Olav H. Hauge: Gesammelte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Olav H. Hauge: Gesammelte Gedichte

Hauge-Gesammelte Gedichte

LEGENDE VON DER ERDE

Hier was Kleines, das behende
durch die Welt getragen wurde,
ward geflüstert, ward gesponnen,
alt und grau zuletzt, Legende.

Wißt ihr nicht, daß unser Herrgott
liebt, den Fünferstein zu spielen?
Ist er abends müde, macht er
seinen Tisch frei, streckt er flott die

Hand aus und ergreift fünf blanke
Sterne aus der Himmelswölbung,
macht den Einsatz, wirft sie, nimmt sie,
spielt mit ihnen in Gedanken.

Ist er endlich müd vom Spielen,
setzt er sie in ihre Bahnen,
kreisen selig nun und klarer,
als sie ihm zuvor gefielen.

So ward eines nachts behende,
was die Winde flüstern, Sterne
blinken, manche Weise, wissen,
alt und grau zuletzt, Legende.

Müd von Alltagssorgen klaubte
er den Tisch frei, griff auf gut Glück
ein paar Sterne – einen, den die
andern fürchten, der nicht glaubte.

Dieser Stern zog ganz willkürlich,
prall und vollgefüllt war er mit
Sprengstoff, keinen andern duldend,
leicht entflammbar, hoch gefährlich.

Zitterten in Gottes Fingern
als er spielte – warf! Sah den
wilden Stern zerreißen, springen,
Asche sprühen, Scherben klingen!

Gott gewöhnt an irres Toben,
strich sich aus dem Bart den Zunder,
blies den Staub vom Tisch, die Scherben,
holt sich neuen Stein von oben.

Hier was Kleines, das behende
durch die Welt getragen wurde,
ward geflüstert, ward gesponnen,
alt und grau zuletzt, Legende.

 

 

 

Zu Hauges Sprache

Akzeptiere die Sprache so, wie sie die Alten gebrauchten, es liegt so viel Einsicht und Erfahrung darin, daß es keiner besser machen kann. Es gab größere Dichter als dich unter denen, die sie schufen.

Diese Ansicht schrieb Hauge 1959 nieder, in seiner gesamten Verfasserschaft hielt er daran fest. Er kommt in seinem Tagebuch immer wieder darauf zu sprechen, beleuchtet und bekräftigt seinen Standpunkt von verschiedenen Seiten, denn in dieser Sache möchte er keine Mißverständnisse. Nicht um Nostalgie und Altertümelei ging es ihm., sondern darum, aus dem langerprobten Besten seine Verse zu bilden, ganz im Sinne der Poetologie des Horaz:

Auf eine Verssprache werde ich zielen, die ich aus Altbekanntem neu schaffe…

In der Sprache eines Volkes sieht Hauge mehr als nur Laut- und Wortmaterial.

Sie ist Erbe, Tradition, das stärkste Element, das ein Volk verbindet. In der Sprache sind das Erbe und die Kultur versammelt. Darum gilt es, sie rein zu halten.

Nachdem Norwegen Anfang des 19. Jahrhunderts seine politische Eigenständigkeit erworben hatte, entwickelte sich die Sprache lebhaft: Fünfhundert Jahre hatte Dänemark über Norwegen geherrscht. Die Sprache der städtischen Oberschicht und der Literatur war Dänisch. Der Drang zur eigenen Nation drückte sich auch im Drang zur eigenen Sprache aus. Ivar Aasen (1813–1896), Lehrer und Autodidakt, entwickelte aufgrund umfangreicher Untersuchungen der in West- und Südnorwegen gesprochenen Dialekte eine normierte Sprache, Landsmål, später Nynorsk genannt. Sein Ziel war, eine norwegische Schriftsprache zu schaffen, die über die Dialekte bis auf das Altnordische zurückgeführt werden konnte. Die Nähe des Nynorsk zum Isländischen und Faröischen ist größer als die zum Dänischen. Aber auch der Einfluß des Niederdeutschen, das während der Blütezeit der Hanse Verkehrssprache im Nord- und Ostseeraum war, ist an zahlreichen Lehnworten erkennbar.
Diese Schriftsprache hat sich jedoch als allgemeine in Norwegen nicht durchsetzen können. Das Abflauen der nationalen Begeisterung, die Schwierigkeiten und der Variantenreichtum dieser von vielen als archaisch oder bäurisch empfundenen Sprache, die Auffassung, sie sei als moderne Verkehrssprache ungeeignet, beförderten eine Gegenbewegung, die die Anpassung des Dänischen an die Sprachgewohnheiten der Norweger vornahm, woraus sich die vorherrschende Schriftsprache entwickelte, zunächst Riksmål, dann Bokmål genannt.
Beide Sprachen existieren auch heute noch nebeneinander, die Verfechter beider Lager konkurrieren nach wie vor, ein Ende des Sprachenstreits ist nicht in Sicht. Einer Annäherung oder Angleichung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf ein Samnorsk (Gesamtnorwegisch) hin folgte eine allmähliche Distanzierung und stärkere Besinnung auf die jeweilige Eigenart. Es gab zwischen 1907 und 1981 sechs Sprachreformen. Tatsächlich hat sich Bokmål gegenüber Nynorsk weiter durchgesetzt. Nynorsk wird heute noch von etwa 10–12% der Bevölkerung gebraucht, vor allem im Westland. In der Umgangssprache spielen, unabhängig von der Wahl der Schriftsprache, wegen der dünnen Besiedlung und der großen räumlichen Distanz zwischen besiedelten Gebieten Dialekte die größte Rolle.
Hauge schrieb auf Nynorsk, also in einer Schriftsprache, nicht im Dialekt (mit Ausnahme eines einzigen Gedichtes). Wenn er sich an der Sprache der ländlichen Bevölkerung – der Bauern, Handwerker, Fischer – orientierte, dann nicht, um sie nachzuahmen und so zu volkstümeln, sondern um der Einfachheit, der Lebendigkeit, dem Erfahrungs- und Bilderreichtum dieser Sprache willen, der Möglichkeit, in ihr Komplexes in wenigen geschliffenen Worten darstellen zu können.

