Karl Krolow: Nichts weiter als Leben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Nichts weiter als Leben

Krolow-Nichts weiter als Leben

WELTMASCHINE

Sanduhren, Attribute
der unsichtbaren Weltmaschine,
langsam laufend und poetisch
als Erscheinung −
man erfährt Ablauf
von Geschichte als etwas,
das durch Finger fällt,
während fröhlich auf Leute
geschossen wird, die
nicht mehr verwendbar sind.
Mit Genuß wird Vergangenheit
verarbeitet als Zukunft.
Die Botanik der Träume
will gelernt sein,
um aus ihr Nutzen
zu ziehn für Utopie,
die mit Grausamkeit
nicht geizen soll.
Die letzte Karte ist nie
verspielt. Schon morgen
werden wir mehr wissen.

 

 

 

„Nichts weiter als Leben“

Zu den Neuerscheinungen, die keiner Empfehlung bedürfen, gehört der jüngste Gedichtband Karl Krolows, Nichts weiter als Leben. Der in Hannover geborene, heute in Darmstadt lebende Lyriker steht nun in der Mitte seines fünften Lebensjahrzehnts. In bemessenen Abständen hat er seit den vierziger Jahren Lyrik veröffentlicht und die Lyrik der Nachkriegszeit als Kritiker und Essayist bedachtsam verfolgt. Seine eigene Poesie hat mit der Zeit den entspannten, sparsamen und starken Charakter des Gültigen angenommen, das nicht mehr richtiger, nur anders werden kann. Sie hat sich nie in überraschenden Schüben gewandelt, sondern andauernd in sachten Übergängen. Auch sie ist nun älter geworden, wie ihr Autor, fast unmerklich, doch schließlich spürbar an den „immer vorsichtigeren Gefühlen“.
Die neue Publikation umfaßt Gedichte von 1967 bis 1970, pro Jahr nicht mehr als zwei Dutzend, nebst einem Anhang, in welchem Krolow ein Gedicht interpretiert. Für das Verständnis wäre diese freundliche Maßnahme kaum nötig. Krolows Lyrik, so andeutend und geheimnisreich sie oft auch erscheint, ist nicht besonders schwer zugänglich, ja sie weist, gerade in den letzten Jahren, eine Tendenz zur unmittelbaren Mitteilung auf, „ohne Bilder, kunstlos, ohne Jahreszeiten“, wie in einem Gedicht von 1969 steht. Andererseits gibt schon der bloße Wunsch, sich und andern über die Kunstausübung Klarheit zu verschaffen, einen Hinweis auf den offenen, probeweisen, reflektierten Charakter der Kunst selber, die nicht bestimmte Inhalte ästhetisch isolieren, sondern sie als solche herzeigen will. Doch weshalb? Im Anhang steht: „Inhalt? Ich weiß mit den Jahren immer weniger, was es mit ihm in einem Gedicht für eine Bewandtnis hat, oder gar, was für eine Funktion er in ihm übernehmen könnte.“ Man kann diese Worte so verstehen, daß sie geradezu das Generalthema selbst bezeichnen. An Inhalten wird die Bedenklichkeit der Inhalte deutlich; natürlich nicht nur der Gedichtinhalte, sondern dessen, was sich in ihnen manifestiert, der Wirklichkeit zuverlässig und unwirklich zugleich. Eine ganze Gruppe von Gedichten zeigt Gegebenes so, bedingt durch Raum, Zeit, Bewußtsein; Wirklichkeit der Außenwelt, in einem Rahmen als Bild, als Bühne; Wirklichkeit, die sich erzeugen läßt und wieder entgleitet, Landschaftsräume, perspektivisch konstruiert, machen die Perspektivität des Sehens, die Relativität des Seins sichtbar.

UNTERWEGS

Die täglich schöne
Naturanschauung unterwegs,
wenn man zu gehen glaubt,
aber durch den stillen Fleiß
des Horizonts voran kommt,
der zurückweicht. Er gibt
die Illustration
eines Hügels mit Bäumen,
erläutert als Ferne
Türme einer Stadt,
Häuser, so hoch
wie der Gesichtskreis
sie zuläßt.
Im Vordergrund wehende Blätter
sorgen für wirkliche Landschaft,
die mit Händen zu greifen ist.

