Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Die Ameisen“

JOACHIM RINGELNATZ

Die Ameisen

In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee
Da taten ihnen die Beine weh
Und da verzichteten sie weise
Denn auf den letzten Teil der Reise.

So will man oft und kann doch nicht
Und leistet dann recht gern Verzicht.

1912

 

Konnotation

Dass man mit einer Weltreise oder einer Utopie früh scheitern kann, hat Joachim Ringelnatz (1883–1934), der Kabarettist, Reimkünstler, Seemann und Maler in seinem berühmten lyrischen Report über die hanseatischen Ameisen illustriert. Die in einem Zweizeiler am Ende angefügte Moral des Gedichts erinnert an eine populäre Tierfabel, in der die heiß begehrten Trauben vom Fuchs verschmäht werden – obwohl, bei Lichte besehen, dieser Verzicht von den Umständen erzwungen wird.
Seine ungeheure Popularität in den Jahren des untergehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik verdankte Ringelnatz vor allem diesem Ameisen-Gedicht, das ziemlich am Anfang seines Debütbuchs Die Schnupftabaksdose, (1912) zu finden ist. In den Jahren des heraufziehenden Nationalsozialismus verdunkelte sich nicht nur seine künstlerische Situation, sondern auch die Tonlage seiner Gedichte, Schlägertruppen der Nazis stürmten seine Veranstaltungen, Ringelnatz wurde Auftrittsverbot erteilt, und völlig verarmt starb er an Tuberkulose.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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