Noch so viel Belesenheit macht nichts aus einem Menschen. Du kannst Leute treffen, die nie gelesen haben, doch über ihre Reife und Weisheit wunderst du dich.

Dennoch:

Sprache, das heißt nicht, darauf zu lauschen, wie der Pöbel sie gebraucht, sondern die Meister.

„Ein Meister der Sprache“, schreibt Hauge 1986 im Tagebuch, „greift sowohl zurück als auch voraus; er gräbt alte Schätze aus und schafft neue für die, die nach ihm kommen.“ Verliert man diese Haltung beim Lesen seiner Gedichte nicht aus dem Sinn, wird man das bisweilen archaisch, entlegen Anmutende einzelner Worte und Wendungen, das ich auch in der Übersetzung zu bewahren versucht habe, angemessen verstehen.
Konsequent hielt Hauge an den orthographischen Regeln der Rechtschreibreform von 1917 fest. Die später folgenden Reformen, die eine Annäherung an die Phonetik und Schreibweise des Riksmål vorsahen, lehnte er strikt ab. Für ihn führten sie zu Sprachverwässerung und Zerstörung einer alten und dennoch lebendigen Kultur; er fand, die alte Rechtschreibung habe etwas Aristokratisches und – hier vergleicht er sie mit der Tradition der englischen Rechtschreibung – sie sei „schön fürs Auge“. Würde im Englischen oder Isländischen zu einer Rechtschreibung nach rein phonetischen Gesichtspunkten übergegangen, würden sie „ihre Macht und ihren Adel verlieren“.
„Brich hier und da einen Stein aus einer Mauer – es führt dazu, daß die ganze Mauer einstürzt. Das ist es, was dem Nynorsk in unserer Zeit widerfahren ist.“ Der Schaden, der angerichtet worden sei, könne nicht mehr behoben werden, schreibt er gegen Ende seines Lebens resigniert. „Ja, wenn ich der letzte sein soll, der auf Nynorsk schreibt, dann werde ich es tun. So habe ich immer gedacht.“