In den fünf weiteren Gedichtgruppen werden Verhältnisweisen zu jahreszeitlichen, zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Gegebenheiten formuliert, ferner findet sich ein Zyklus zum Thema „Licht“, zuletzt eine Reihe von Gedichten zur „trägen Verschwörung der Zeit“, die dem physischen Dasein ein Ende setzt. Aus diesem Zusammenhang stammt der Titel des Bändchens:

(…) nichts weiter als Leben,
das einen verläßt, geduldig,
bald oder jetzt…

Der bestimmende Eindruck insgesamt bleibt der eines behutsamen Abstandhaltens zu den Gegenständen. Der hier dichtet, schaut mit den Augen eines scheinbar Unbeteiligten, den keine Erinnerung belastet, kein Wille irritiert. Eigenes und fremdes Leben zeigt sich da und dort schon als Geschichte, vom Punkt des vorweggenommenen Todes her. Alles wird gleichgültig in dem Sinn, daß es gleich merkwürdig wird („Unter Möbeln, die in Zimmern stillstehn“, „am ganzen Körper lebend“). Selbstverständliches gibt es nicht für diesen gründlichen und sachlichen Blick, der vieles als geringfügig, doch nie als lächerlich begreift.
Derart ist die für Krolow charakteristische Teilnahme, die er immerhin übt und in welcher Übung er zum Meister geworden ist. Er spricht ganz im Einvernehmen mit den Dingen, ohne ihren Widerstand, so daß sie nichts als sich selbst ausdrücken, wenn er sie ins bedächtige Wort erlöst. Mannigfaltig und subtil sind die Wege und Weisen Krolows, um Empfindungen in den Sachen aufgehen zu lassen. Er objektiviert durch Exaktheit („Naturanschauung“, „Lichtwellen“ statt „Natur“, „Licht“). Er reiht sich unter das anonyme man oder versteckt sich in Infinitiven und Partizipien. So werden Erlebnisse zu Erlebnismustern („Am abgetrennten Ort stehen bei Tageslicht / als Sonderling“).
In einem Hauptwörterstil des bloßen Benennens werden Erfahrungen als affektlose Zustände ausgegeben. Schließlich bezieht sich der Abstand auf die Gedichte als solche. Spürbar am Rhythmus, bewegen sie sich auf ihr eigenes Ende zu, als „Liebschaft einiger Worte / mit der Lautlosigkeit“, wie es in einem früheren Beispiel heißt.
Bei solcher Zurückhaltung des Dichters können Pathos und Ironie nicht vorkommen. Krolow bewahrt sich die stille Überlegenheit dessen, der entsagt. Den stärksten eigenen Ausdruck erzielt er durch die Intensität der Leidenschaftslosigkeit, das heißt, durch die Spannung zwischen seiner Gelassenheit und den gewohnten Gefühlskomplexen, die sich als überflüssig erweisen. Sein lyrischer Ton ist nicht resigniert, sondern von einer angenehmen, befreienden Leichtigkeit, die gelegentlich etwas Geisterhaftes an sich hat. Er nimmt den Dingen sozusagen ihr Gewicht, macht sie durch seine Vermittlung gegenstandslos. Bei dieser Dichtungsart kann das Thema, das stärker als je im Vordergrund steht, nämlich die schnell verrinnende Zeit des Lebens, eben zum Thema, kaum noch zum Problem werden. Das „déjà vu, déjà connu“, selbst die schonungslose Beobachtung körperlicher Funktionen erzeugen keinen Ekel, sondern fördern schickliche Duldung.
Krolow hat keine bevorzugte Jahreszeit. Seine Naturgedichte schließen sich immer zum Zyklus, so im letzten Buch, Landschaften für mich (1966), so auch in der neuen Publikation, obgleich jetzt die Naturlyrik nur noch ein Viertel des Umfangs ausmacht. In diesem Bereich nun erlaubt Nüchternheit jene „magische Balance zwischen Mensch und Natur“, auf die es dem Dichter wesentlich ankommt. Er kann sich auf die „Reise ins Innere der Augenblicke“ einlassen ohne „emotionale Nebengeräusche“, da er sein eigener wachsamer Beobachter bleibt. Das geschickt mitgestaltete Bewußtsein der sinnlichen Augenblicke läßt ihn unbefangen.

