entscheidung ab; am Ende des Tags wird meine kleine Welt an Übersichtlichkeit gewonnen haben. Ja und? Einen Großteil des Lebens lasse ich mir auf solche Weise entgehen – Ersatzhandlungen statt Erfahrungsgewinn. – Kurzbesuch von Krys, die auf dem Weg nach Genf einen Ruhetag braucht, um sich auf ein Podium über improvisierte Musik vorzubereiten (sich, wie sie sagt, zu besinnen); sie berichtet von einer gleichaltrigen Berufskollegin und Freundin mit der Diagnose Gehirntumor, von Leerläufen und Querelen im Büro, von ihrer wachsenden Ungeduld im Umgang mit den Schulbehörden, mit Sponsoren usf. Da kann ich … da muss ich ihr, obwohl um zwanzig Jahre älter als sie, leider zustimmen; ich selbst kehre mehr und mehr meine ungünstigsten Eigenschaften heraus – Intoleranz, Kleinlichkeit, ständige Irritation durch eine repressive (ich meine – durch eine von mir als repressiv empfundene) Normalität, die ich durchweg mit Mediokrität identifiziere. Am allerwenigsten kann ich mich mit der ganz normalen Mediokrität des Kulturbetriebs abfinden, mit der Duckmäuserei, dem Konsensbedürfnis, der Buchhaltermentalität von verantwortlichen Interessenvertretern, von Kuratoren und Organisatoren, die kaum noch eine Ahnung davon haben, was sie organisieren oder kuratieren, aber auch mit der intellektuellen Bequemlichkeit, dem Unterhaltungs- und Unmündigkeitsbedürfnis so vieler – der letzten – Kulturkonsumenten. Ich meinerseits erkenne und gestehe meine Unfähigkeit, mich abzufinden mit dem, was da draußen der Fall ist … oder wie der Kalauer beifügen würde: was unaufhaltsam ohnehin im Fallen ist. Also stoße ich mit Krys auf jeden Fall an! – Morgen fahre ich, nach Absprache mit Walter Zimmermann, kurz entschlossen zur nachträglichen Feier des 100. Geburtstags von Edmond Jabès nach München, wo Sarah Nemtsovs Oper ›L’Absence‹, nach Texten aus dem ›Buch der Fragen‹, zur Uraufführung kommt. – Meine letzte Frage wird meine letzte Antwort gewesen sein. – Wie rasch man Einleuchtendes vergessen kann! Und wie schwer vergisst man – vergesse ich – Unverstandenes. – Den guten Bolschewiken kann man sich vorstellen, man muss es nicht – es hat ihn gegeben; der gute Bolschewik gehörte zu den ersten Opfern des Bolschewismus. Der gute Nazi aber? Die Nazis haben – den einen oder andern »Verräter« ausgenommen – keine Nazis hingerichtet. Die Aburteilung, Deportation, Hinrichtung überzeugter, engagierter, aufrichtiger Parteigänger, die noch unter Folter den Kommunismus und dessen Klassiker hochleben ließen, gehörte von Anfang an zur bolschewistischen Normalität. Stalin hat vor allem jene ergebenen Genossen liquidiert, denen er seinen Aufstieg und zuletzt seine absolute Macht verdankte.

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