Klaus Anders, Nachwort, März 2012

Ein Nachwort

Der norwegische Lyriker Olav H. Hauge lebte von 1908 bis 1994, seine Lebenszeit erstreckte sich nahezu über das ganze 20. Jahrhundert. Hauge wuchs in der Land- und Gartenbaugemeinde Ulvik auf, die im Westland liegt, an einem der äußersten Zipfel des Hardangerfjords.
Leben und Landschaft um diesen großen und weitverzweigten Fjord nehmen in der norwegischen Kunst und Literatur einen wichtigen Raum ein, besonders in der national-romantischen Tradition seit dem frühen 19. Jahrhundert. Als eine der nationalen Ikonen gilt das Gemälde „Hochzeit in Hardanger“ (1848) von Adolph Tidemand und Hans Gude, das die gewaltige Berg- und Fjordnatur zeigt, ein Boot in der Tradition der Wikingerbauweise, die Stabkirche auf einer Landzunge am Fjord, das Brautpaar und die Gäste in traditioneller Bauernfesttracht und den Spielmann, der die spezielle Fiedel der Volksmusik, die Hardingfiedel, traktiert. In der Literatur wurde diese Landschaft von dem Romantiker Johan S. Welhaven in dem Gedicht „Bergens Stift“ (1838) in weiter Perspektive geschildert, näher und mehr intim in dem Gedicht „Hardanger“ (1844) von seinem Zeitgenossen Henrik Wergeland, der als Norwegens größter Dichter angesehen wird. Musikalisch hatte die Landschaft Hardanger eine große Bedeutung für den Nationalkomponisten Edvard Grieg, mehr noch für den in Hardanger beheimateten Geirr Tveitt.
In der Geschichtsschreibung wie auch in der Schönen Literatur wurden die Hardangerer oft als ein strebsamer, rationalistischer Menschenschlag dargestellt, dem soziale Gegensätze und psychische Probleme nicht unbekannt waren. Von großer und zentraler Bedeutung war in dieser Hinsicht Hans E. Kinck als Autor zahlreicher Novellen und Romane.
Zu der Zeit, als Hauge aufwuchs, war die Gemeinde Ulvik auf dem Weg in die Moderne. Der Obstbau war hoch entwickelt, die ortsansässige Gartenbauschule Hjeltnes eine bedeutende Institution. In den Landkreisen Ulvik und Voss war die Arbeit an der Bergensbane, der Eisenbahnlinie zwischen Oslo und Bergen, in vollem Gang, ebenso der Ausbau von Wasserkraftwerken im Gebirge und die Entwicklung der Metallindustrie, besonders am Fjordarm Sørfjorden, wo die Industriestädte Odda und Tyssedal expandierten.
Hauge gehörte zur ersten Generation von Schulkindern im südwestlichen Teil Norwegens, die die alternative Schriftsprache Nynorsk (Neu-Norwegisch) lernten. Sie baut – im Gegensatz zum norwegischen Riksmål (Reichssprache) mit seiner Verbindung zum Dänischen und der „höheren“ Umgangssprache der großen Städte – auf den dortigen Dialekten auf. Ulvik hatte schon früh eine gut bestückte Volksbibliothek, und Hauge war bereits als Junge mit dem Bibliothekar befreundet, der ihn beriet und ihm sowohl die norwegische und nordische Literatur als auch die Belletristik anderer Länder näherbrachte, und der ihn mit Zeitschriften und Zeitungen bekannt machte. Hauge lernte früh Englisch und etwas Deutsch auf der Mittelschule (entspricht der heutigen Ungdomsskule, „Jugendschule“) seines Heimatortes; englische Bücher bekam er von Edmund Hakestad, seinem in Amerika lebenden Onkel mütterlicherseits. So erwarb er gute Kenntnisse der norwegischen und dänischen Literatur, aber auch der englischen, letztere zum Teil in der Originalsprache. Die norwegische Tradition des 19. Jahrhunderts war ihm wichtig, vor allem die Lyrik, vorneweg Wergeland. Aber auch die entstehende Dichtung auf Nynorsk, die sich aus der Arbeit des Sprachgründers und Dichters Ivar Aasens entwickelte, interessierte ihn sehr.
Die Mittelschule war für Hauge das, was einer formellen akademischen Ausbildung am nächsten kam. Er besuchte danach die Gartenbauschule und arbeitete als Gärtner in den Obstplantagen in Ulvik, unter anderem auf dem Hof der Pfarrei – und dort gab es Bücher. Lesen und Bücher waren das Wichtigste in seinem Leben. Er entwickelte seine Sprachkenntnisse weiter und brachte sich selbst Französisch bei. Meist knapp bei Kasse, schaffte er sich nach und nach eine eigene Bibliothek an, die Belletristik, literarische Essayistik, biografische Literatur, Literaturwissenschaft und -geschichte, Philosophie und religionskundliche Werke enthielt. Außer Büchern in den skandinavischen Sprachen fanden sich auch Werke auf Englisch, Deutsch und Französisch.
Hauge war oft krank und befand sich mehrere Male in stationärer psychiatrischer Behandlung. Er wohnte fast sein ganzes Leben lang im Ausgedinge seiner Eltern, nach ihrem Tod allein als Junggeselle, bis Bodil Cappelen in sein Leben trat und 1975 bei ihm einzog. Da war er 67 Jahre alt. Wenige Jahre später heirateten die beiden. Jahrelang hatte er auf Obstplantagen in der Gemeinde gearbeitet, später auf seiner eigenen, die er von den Eltern übernommen hatte.
Einen frühen Anschub in Richtung Modernismus erhielt die norwegische Lyrik durch den Dichter Sigbjørn Obstfelder, der in seinem kurzen Leben mit einem schmalen, intensiven Werk ein wichtiges Zeitzeichen setzte. Insgesamt war die Lyrik Norwegens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu den Nachbarländern Schweden und Dänemark und vor allem zu einer Gruppe schwedischsprachiger Autoren in Finnland eher traditionell ausgerichtet. Eine Verwandtschaft zu diesen „finnlandschwedischen Modernisten“ entstand in Norwegen in der originellen und bedeutenden expressionistischen Lyrik Kristofer Uppdals, besonders zwischen 1915 und 1925. Uppdal wurde später einer demjenigen, die für Hauge in der norwegischen Lyrik zuoberst standen.
Der junge Hauge aber begann traditionell und romantisch. Zusätzlich zu norwegischen erkennt man bei ihm deutliche Einflüsse der englischen Romantik. In dem langen strophischen Gedicht „Gesang an den Sturm“ (gedruckt 1946) findet man eine enge Verwandschaft zu Shelleys „Ode to the West Wind“ und zu Gedichten Tennysons. Und im folgenden Band huldigt er Shelley als seinem „Jugend-Sänger“ (min ungdoms-skald) in einem schönen romantischen Sonett. Nicht zuletzt in Sonetten hielt Hauge sein ganzes Dichterleben lang an einem eigenen Verhältnis zur europäischen Tradition fest. Er kannte die italienische Form des Sonetts, zumindest die Petrarcas, doch ansonsten stand ihm die englische Lyrik auch hier nahe, ebenso wie der französische Symbolismus und der frühe Modernismus.
Bald schon wurde es auch für ihn selbstverständlich, sich in einer mehr modernistischen Formsprache auszudrücken. Das Gedicht „Fluß jenseits des Fjords“ (1956) gibt ein gutes Beispiel. Der Fluß, der die steile Bergseite hinabstürzt, zeigt anthropomorphe Züge, ein menschliches Schicksal, denn er

… fällt
in beklemmenden Traum,
bringt kein Wort vor,
keinen Laut…

Diese Änderung in der Formsprache ist an vielen Stellen sichtbar, gut illustriert durch das Gedicht, das den Band Auf Adlers Höhe (1961) einleitet. Sein erster Abschnitt ist harmonisierend, romantisch, „traumblaue Gipfel spiegeln sich“, während die Worte im zweiten von Lebenskampf und Streit künden:

Felsschranke
gegen Tags
verheerende Feuer.