Gerhard Piniel, Neue Zürcher Zeitung, 10.12.1970

Poesie und Porno

Unter dem Titel Nichts weiter als Leben legt Karl Krolow in einem Band der Bibliothek Suhrkamp neue Gedichte vor, die zwischen 1967 und 1970 geschrieben wurden. Dies sind sprachlich einfache, lakonische Texte, eher unterkühlt, mit (Wie es in einem Gedicht heisst) „immer vorsichtigeren Gefühlen“. In seinen lyrischen Miniaturen und bildhaften Reflexionen reagiert der Dichter auf den „minimalen Reiz der Wahrnehmung“:

Ich nehme mir,
was ich brauche,
als Indiz für den
Sinn der Dinge.

Krolow registriert mit seismographischer Empfindlichkeit auf die Umwelt: auf die Natur, die Jahreszeiten, den Wechsel von Licht, Farben und Gerüchen; auch die Körperlichkeit, ebenso Politisches kommt ins Spiel, sofern es das lyrische Ich berührt. Nicht ohne Grund gehört der Terminus „Sensibilität“ zu den zentralen Begriffen des Theoretikers Krolow; seine Gedichte – deren formaler Aufbau und deren Zeilenabrechnung freilich als nicht zwingend erscheint – sind, bei aller Kühle, doch sehr sinnenhafte Gebilde. Diese Lyrik kommt ohne grossen Aufwand aus:

Ich verschaffe mir Aussenwelt
mit ein paar Sätzen.

In einigen der neuen Gedichte kommen erotische Elemente ins Spiel: da ist die Rede etwa von der „Liebe“, die nicht / auf sich warten lässt, / erprobt an den üblichen / Stellen“, und davon, dass „zwei / einige Körper sich / ein wenig verschieben / in der gemeinsamen Bewegung / die uns alle ins Dasein / bringt.“
Das ist sehr fein und poetisch ausgedrückt. Aber Karl Krolow kann auch anders. Im Hamburger Merlin Verlag ist ein Band Bürgerliche Gedichte von Karol Kroepcke erschienen, und der Verlag verbreitet in seinen Prospekten, diese „obszönen Gedichte“ habe man anonym in einem norddeutschen Kaffeehaus entdeckt; gleichzeitig wird angedeutet, dass es sich bei dem Verfasser um einen bekannten zeitgenössischen deutschen Dichter handle. Wozu dieses Versteckspiel? Wer die Anthologie Dein Leib ist mein Gedicht (Rütten + Loening Verlag, München 1970) kennt, weiss ohnehin, dass niemand anders als Karl Krolow diese Geschichte geschrieben hat.
Hier wird nicht metaphorisch verschleiert. Dies sind seine erotischen Gedichte, keine Liebesgedichte. Mit derbem, eindeutigem Vokabular demonstriert Kroepcke-Krolow fünfundzwanzigmal harten Sex, assistiert von dem Zeichner Arno Waldschmidt, der seinen Blick starr gerichtet hält auf die Körperpartien, die hier in Frage kommen. „Bürgerliche Gedichte“: so ziemlich das Härteste an obszöner Literatur, was derzeit auf dem (freien) deutschen Buchmarkt zu haben ist.

J. P. W., Die Tat, 7.11.1970

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Dieter Bachmann: Zwei deutsche Dichter
Die Weltwoche, 30.10.1970

Eduard C. Heinisch: Leitbild deutscher Lyrik
Die Furche, 30.1.1971

Hans-Jürgen Heise: Galliger small-talk
Die Welt der Literatur, 7.1.1971

Dieter Hoffmann: Fußangel, Kuchenstücke, Bierwärmer
Frankfurter Neue Presse, 16./17.1.1971

Regina Käser-Häusler: Perspektivische Sizzen
Basler Nachrichten, 16.12.1970

Annemarie Meckel: Unruhe – Anfang von diesem und jenem
Badische Zeitung, 9.12.1970

Heinz Piontek: In ironisches Licht getaucht
Rheinischer Merkur, 4.12.1970

Timo Brandt: Karl Krolow 1966–1970 – ein Ausschnitt
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 26.2.2014

 

BEIM LESEN VON K.S GEDICHTEN

Ich habe Gedichte gelesen,
die reimten sich wunderbar.
Es reimet sich Garten auf Warten
der Verräter auf später sogar.
Die dichten Rabatten bestatten
den Falter, das Alter, das Haar.
Und nie sah ich einen Reim so verschwenden und enden
wie Verlieben und Lieben es war.

Elisabeth Borchers

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + ÖM + IMDb +
Archiv 1 & 2Internet Archive + Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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