Alfred Lichtensteins Gedicht „Prophezeiung“

ALFRED LICHTENSTEIN

Prophezeiung

Einmal kommt – ich habe Zeichen –
Sterbesturm aus fernem Norden.
Überall stinkt es nach Leichen.
Es beginnt das große Morden.

Finster wird der Himmelsklumpen,
Sturmtod hebt die Klauentatzen.
Nieder stürzen alle Lumpen.
Mimen bersten. Mädchen platzen.

Polternd fallen Pferdeställe.
Keine Fliege kann sich retten.
Schöne homosexuelle
Männer kullern aus den Betten.

Rissig werden Häuserwände.
Fische faulen in dem Flusse.
Alles nimmt ein ekles Ende.
Krächzend kippen Omnibusse.

1914

 

Konnotation

In seinem Gedichtband Die Dämmerung (1913) hat der Frühexpressionist Alfred Lichtenstein (1889–1914) seinem Jahrhundert und seiner Generation eine finstere Diagnose gestellt: Die Grundstimmung seines Buches ist die einer eschatologischen Erwartung, die Vision eines großen „Sterbesturms“ und des planetarischen „Mordens“, das die Menschheit heimsuchen wird. Die „Prophezeiung“ sollte sich bald darauf erfüllen: Lichtenstein selbst starb schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn als Soldat an der Somme.
Von seinen expressionistischen Dichterkollegen unterscheidet sich Lichtenstein freilich in der Abkühlung des apokalyptischen Pathos durch groteske Szenen und durch einen sarkastischen Humor, der den Schrecken zum ironischen Standphoto gefrieren lässt. Er lässt „Mädchen platzen“ und signalisiert mit einem leichten Schmunzeln, dass im großen Rumor des Untergangs „schöne homosexuelle / Männer“ aus ihren Betten „kullern“. Selbst der schlimmste Schrecken bekommt eine komische Note, wenn man noch unbehelligt aus dem Bett „kullern“ kann.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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