Diese Beispiele zeigen die besondere Art der Naturdarstellung bei Hauge. Mal um Mal werden Naturphänomene fachlich korrekt präsentiert, wobei sie aber gleichzeitig menschliche Züge, Situationen oder Umstände zeigen. Hier sei „Unter dem Bergsturz“ hervorgehoben, ein frühes Gedicht dieser Art. Es kombiniert die Darstellung eines Naturphänomens – des Bergsturzes (also eines Überhangs), die Gefahr eines Felsrutsches – mit der Reflexion menschlicher Umstände und Verhaltensweisen, und zwar des Menschen konkret in der Natur und gleichzeitig des Menschen allgemein.
Oft kommt eine ganzheitliche Sicht Hauges in seinen Gedichten zum Ausdruck. Er war in vieler Hinsicht Autodidakt, und er verhielt sich zur Tradition und zu menschlichen Handlungen seiner Zeit nach eigenen Überlegungen. Der engen Bindung an die Natur seiner Umgebung entsprach sein Verhältnis zur Volksdichtung und zu anderen Traditionen seiner Heimat, zu den literarischen Traditionen Europas, aber auch zur asiatischen Lyrik, vor allem der klassischen chinesischen und dem japanischen Haiku. Darüber hinaus befaßte er sich mit östlichen Religionen, vor allem mit dem Zen-Buddhisnms.
Hauge zeigt eine selbstverständlich wirkende Einfühlung, gleich ob er nordischer und westlicher Tradition oder ferneren Kulturen begegnet. Er spricht geradezu direkt mit oder von den alten Chinesen, wie es in den Gedichten „Sage von Ch’ü- Yüan“, „An Li-Po“ (beide 1961), oder „T’ao Ch’ien“ (1971) zum Ausdruck kommt, und nicht zuletzt gibt auch das Poetik-Gedicht „Alltag“ (1966) Kunde davon:

Nach der Arbeit kannst du Speck braten
und chinesische Verse lesen.
Der alte Laertes schnitt Heckenrosen
und grub um Feigenbäume
und ließ die Helden kämpfen vor Troja.

Einer der ergreifendsten Texte, der auf der klassischen europäischen Tradition beruht, ist „Akestes“. Das Subjekt des Gedichts identifiziert sich mit der Situation des alten Helden aus der „Aeneis“, der keine Wahl hat: das Ziel ist fort, dennoch muß er den Pfeil abschießen. Dies ist sein existentieller Zustand, er kann ihm nicht entfliehen, egal was geschieht.
Eine solche Identifikation, auch mit Gestalten aus der altnordischen Tradition, kann man zum Beispiel in dem Gedicht „Ogmund reitet heim“ finden, das sich auf wenige knappe Worte in der altnordischen „Saga von Håkon Håkonsson“ (ca. 1260) gründet. Ein Mann aus Hauges Gemeinde zog auf jahrelanger Reise zunächst nördlich um Norwegen herum, dann durch das weite Rußland bis nach Jerusalem, um schließlich von dort durch Mitteleuropa wieder nach Hause zu gelangen. Hauges „Bildungsroman“ in elf Zeilen handelt von dieser Reise und nicht zuletzt von dem Verlangen, wieder nach Hause zu finden. Vor Jericho trugen sie Eschenspeere „aus Sponheim“, einem Hofgut in Ulvik, und auf dem Heimweg rinnen Ogmund die Tränen, als er die „Haube am Vassfjøro“ sieht, dem Berg seiner Heimat mit dem schneebedeckten gerundeten Gipfel, der an die Schleifenhaube der Frauen in der Hardanger Tracht erinnert.
Oft haben solche Gedichte, die interartistisch in Zusammenhang stehen mit anderer Dichtung oder Kunst, deutliche Züge einer Poetik. Neben „Alltag“ ist „Ich hab drei Gedichte“ ein treffliches Beispiel. Hier begegnet der Leser Emily (Dickinson), die Gedichte schreibt, während sie Tee zubereitet, ohne sich darum zu scheren, wie fähig sie als Dichterin ist. So war ihr tägliches Leben, so war Hauges Arbeitsalltag mit Erde und Holz und Obstbau – und zuweilen mit dem Schaffen von Dichtung. Das Gedicht endet:

Ein gutes Gedicht
soll riechen – nach Tee
oder nach roher Erde und frischgespaltenem Holz.

