Friedrich Hebbels Gedicht „Unsere Zeit“

FRIEDRICH HEBBEL

Unsere Zeit

Es ist die Zeit des stummen Weltgerichts;
In Wasserfluten nicht und nicht in Flammen:
Die Form der Welt bricht in sich selbst zusammen,
Und dämmernd tritt die neue aus dem Nichts.

Der Dichter zeigt im Spiegel des Gedichts,
Wie Tag und Nacht im Morgenrot verschwammen,
Doch wird er nicht beschwören, nicht verdammen,
Der keusche Priester am Altar des Lichts.

Er soll mit reiner Hand des Lebens pflegen,
Und, wie er für des Frühlings erste Blüte
Ein Auge hat, und sie mit Liebe bricht:

So darf er auch des Herbstes letzten Segen
Nicht übersehn, und die zu spät erglühte
Nicht kalt verschmähen, wenn den Kranz er flicht.

1841

 

Konnotation

Diese lyrische Gegenwartsdiagnose steckt voller Beunruhigung. Was Friedrich Hebbel (1813–1863), der Dichter der existenziellen „Dämmerempfindung“, seiner Zeit attestiert, ist die totale Umwälzung aller Formen und Gestalten. Das Rettende ist nur von der Poesie zu erwarten, die als einzige Macht in der Lage ist, die extremen Gegensätze des Daseins zum Ausgleich zu bringen. Dem Dichter wird hier exklusiv die Aufgabe zugeschrieben, nach dem Hereinbrechen des „ Weltgerichts“ die Widersprüche auszubalancieren.
In seinem 1841 entstandenen Sonett findet Hebbel problematische Bilder für die Funktion der Poesie. Der Dichter als „der keusche Priester am Altar des Lichts“ – diese Sakralisierung des Lyrischen erscheint wie ein Nachhall alter kunstreligiöser Ideale. Nicht nur für die Herrlichkeit des Lebens soll der Dichter ein Sensorium besitzen, sondern auch für die Evidenzen der Vergänglichkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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