Sarah Kirschs Gedicht „Weltrand“

SARAH KIRSCH

Weltrand

Die abgeschlagenen Köpfe der Kühe
Schweben im Nebel über den Wiesen
Wenn der gehörnte Pfarrer am Abend
Mit roten Augen im Torfstich umherirrt.
Die letzten Vögel des Sommers reden
Mit vernünftigen menschlichen Stimmen
Es gilt Abschied zu nehmen von allen
Vertrauten Blumen und Blättern.
Halb steht die Sonne über dem
Wald halb ist sie unter.

nach 1983

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt. München 2005

 

Konnotation

Wen es an den „Weltrand“ verschlagen hat, in einen einsamen Winkel fern der urbanen Routinen, der muss mit der Wirkmacht halluzinatorischer Phantasien rechnen. Wenn hier die Sicherheiten der Tagwelt verloren gehen, kehren die Dämonen zurück. So wie bei der Landschaftsdichterin Sarah Kirsch (geb. 1935), die seit 1983 in dem entlegenen Dorfflecken Tielenhemme in Schleswig-Holstein lebt.
Natur ist in diesem 1984 erstmals veröffentlichten Gedicht kein begütigendes Refugium mehr, in dem man Zuflucht finden kann vor den Zumutungen der postindustriellen Gesellschaften, sondern ein von bedrohlichen Gestalten und Fratzen bevölkertes Schreckensterritorium. Der Sommer steht vor dem Abschied – und schon beim Abschied von Licht und Helligkeit tauchen im Nebel Irrläufer auf, komische Boten des Wahnsinns. Der Sonnenstand zeigt an, dass die Zuversicht des Sommers untergeht und die Zeit der bedrohlichen Visionen anbricht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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