„Alltag“ zeigt das Verhältnis von Gartenarbeit und literarischer Betätigung in der Praxis, in „Vers“ verknüpft er das Dichten mit anderen Handarbeiten, der eines Bauern, eines Schmieds und eines Tischlers, und in „Tu einem anderen den Gefallen“ ist der Kern des Gedichts eine Anekdote, erzählt von einem Mann aus dem Dorf. In anderen Fällen können es Bilder aus der umgebenden Natur sein, die dominieren, z.B. der Vergleich in „Gesang, tritt leicht auf mein Herz“, wenn er schreibt: „wie Vögel auf nachtfrisches Eis“, oder geradezu Identifikation in „Heute spürte ich“, wo „die Vögel zwitscherten“ und „die Sonne stand heiter“ als der Poet „ein gutes Gedicht“ geschrieben hatte.
Ein Gedicht wie „Vers“ z.B. hat auch einen humorigen Zug. Humor finden wir in Hauges Dichtung an so manchen Stellen, nicht zuletzt „Im Parkerfüller“, wo der freie Platz auf Rechnungen und Formularen als Schreibpapier genutzt wird. Ansonsten ist sein Humor oft verknüpft mit dem Volks- und Gemeindeleben, z.B. in einer Fabel wie „Krähe“; er kann auch in Ironie übergehen, als Selbstironie oder als Kommentar zu größeren und kleineren Ereignissen.
Eine tiefere Ironie liegt in dem Sonett „Korea“, wenn die Soldaten, die als Knochenreste auf dem Schlachtfeld liegen, „Frieden haben“, während die Verhandlungen zur Beendigung des Krieges etwas anderes meinen, einen berechneten, politischen „Frieden“, ausgedacht „im kalten Hirn von Staatenlenkern“. Durch Hauges ganze Verfasserschaft hindurch ergreifen Gedichte gegen Waffen und Krieg das Wort, konkrete Erinnerungen an den 2. Weltkrieg, unter anderem in dem kleinen Gedicht „Aus Kriegstagen“, am häufigsten in den Bänden von 1966 und 1971, als der Vietnamkrieg so viele aufrüttelte. Schon der Titel eines Gedichts des Nordamerikaners Robert Bly, das Hauge ins Norwegische übertragen hat, spricht eine deutliche Sprache: „Unterwegs in Minnesota während der Bombardierung von Hanoi“ („Driving through Minnesota during the Hanoi Bombings“), ebenso der Titel eines sehr kurzen Gedichts von Hauge, der gleichzeitig einen höchst zentralen Teil des Gedichts stellt:

DEZEMBERMOND

Er verbirgt den Stahl
in einer Scheide aus Silber.
Blut an der Klinge.

