Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Der Geist des Vaters“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Der Geist des Vaters

An manchen Abenden sitzt er da,
wie früher, leicht gebückt,
summend am Tisch
unter der eisernen Lampe.
Die Tuschfeder schürft
über das Millimeterpapier.
Ruhig zieht sie, unbeirrt,
ihre schwarze Spur.
Manchmal hört er mir zu,
den schneeweißen Kopf geneigt,
lächelt abwesend, zeichnet weiter
an seinem wunderbaren Plan,
den ich nicht begreifen kann,
den er niemals vollenden wird.
Ich höre ihn summen.

um 1995

aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995

 

Konnotation

Die Literaturgeschichte kannte bislang zwei Erscheinungsweisen vom „Geist des Vaters“: In William Shakespeares Hamlet offenbarte dieser Geist die schreckliche Vorgeschichte der eigenen Ermordung und forderte Rache. In der Vorstellungswelt der Bibel dagegen gibt es die begütigende Vorstellung von der Einheit von Vater, Sohn und „Heiligem Geist“. Im 1995 erstmals veröffentlichten Gedicht Hans Magnus Enzensbergers fließen biografische und biblische Motive zusammen.
Es ist das Bild eines alten Mannes, der vollständig versunken ist in die Arbeit des Schreibens. Der alte Mann nutzt altertümliche Schreibwerkzeuge und begleitet seine Arbeit mit einem leisen Summen. Für Zuspruch oder Anreden ist er durchaus empfänglich, aber ist letztlich nur seinem „wunderbaren Plan“ verpflichtet. Alles bleibt offen in diesem schönen Vater-Porträt: autobiografisch gezeichneter Vater? Ist es eine eher transzendental entrückte Instanz, die am großen Schöpfungs-Plan arbeitet? Es ist jedenfalls ein Gedicht, das so leise und zart ist wie „das Summen“, das hier zur Grundmelodie des Verses wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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