Arnold Stadlers Gedicht „Psalm 126“

ARNOLD STADLER

Psalm 126

Als der Herr der Gefangenschaft
Zions ein Ende setzte,
war alles wie ein Traum.
Wir lachten und jubelten.
Da hieß es bei den anderen Völkern:
Also hat sie ihr Gott doch noch
gerettet.
Ja, er hat uns aufs wunderbarste gerettet.
Überglücklich waren wir.

Ach Herr,
rette uns doch noch einmal, wieder einmal,
so wie du im Negev die Bäche wieder füllst
nach der Trockenzeit.
Wer in Tränen säen muß,
wird unter Jubel die Ernte heimfahren.
Hin unter Tränen, so gesät,
zurück in Jubel:
so bringen sie ihre Garben heim.

nach 1990

aus: Arnold Stadler: Die Menschen lügen: Alle. Und andere Psalmen. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

Die Psalmen, diese Sammlung von geistlichen Liedern und Lobgesängen aus dem Leben der alten Israeliten, gehören nicht nur zur den ältesten Dichtungen der Welt, sie dürfen als das erfolgreichste Lyrik-Projekt der Geschichte gelten. Denn seit zweitausend Jahren versuchen nicht nur fromme Beter, sondern auch avancierte Dichter sich die Texte neu anzueignen und sie in aktualisierenden Übersetzungen anzuverwandeln. Der Romanautor Arnold Stadler (geb. 1954), hat sich über drei Jahrzehnte lang mit den Psalmen beschäftigt und sie in die Sprache unserer modernen Alltagserfahrung übertragen.
Stadler interpretiert den Psalm 126 als ein Lied der Rettung und der Zuversicht. Die Errettung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft stiftet hier ein neues Vertrauen des Beters in seine Beziehung zu Gott. In den kanonischen Übersetzungen wird dieser Psalm als ein Pilgerlied begriffen. Die Pilger, die ihre Reise oft aus Verzweiflung antraten, finden im Blick zurück auf die Vergangenheit, als ihr „Herr“ schon einmal das auserwählte Volk aus der Not befreite, neuen Trost.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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