In seiner knappen Form erinnert das Gedicht an ein japanisches Haiku. Es hat drei Zeilen, die verhältnismäßig prägnante rhythmische Einheiten bilden. Im Gegensatz zum Haiku hat es eine Überschrift, aber wir müssen die Überschrift berücksichtigen, wenn wir die Forderung des Haiku vor Augen haben, die Jahreszeit zu benennen. Daß der Mond dabei ist, paßt; der Mond ist zentral in der japanischen Bildersprache.
Es geht hier um eine Gedichtform, die die Fähigkeit des Lesers erfordert, mit seinen Assoziationen dem Gedicht zu folgen: Stahl konnotiert eine Waffe, vielleicht gar ein Messer, die Scheide ebenso, und daß die Scheide aus Silber ist, knüpft eine Verbindung zum silberfarbenen Mond und seine gekrümmte Form während des Zu- oder Abnehmens, wenn der Stahl krumm wie ein Schwert oder Dolch ist, und das Blut an der Klinge verweist darauf, daß die Waffe vor kurzem gebraucht wurde. Und „vor kurzem“ will sagen Dezember 1969, also mitten im grauenvollen Vietnamkrieg, der damals nicht so bald an sein Ende zu kommen schien. Diesem Gedicht stellte Hauge ein anderes vom selben Typus bei, „Neujahr 1970“. Diese Gedichte sind oft in Zusammenhang gesehen worden und haben bei den Lesern großes Interesse geweckt, vor allem bei der Jugend.
Nicht oft kommt Hauge dem Haiku so nahe wie hier, aber seine Entwicklung als Dichter zeigt uns viele lange, manchmal epische Gedichte in seinem Debütband, später überwiegen die kurzen. Am häufigsten finden wir diese Gruppe von teils sehr kurzen Gedichten in dem Band Tropfen im Ostwind von 1966. Hauges Kurzgedichte werden aus gutem Grund mit dem anglo-amerikanischen Imagismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts verglichen. Doch nach 1965 trat besonders das Verhältnis zur östlichen Poesie hervor. Hauge hat in verschiedenen Zusammenhängen sein Interesse an chinesischer und japanischer Tradition ausgedrückt. In den 60er Jahren gab es Übersetzungen in skandinavische Sprachen, und in Norwegen erschienen zwei wichtige Bücher mit Übersetzungen des jungen Lyrikers Paal-Helge Haugen. Es waren Blätter aus einem östlichen Garten. 100 Haiku-Gedichte (1965) und Chinesische Lyrik (1966). Der Bezug „ost/östlich“ findet sich in Titeln bei Haugen wie auch bei Hauge, und so war es nicht verwunderlich, daß bei vielen Lesern Assoziationen zur östlichen Dichtung aufkamen wenn auch Hauge selbst zunächst näherliegende Erklärungen zum Titel seines Bandes abgab: Im Westland regnet es bei Ostwind nur sehr selten; daher sind bei solchem Wind manchmal schon wenige Tropfen willkommen.
Zusätzlich zu den entsprechende Assoziationen weckenden Form vieler Gedichte kann auf eine motivische Verwandtschaft zu den alten östlichen Formen verwiesen werden, auf Naturmotive wie Mond, Wolken, Berge, Fluß, Baum, Garten, Früchte usw. ebenso wie auf von Menschen hergestellte Gegenstände, vor allem Werkzeuge für die Handarbeit: Axt, Säge, Sense, Messer, Nagel, Hobel und jede Art von Gerätschaft für den Umgang mit Pferden; in geringerem Grad auch moderne, lärmende Maschinen. Allen Arten von Waffen und Waffengebrauch stand er wie gesagt kritisch gegenüber, sowohl dem Schwert als auch neueren Waffen. Eine Ausnahme macht er beim lautlosen Pfeil. Der Hauge-Kenner Hadle Oftedal Andersen hat in seinem Essay „Der Bogenschütze“ auf interessante Weise Gedichte über das Bogenschießen in Verbindung zur zen-buddhistischen und Haiku-Tradition gesetzt, ebenso wie zur klassischen chinesischen Lyrik. Er zeigt, daß für die Japaner das Bogenschießen eine Übung sein kann, sich in Lehre und Praxis des Zen-Buddhismus einzufinden.
Daher ist das Gedicht „Vieler Jahre Erfahrung mit Pfeil und Bogen“ nicht notwendigerweise ein etwas humoristisches Spielgedicht, denn das Verhältnis zwischen dem Subjekt Schütze und dem Objekt Pfeil ändert sich in ein gleichwertiges Verhältnis zwischen zwei Subjekten; der Pfeil spricht, und der Schütze versteht.
Ein Verhältnis zwischen zwei Subjekten erwarten wir auch in Liebesgedichten zu finden, aber diese sucht man lange vergeblich bei Olav H. Hauge, es gibt derer gleichsam nur potentielle. „Treffen“ (1956) hat zwei Subjekte, aber es kommt nicht zu einem eigentlichen Gespräch, und es sieht aus, als sei es der „Fehler“ des Liebenden, daß er kein Zutrauen vermitteln oder sich nicht so geben kann, daß das Interesse der Geliebten geweckt wird. Erst als es zu spät ist, bemerkt er, daß sie doch interessiert war und ein Rettungsseil nach ihm ausgeworfen hatte. Noch schlimmer geht es in „Am Meeresstrand“ (1961) aus, wo gar kein Kontakt zustandekommt; „sie“ und gleichsam die ganze Natur „wandte dir dunkelnd den Rücken zu“. Nach den 60er Jahren kam er mehr unter die Leute und hielt Lesungen, und 1970 lernte er endlich eine Frau kennen und zog fünf Jahre später mit ihr zusammen. In den damals entstandenen Bänden finden wir Gedichte wie „Es kam ein Brief“ und „Schlaf“. Das letztere ist nahezu das moderne norwegische Gedicht über die Metamorphose, die der Liebesakt vollbringen kann. „Mohn“ ist ganz anders, ein eher streitbares und fragendes Liebesgedicht: Eine Veränderung ist auch hier vorgegangen, und das Resultat ist ungeklärt und gespannt.
Leben und Schwingung kann der alternde Poet auch auf andere Weise schaffen. Er verehrt einen rätselhaften Modernisten wie Paul Celan, und er fordert den Gleichgültigen in ein Engagement: „Wie lang hast du geschlafen?“
Ein Gedicht wie „Das Flußtal hinauf“ kann uns an Trauer und Verlust erinnern, die es oft in Hauges früheren Büchern gab, auf jeden Fall vor 1961. Hier ist das Subjekt unterwegs, ein steiles Flußtal hinauf, ein frisches Lied auf den Lippen, ihm entgegen die Brise des hinabstürzenden Flusses. Es schmilzt und „weint“ von kleinen Eisfeldern und erinnert an Trauer, doch die Trauer ist in ihr aktives Gegenteil verwandelt, in eine „Quelle der Kraft“. Es klingt – typisch für Hauge – wie ein Sprichwort oder ein Lehrsatz. Eine Weisheit, die sich auch in dem schönen Identifikationsgedicht „Ich raste unter der alten Eiche an einem Regentag“ ausdrückt. Ein alter, ehrwürdiger Baum und ein älterer Dichter, der sich unter ihren Ästen sicher und mit diesem Baum verwandt fühlt, eine Eiche, die vielleicht schon einige hundert Jahre lebt. Sie wissen beide wie es ist: „Die Welt ist alt, denken wir, / und wir altern beide.“

