Sprache, nichtssagend 

Höchste Sprachkunst und tiefste Sprachskepsis schliessen sich wechselseitig nicht aus; bisweilen haben sie gemeinsame Gründe, bedingen sich sogar.
Je weiter die Sprachbeherrschung reicht, desto klarer stellt sich heraus, dass Sprache letztlich nicht beherrschbar, vielmehr, umgekehrt, dass sie beherrschend ist; und auch, dass sie nichts Anfängliches, Begründendes, Selbstwertiges hat, sondern stets hinterher kommt, um zu besagen, was schon gedacht, schon gemacht, schon gegeben ist. − Die vermeintliche Macht der Sprache ist, nach einem späten Diktum Samuel Becketts (Compagnie, 1980), nichts anderes als deren Krise: „Allein kann sich bewahrheiten ein mindester Teil dessen, was gesagt wird.“ Jacques Lacan, Niklas Luhmann, andere mehr halten sprachliche Kommunikation für illusorisch.
Das reine, abstrakte, von Dingen und Gedanken abgehobene Sagen, das keinen Gegenstand kennt, sich selbst genügt, kann nur als unreines verlauten, als ein Stammeln, Lallen, als Seufzer oder Schrei.
Oder die Gedanken und Dinge bleiben namenlos und unbesprochen, sind selbstredend kraft ihres Schweigens. Usf.
Von daher könnte als das schönste und wahrhaftigste Gedicht dieses oder jenes leere Blatt gelten: Es spräche für sich, allein dadurch, dass es da oder dort ist, sprachlos sich darbietet, Dingsymbol der mystischen Negation: Da steht nichts, weil es ohnehin und generell unmöglich wäre, alles oder auch bloss – oder gar – das Wesentliche zu sagen; und weniger als dies (demnach alles, das Wesentliche) zu sagen, wird stets zu wenig gewesen sein.
„… echt ist nur“, vermerkt Gottfried Benn in einem Privatbrief vom Mai 1946, „wer völlig sich versagt u. schweigt … alles spätere ist schon bon mot u. Wiener Walzer.“
Mallarmé, Hofmannsthal, Artaud, Beckett, Marina Zwetajewa haben Ähnliches notiert, dringlicher noch als Benn; doch alle haben sie, Benn mit eingeschlossen, unentwegt weitergeschrieben. So als wären sie tatsächlich die Urheber ihrer Dichtwerke.

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Ein einziger unter den „klassischen“ Modernen, der russische Autor Wassilisk Gnedow, hat für das Dilemma eine plausible Lösung erarbeitet und sie auch öffentlich dargeboten: Bei einer Performance in Petersburg, 1913, zelebrierte er eine Lesung, bei der kein Wort gesprochen, kein Gedicht vorgetragen wurde − Gnedow beschränkte sich darauf, seine Hand zu heben, sie langsam in der Horizontalen hin und her zu bewegen, um in der Luft die imaginierten Zeilen anzudeuten und gleichzeitig die Schreib- und die Lesebewegung nachzuahmen − kontinuierlich von links nach rechts und dann mit abruptem Sprung von rechts nach links und so fort.
Kein anderer Dichter hat die Sprachskepsis jemals so weit getrieben, buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr, und keiner hat die Nachträglichkeit und Vergeblichkeit menschlicher Rede in Worten jemals eindrücklicher vergegenwärtigt.

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„Ein Buch möchte ich noch fertig machen“, habe Edmund Husserl, sterbend, zu seiner Nachtschwester gesagt: „Das sollte mir vergönnt sein.“ – Der Wunsch nimmt sich plausibel aus angesichts der Tatsache, dass der Philosoph eine Vielzahl von Büchern konzipiert, in Teilen auch geschrieben, nie jedoch ein Buch, sein Buch fertiggestellt, statt dessen aber Zehntausende von unveröffentlichten Manuskriptseiten und -zetteln hinterlassen hat. Die meisten dieser Fragmente sind nach seinem Tod ordentlich „verbucht“ worden, doch die geplante integrale Abhandlung zum Verhältnis von Sprache und Anschauung, von Sprachwelt und Lebenswelt, von Begriff und Ding hat der Autor nie zum Abschluss gebracht: Entstanden ist, statt der erwünschten Monographie, eine gewaltige postume Bibliothek des Diversen.
Der letzte Wunsch Edmund Husserls soll sich auf sein Forschungs- und Lebensprojekt bezogen haben, durch Reduktionen unterschiedlicher Art „zu den Dingen selbst“ zurückzugelangen: Es sollte, so das weltzugewandte Postulat, Schluss gemacht werden mit words but words, um den Blick, das Schauen zu den Dingen hin mit wiedergefundener Authentizität zu ermöglichen. Der inhärente Hinderungsgrund dürfte darin bestanden haben, dass mit sprachlichen Mitteln die Dingwelt vor der begrifflichen oder metaphorischen Verdunkelung und Verunklärung gerettet werden sollte: Austreibung der Sprache durch Rhetorik sozusagen.

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Ein weiteres, nun wohl allerletztes Wort, rapportiert von Husserls Witwe, scheint den Wunsch durch ein Wunder ersetzen zu sollen; es lautet: „Ich habe etwas ganz Wunderbares gesehen. Nein, ich kann es dir nicht sagen. Nein!“
Das Wunderbare dürfte in diesem Fall das Gewöhnlichste gewesen sein, die Umwelt, die Lebenswelt als solche, unverstellt von Begriffen, Propositionen, Phrasen. Der Sterbende hatte einfach nur – für einen Philosophen schwierig genug! – wahrgenommen, was in jenem Moment, jetzt und hier, vorhanden war: Nicht also eine Vision des Wunderbaren, vielmehr das je Vorhandene, das kraft seiner unverstellten Wahrnehmung zum Wunderbaren mutiert.
Auf dem Sterbebett, so ist anzunehmen, hatte Husserl eine ultimative sinnliche Wahrnehmung, die ihm zur Wahrheit gerann, die er aber – wie zuvor schon immer – in Worten nicht adäquat festzuhalten vermochte. Und da er’s nicht vermochte, wollte er es offenbar auch nicht: „Nein!“
Damit scheiterte er an der Crux so mancher Sprachskeptiker und Sprachkritiker vor ihm: Sagen zu wollen und nicht sagen zu können, was Sache ist; sagen zu sollen, dass nichts sich adäquat besagen lässt, dabei jedoch keine andere Alternative zu haben als das Schweigen und … aber im Schweigen die hellwache Anschauung. – Ludwig Wittgensteins diesbezügliches Diktum, wonach geschwiegen werden solle, worüber nicht gesprochen werden könne, resümiert das Dilemma. Allerdings hatte Wittgenstein dabei das transitive Sprechen im Sinn, das Besprechen, Besagen. Am Dichter bleibt’s, auch und gerade dort weiterzusprechen, wo es nichts Bündiges mehr zu sagen gibt. Dichterische Rede ist ein Sagen, das dem Besagen vorgreift, es überbietet.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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