Hugo Balls Gedicht „Schöne Mondfrau, gehst du schlafen“

HUGO BALL

Schöne Mondfrau, gehst du schlafen
Lächelnd und so munter,
Leise mit den Silberschafen
In die Nacht hinunter?

O und du im hellen Kleide,
Liebe Schehrazade,
Spielst du, dass die Nacht nicht leide
Deine Serenade?

Wandermüde, wundertrunken
Komm in meine Ruhe.
Blaue, weiche Sternenfunken
Küssen deine Schuhe.

Sieh, die Nacht ist so lebendig,
Voller Duft und Gnade.
In den Bäumen eigenhändig
Spielt sie sich die Serenade.

1917

 

Konnotation

Der Weg nach oben, auf die Alpe Brussada über dem Maggiatal im Tessin, über 2000 Meter hoch gelegen, war steil und beschwerlich. Er erforderte alle Kräfte der kleinen literarischen Expedition um Hugo Ball (1886–1927), die im Juli 1917, bepackt mit Schreibmaschine und Vorräten für ein paar Wochen, sich in ein abgelegenes Schreib-Refugium zurückziehen wollte. Dort entstand auch das traumversunkene Lied von der „schönen Mondfrau“, das märchenhafte Wesen am Nachthimmel.
Der Dichter, der hier der „Mondfrau“ und der berühmten Märchenerzählerin ein Abendständchen (Serenade) darbringt, hatte sich noch ein Jahr zuvor als Zeremonienmeister des kulturrevolutionären Dadaismus präsentiert. Nun aber singt er in trochäisch-weichen Versen ein wunderbar somnambules und „wundertrunkenes“ Lied über weibliche Märchen-Wesen, die seine phantastisch bebilderte „Nacht“ bevölkern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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