Hendrik Jacksons Gedicht „Morgens“

HENDRIK JACKSON

Morgens

Kleine Mädchen laufen lustig
über lahmgelegte Straßen, fallen
hin, verletzen sich und ballen
ihre Fäuste; salzig, krustig
schmeckt die Wunde, wird zu Schorf.
Bäcker backen Brote und das Dorf
liegt im Ofenduft, auf manchem Dach
raucht es. Mir ist warm. Ich liege wach.

nach 2000

aus: Laute Verse. Hrsg. v. Thomas Geiger. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2009

 

Konnotation

Der 1971 in Düsseldorf geborene Hendrik Jackson gehört zu den Dichtern, die sich spielend leicht in das freie assoziative Flotieren des Sprach-Bewusstseins einlassen können. Das Schreiben von Gedichten und das Übersetzen werden dort zu äquivalenten Prozessen, an denen der Dichter partizipiert, „sich sprachlicher Verlustierung ein Stück anvertrauend“. Im folgenden Gedicht, das an expressionistische Verfahren erinnert, zitiert Jackson Typus und Haltung einer berühmten Figur der russischen Literatur.
Eine melancholische Stimmung suggeriert der Trochaeus dieser Verse. Welt kommt für den im Warmen Liegenden bloß als fernes Vorstellungs-Echo vor. In seiner Passivität erinnert das Subjekt des Gedichts an einen entfernten Verwandten des Adeligen Oblomow, jenes von Iwan Gontscharow verewigten „überflüssigen Menschen“, der zwar gebildet und wirklichen Idealen verpflichtet ist, der aber dazu verdammt scheint, nichts zu tun, während andere für ihn sorgen. Mit etwas Ironie darf hier auch ein Porträt des Erwerbslyrikers gesehen werden, der sich rein auf Preise und Stipendien verlässt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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