Hans-Ulrich Treichels Gedicht „Und wenn ich hinginge…“

HANS-ULRICH TREICHEL

Und wenn ich hinginge
und mich ergäbe die Schuhe
auf das Pflaster stellte das
Hemd mir vom Leibe risse die Füße
mir fesselte und das Gesicht mir
bedeckte und kein Wind fiele
über Dächer und Höfe keine Nacht
löschte die leuchtenden Gärten
und wenn es still bliebe
immer nur still

1985

aus: Hans-Ulrich Treichel: Liebe Not, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1985

 

Konnotation

Leichtigkeit und Ironie gehören zu den bevorzugten lyrischen Mitteln des 1952 in Ostwestfalen geborenen Hans-Ulrich Treichel. Sein lakonisches Sprechen hat er an den Gedichten des späten Brecht geschult, das Leichthändige und die mitunter volksliedhafte Ausgelassenheit von Heine adoptiert. In seinem lyrischen Debüt von 1985 finden sich aber auch noch andere, von der melancholischen Empfindung eines „anderen Zustands“ umwehte Verse.
Die lyrische Reflexion geschieht in der Möglichkeitsform: Alles steht hier unter dem Vorbehalt des Konjunktivs. Ein Augenblick wird imaginiert, da das lyrische Ich die gewohnten Bahnen verlässt und in einen Ausnahmezustand gerät. Ist es ein Gefangener, der sich dem Sieger ergibt, ein frommer Gläubiger, der Buße tut? Hier gerät jedenfalls jemand außer sich – und die Welt verharrt im Stillstand.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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