Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Topographie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Topographie“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Topographie

Ich bin eine bunte
Topographie.

Blaue und rote Fahnen
auf weißem Grund

markieren die Hügel
wo aller Widerstand

der rebellischen Heere
deinem Durchbruch erlag

und meine Soldaten
zum Feind desertierten.

 

Im Juni 1952

kapitulierte Hilde Domin unter dem seelischen Druck. Wie ein waidwundes Tier suchte sie in der Abgeschiedenheit der Berge von Haiti nicht nur Zuflucht, sondern mobilisierte neuen Kampfgeist. Denn ihre Ehe war auf Kampf ausgerichtet.
Hilde Domin greift in „Topographie“ auf die Terminologie der Kriegsführung zurück und unterstrich auch in ihren Briefen mit Bildern der Kampfsprache die Misere ihrer Ehe. Wie soll mir nicht der Mut sinken wenn Du mich für Deinen Erfolg verantwortlich machst. Da bin ich wie ein kleiner Soldat mit einem Maschinengewehr der einen Hügel gegen eine Armee halten soll: du sagst, „Wenn Dir nur einer meiner verhassten Feinde entkommt, so will ich Dich kreuzigen.“ Wie soll der kleine Soldat da Kampfgeist haben?
Im Rückblick erschien es ihr kaum mehr erstaunlich, dass Erwin Walter Palms Fahnenwechsel sich zu einem Zeitpunkt vollzog, an dem sie gerade sehr darniederlag, schutzbedüiftig und nicht schutzverheissend – selbst 1960 noch verarbeitete Hilde Domin ihre traumatisierenden Erfahrungen jener Zeit auch in ihrem autobiografischen Roman Das Zweite Paradies.
Die körperlichen Spuren ihrer Auseinandersetzung mit Erwin Walter Palm, die ihren Körper brandmarkten, ließen sich in Haiti diesmal nicht mehr als topographie amoureuse schönreden. In dieser prekären Lage wählte sie die französische Sprache nicht nur, weil es Haitis Landessprache war. Immer schon hatte sich Hilde Domin auf die elegante Diplomatensprache besonnen, wenn sie Unsagbares benennen sollte. Ihr Französisch war nicht fehlerlos, doch poetisch: Cette petite marquée qu’ont laissée sur mon dos tes caressse de se dernier matin un peu languissant (ce que j’ai appelé autre fois ,topographie amoureuse‘ et ce qui m’a consolé un peu quelques fois même en ville en me convaincant ce que je n’avait pas eu une rêve solitaire) cette petite marquée de tes dents n’y en plus, il y a beaucoup de jours et je suis toute blanche. [Dieser kleine Abdruck deiner Liebkosungen dieses letzten mit (ein bisschen) Sehnsucht gefüllten Morgens auf meinem Rücken (was ich bei anderer Gelegenheit „Topografie der Verliebtheit“ genannt habe und das mir sogar manches Mal in der Stadt das beruhigende Gefühl gegeben hat, keineswegs nur einfach geträumt zu haben), dieser kleine Abdruck deiner Zähne ist verschwunden, es ist ja auch schon einige Tage her und meine Haut ist ganz weiß.], schrieb sie Erwin Walter Palm in den Tagen um ihren 43. Geburtstag. Weit weg von ihm. Emotional und räumlich.
„Kenscoff Hotel Chatelet des Fleurs, 5.000 feet above sea level in cool Kenscoff, is only 35 leisure minutes from Portau-Prince through charming country side by well paved road.“ Der Briefkopf des Hotels versprach ein tröstliches Refugium, doch Hilde Domin konnte der Sinn nicht nach Freizeitvergnügen gestanden haben. Sie hätte mit ihrer Flucht nach Haiti die Entfremdung zwischen sich und ihrem Mann nicht deutlicher markieren können. Santo Domingo – Haiti: Inselbrüder, die trotz räumlicher Nähe wenig gemeinsam haben. Hat doch selbst die Natur „eine scharfe, gezackte Linie, […] wie mit einem Messer quer über die Insel gezogen. Die Bürger der Dominikanischen Republik und die dort lebenden Haitianer sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell getrennt: Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, kleiden sich unterschiedlich, nehmen andere Nahrungsmittel zu sich und sehen im Durchschnitt auch verschieden aus“.
Und so nimmt auch die Flagge der Dominikanischen Republik die unterschiedliche Topographie und die wechselvolle Geschichte der Insel Hispaniola in ihren Farben auf, die sich die ungleichen Brüder immer wieder teilten. Farben, die von Unterdrückung und Befreiung, vom Aufbegehren und Kämpfen, vom Unterliegen und Siegen zeugen. Der dominikanische Freiheitskämpfer Juan Pablo Duarte unterstützte die Befreiung Santo Domingos vom Joch Haitis mit seiner geheimen revolutionären Gesellschaft „La Trinitaria“. Und dennoch nahm er die haitianische Flagge zum Vorbild für sein dominikanisches Freiheitsbanner – so wie auch schon der schwarzhäutige haitianische General Jean-Jacques Dessaline, der Haiti aus der Herrschaft der Franzosen geführt hatte, vor ihm die französische Flagge nur wenig abgewandelt hatte. Der Trikolore fehlte lediglich das unschuldige Weiß, nachdem man sich der französischen Herrschaft entledigt hatte. Dessaline beließ Rot und Blau, doch legte er die Farben waagrecht.
Duarte brachte später über diese rot-blauen Streifen das weiße Kreuz des Ordens der Dreieinigkeit auf und legte den Symbolcharakter der Farben fest: Rot stand für das vergossene Blut seines Volkes, Blau für die grenzenlose Freiheit, Weiß für die Opfer der Zivilbevölkerung während des Freiheitskampfes.
Am 6. November 1844 wurden schließlich die blauen und roten Rechtecke am fliegenden Ende der Fahne ausgewechselt, das weiße Kreuz durchgezogen. Die Flagge erhielt damit ihr heutiges Aussehen und vermittelt den Eindruck von roten und blauen Rechtecken auf weißem Grund:

Blaue und rote Fahnen
auf weißem Grund
markieren die Hügel

Rot für das Blut, Blau für die Freiheit, Weiß für das persönliche Opfer – die Vielfalt der Emotionen Hilde Domins korrespondierte mit diesen Farben. Mit allen verfügbaren rebellischen Kräften hatte sie sich nach Haiti zurückgezogen, wo hohe Hügel die Trennung vom Inselbruder markieren und Rückzugsmöglichkeiten garantieren. Und doch gab Hilde Domin ihren Widerstand auf und unterwarf sich einmal mehr den immer gleichen Spielregeln, die seit Beginn ihrer Beziehung Bestand hatten: Sie machte sich Erwin Walter Palm bewusst zum Gegner, um sich ihm zu unterwerfen. Ihr Glücksgefühl nährte sich aus beidem: diesem Gegner zu widerstreben und ihm dann zu unterliegen.

wo aller Widerstand
der rebellischen Heere
deinem Durchbruch erlag.

In Haiti ergab sich Hilde Domin Erwin Walter Palms Bitten um Vergebung. Der Widerstand gärte ein Leben lang.

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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