Wilhelm Klemms Gedicht „Philosophie“

WILHELM KLEMM

Philosophie

Wir wissen nicht was das Licht ist
Noch was der Äther und seine Schwingungen –
Wir verstehen das Wachstum nicht
Und die Wahlverwandtschaften der Stoffe.

Fremd ist uns, was die Sterne bedeuten
Und der Feiergang der Zeit.
Die Untiefen der Seele begreifen wir nicht
Noch die Fratzen, unter denen sich die Völker vernichten.

Unbekannt bleibt uns das Gehen und Kommen.
Wir wissen nicht, was Gott ist!
Oh Pflanzenwesen im Dickicht der Rätsel
Deiner Wunder größtes ist die Hoffnung!

nach 1915

aus: Wilhelm Klemm: Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. H.-J. Ortheil. Carl Hanser Verlag, München 1968

 

Konnotation

Im Gegensatz zu seinen pathetisch gestimmten Kollegen des literarischen Expressionismus bevorzugte der promovierte Mediziner und Dichter Wilhelm Klemm (1881–1968) nach seinen spektakulären Kriegsgedichten von 1915 den kühldistanzierten Gegenwartsbefund. Bis zu seinem Verstummen 1922 veröffentlichte er in rascher Folge Gedichte, die sich immer weiter von den Gefühlserregungen der Expressionisten entfernten und in nüchternen Versen die geistige Situation der Zeit umkreisten.
Klemms weltanschauliche Indifferenz im Blick auf die letzten Dinge hat das Publikum stark irritiert. Der Dichter stellt in diesem Gedicht den Erkenntnisbemühungen der Philosophie ein schlechtes Zeugnis aus: Denn selbst die vermeintlich naturwissenschaftlichen Fakten über die Materie, über Licht und Luft sind genauso philosophische Rätsel geblieben wie die „Untiefen der Seele“. In den beiden Schluss-Versen folgt dann eine recht überraschende Wendung in die Zuversicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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