*

Hauge veröffentlichte auch einen Band mit Gedichten für Kinder zu den Buchstaben des Alphabets. Diese Gedichte schrieb er zu Illustrationen seiner Ehefrau, Bodil Cappelen; das Buch erhielt den Titel ABC, ist also ein erstes Lesebuch für Schulkinder. Viele dieser Gedichte sind von hoher Qualität, sie wurden aber nicht in die norwegische Ausgabe der Gesammelten Gedichte aufgenommen. Zusätzlich zu seinen sieben Gedichtbänden trat Hauge als Übersetzer von Lyrik hervor, er übersetzte nahezu sein ganzes Leben lang aus den Fremdsprachen, die er gelernt hatte. Aus den anderen skandinavischen Sprachen wollte er nicht übersetzen. Er meinte – und so ist es tatsächlich – daß Norweger Dänisch und Schwedisch ebenso gut lesen könnten wie ihre eigene Sprache, wenn sie nur wollten.
Einen Teil seiner Übersetzungen aus dem Englischen, unter anderem Sonette von Shakespeare, die er in jungen Jahren gemacht hatte, wollte er nicht wieder gedruckt sehen, ansonsten sind seine Übersetzungen in dem Band Dikt i omsetjing (Gedichte in Übersetzungen) versammelt, der immer wieder neu aufgelegt wurde, vielleicht sogar so oft wie seine Gesammelten Gedichte.
Nicht unerwartet begann er mit Gedichten der Romantik, dem Deutschen Friedrich Hölderlin und dem Engländer William Blake. Es folgten Alfred Tennyson und Robert Browning, bevor er sich Sonette der wichtigsten französischen Symbolisten vornahm, Paul Verlaine, Stephane Mallarmé und Arthur Rimbaud. Später kamen englische, amerikanische und deutsche Imagisten und Expressionisten hinzu, mit dem Österreicher Georg Trakl als herausragendem Namen. Auch Bertolt Brecht nimmt einen breiten Raum bei Hauge ein, später der Nordamerikaner Robert Bly, der durch seine Herkunft eine Verbindung zu Norwegen und Hardanger hat. Dem Französischen näherte er sich erneut in Gedichten von Francis Ponge, Henri Michaux und René Char. Er übersetzte einige Gedichte von Sylvia Plath und zuletzt wieder zwei deutschsprachige Dichter, Johannes Bobrowski und Paul Celan. Von Celan waren es ganze 32 Gedichte, dennoch schrieb er in seinen Notizen, „seine Gedichte zu übersetzen ist wohl unmöglich, man muß sie auf Deutsch lesen.“ Hauges Übersetzungen sind ein bemerkenswerter und wichtiger Beitrag zu der ins Norwegische übersetzten Lyrik.
Nach Hauges Tod wurde bekannt, daß er seit seinem 15. Lebensjahr Tagebuch geführt hatte. Das Tagebuch wurde in fünf Bänden mit insgesamt nahezu 4000 Seiten unter dem Titel Dagbok 1924- 1994 herausgegeben. Es geht in ihnen um Alltagsfragen, um Befindlichkeiten und Gedanken des Verfassers, Mißgestimmtheit, Krankheit und Freude, aber zumeist um Literatur, auch Philosophie und Religion. Am interessantesten sind sie, wenn er über Autoren und Literatur schreibt. Wir treffen auf dieselben Namen wie in den Übersetzungen, doch darüber hinaus auf viele andere. Vor allem begegnen wir Hauge als einem großen Leser, nicht nur von Lyrik, sondern auch von Romanen, Biografien und – besonders literarischer – Essayistik. Wir finden Gedichtentwürfe und z.T. fertige Gedichte oder nur Notizen oder Sätze, die später zu Bestandteilen von Gedichten wurden.
Die Tagebücher sind in einer teils sehr guten und prägnanten Prosa geschrieben. Nachdem Salvatore Quasimodo den Nobelpreis bekommen hatte, las Hauge im Herbst 1959 den großen Italiener auf Schwedisch. Die norwegische Kritik war zu dieser Zeit weitgehend skeptisch gegenüber dem lyrischen Modernismus. Doch Hauge hatte seine eigene Auffassung von Modernismus und Quasimodo und blickte auf beide in einem Tagebuchabschnitt vom 26. Oktober 1959. Er steht hier am Schluß als Beispiel dafür, wie Hauges Prosa sein kann, wenn sie vom Besten ist:

Ein modernistisches Gedicht. Das Thema. Ein Thema. Aber schau, wie es gesprengt wird, in Zusammenhang gebracht wird zu allem was geschieht. Das beste Beispiel, das ich kenne, ist Quasimodos „Mag sein das Herz“. Schau, wie das Thema gesprengt wird und wie vorsichtig er sich ihm nähert! Und wie er sich in den Kern hineinsprengt, aber da ist kein Kern, er löst sich auf und wird ein Spiel im Spiel und ist dennoch da, als ein Echo, als ein Hauch, als eine ermattete Vogelschwinge, als Ringe auf dem Wasser. Ein Gedicht auf die alte Art, doch eine schönere, schwungvollere Weise, in den Stoff einzudringen, Vertiefung, Klänge, Spiel, Bild, kurz gesagt Komposition – Gedicht. Subtile Kunst.

Idar Stegane, Nachwort
(Aus dem Norwegischen von Klaus Anders)

 

Olav H. Hauge (1908–1984)

war einer der bedeutensten Dichter Norwegens. Er verbracht sein Leben als Gärtner in der Land- und Gartenbaugemeinde Ulvik, am äußersten Zipfel des Hardangerfjords. Diese atemberaubende Landschaft ist eine bedeutende Thematik in seiner Lyrik, aber Hauge war vor allem auch sehr belesen, und so formen Einflüsse aus der Poesie der ganzen Welt seine Verse mit. Zwar hatte er keine akademische Ausbildung, aber er beherrschte Englisch, Deutsch und Französisch und übersetzte unter anderem Lyrik aus diesen Sprachen. Themen und Figuren aus anderen Traditionen interessieren ihn ebenso wie die Sagen seiner Heimat. Klaus Anders hat den Dichter über viele Jahre übersetzt, die Witwe Hauges, Bodil Cappelen, eine Künstlerin, die spät ins Leben von Hauge trat, hat ihn und das Projekt tatkräftig unterstützt. Da dieser Band das Gesamtwerk präsentiert, kann man auch die Entwicklung der Poesie im 20. Jahrhundert anhand eines uns noch unbekannten großen Dichters noch einmal nachvollziehen.

