Christoph Meckels Gedicht „Geschichte“

CHRISTOPH MECKEL

Geschichte

Was denn – kein Weltuntergang seit hundert Jahren!
Die Schiffe verbrannt, die Waffen vergraben
und die Töchter der Könige sind alte Damen.
Lang, lang vorbei – und ich, weit hergekommen
soll hier die Toten auf den Karren laden –

1995/96

aus: Christoph Meckel: Zähne, Carl HanserVerlag, München-Wien 2000

 

Konnotation

Der 1935 geborene Erzähler, Dichter und Grafiker Christoph Meckel hat immer „das Recht zu träumen“ verteidigt: In seinen Texten inszeniert er gerne die fließenden Übergänge zwischen realistischer Beschreibung und halluzinatorischer Imagination. Der Sohn des Schriftstellers Eberhard Meckel, der seinem Vater 1980 das grandiose Romanporträt Suchbild widmete, gilt als „sinnenreicher Phantast“.
Die künstlerische Doppelbegabung Meckel hatte schon 1956, als 21jähriger Debütant, die Tarnkappe des Spätromantikers übergestülpt. Seine späte Dichtung, z.B. im Band Zähne (2000), steht zunehmend im Zeichen von Bedrohung und Vernichtung. Meckels Luftgeschäfte der Poesie (1989/90) suchen immer wieder das Ende der Zeit, stellen Verbindungen her zwischen der „Schöpfung“ und den „Apokalypsen“. So auch in dieser um 1995/96 entstandenen Miniatur, in der ein lyrisches Ich einen Rundblick auf den katastrophischen Verlauf der Geschichte unternimmt. Der „Weltuntergang“ ist vorerst noch vertagt, aber die blutigen Massaker haben nicht aufgehört.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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