Edition Rugerup, Ankündigung

Olav H. Hauge (1908–1994)

gilt heute unbestritten als einer der bedeutendsten norwegischen Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde in Ulvik geboren, einer kleinen Gemeinde am Hardangerfjord, Westnorwegen, wo er sein ganzes Leben verbrachte. Hauges Lyrik weist einen weiten Formenreichtum auf. Weder verwarf er die literarische Tradition, noch sperrte er sich gegen das Neue. Verwurzelt ist diese Dichtung in der bäuerlichen Kultur seiner Heimat, deren einfache, bildreiche Sprache er pflegte.
Hauge trat auch als Übersetzer hervor, aus dem Deutschen übersetzte er vor allem Hölderlin, Trakl, Brecht und Celan. Das Tagebuch, posthum erschienen, das der Dichter 70 Jahre lang führte, könnte man das Tagebuch eines eifrigen Lesers nennen. Es umfaßt in 5 Bänden mehr als 4000 Seiten und wird von manchen Kritikern – obwohl Hauge nicht an eine Veröffentlichung dachte – als sein Hauptwerk betrachtet.
Gedichte von Hauge wurden in bislang über 100 Sprachen übersetzt, Auswahlbände erschienen in verschiedenen europäischen Ländern und in den USA, aber auch in China. Die deutsche Ausgabe der Gesammelten Gedichte ist die erste vollständige Übersetzung von Hauges lyrischem Werk.

Edition Rugerup, Klappentext, 2012

 

Für den deutschsprachigen Leser

zu entdecken ist endlich auch der Lyriker Olav H. Hauge. Hauge kannte jeden Grashalm seiner norwegischen Heimat, er bedichtete das Borstgras ebenso wie den Goldhahn, einen Fichtenwald oder einen einfachen Hauklotz. Nichts Geringes unter der Sonne, alles konnte dem 1908 in Ulvik Geborenen, der so sehr in der bäuerlichen Kultur seiner Heimat verwurzelt war, im Dichten bedeutsam sein. Aber Hauge übersetzte auch: Hölderlin, Trakl, Brecht und Celan ins Norwegische. Und er wusste: „Ein gutes Gedicht / soll riechen – nach Tee / oder nach roher Erde und frischgespaltenem Holz.“ Es mutet ein wenig seltsam an, dass viele norwegische Kritiker das 4000 Seiten umfassende Tagebuch des Dichters als sein Hauptwerk betrachten. Denn immerhin ist auch Hauges Poesie in über 100 Sprachen übersetzt und wird gelesen. Die 340 Seiten starke, von Klaus Anders in der Edition Rugerup (Gesammelte Gedichte, 2012) herausgegebene, übersetzte und kommentierte Auswahl schliesst da nur eine Lücke, von der man bislang nur nicht wusste, dass es sie gab. Weit ist Hauges poetischer Kosmos:

Frage den Wind,
voran den sachten.
Er schweift weit
und kommt oft zurück
mit guter Antwort.

Volker Sielaff, Dresdner Neueste Nachrichten, 8.10.2012

Asche, Erde, frisches Holz

− Norwegischer Sänger der Elemente: Gesammelte Gedichte von Olav H. Hauge. −

In Dichterforen feiert er seine ewige Wiederkehr, der Streit zwischen verständlicher und unverständlicher Lyrik. Man könnte ihn mit einem Buchtitel des polnischen Poeten Tadeusz Rozewicz kommentieren: „Letztendlich ist die verständliche Lyrik unverständlich“. Oder die Debatten toben lassen und zu den Gedichten des Norwegers Olav H. Hauge greifen. Hauge, 1908 in Ulvik am Hardangerfjord geboren und 1994 dort gestorben, bewegt sich jenseits solcher Positionen.
In seinen Gedichten bezieht Hauge sich häufig auf die Mythen der „Edda“. „Die Tradition“, so vermerkt er in seinem Tagebuch, „ist ein starker Fluss, der die Baumstämme vieler tragen kann. Es nützt nichts, das Holz auf der eigenen Pisse zu flößen, es kommt nicht weit.“ Aber Hauge sah auch, dass Formen sich erschöpfen. Er las viel (Quasimodo, Guillevic, Whitman, Hardy), übersetzte (Hölderlin, Trakl, Brecht und Celan), und obwohl er abgeschieden lebte, war er mit den geistigen Strömungen seiner Zeit vertraut. Was er an der modernen Lyrik nicht mochte, war ihre Hybris. Hauge störte es, dass das moderne Gedicht mit Bildern überfrachtet war. Witzigerweise rief er in seinem Tagebuch ausgerechnet Aristoteles als Kronzeugen zu Hilfe, der davor gewarnt hatte, zu groß zu bauen, denn „eine Stadt soll nicht größer sein, als man von einem Hügelrücken aus überblicken kann“. Er zog daraus den Schluss: „Vereinfache, versuche den Kern zu fassen, es konkret zu machen.“
Bei Hauge lassen Sensen, Sackwagen, Aschekästen, Föhren, Tiergräber oder bebende Dielen den Augenblick leuchten. Der Dingdichter Hauge ist da in seiner Konkretheit oft verblüffend modern. Eine Referenz an die Dichterin Emily Dickinson endet bei ihm mit dem Credo: „Ein gutes Gedicht / soll riechen – nach Tee / oder nach roher Erde und frischgespaltenem Holz.“ Den Ekstatiker in sich unterdrückte er. Hauge wusste genau: „Die Geister zu wecken ist gefährlich, das habe ich viele Male erfahren.“ Viermal wurde er in die Psychiatrie eingewiesen. Dass er eingesperrt und gefesselt war, machte ihm indes nichts aus. In diesen Jahren, so Hauge, habe er „wirklich ein Geistesleben geführt“.
Hauges Poesie ist stark verknüpft mit seinen Alltagserfahrungen. Er war eines von sieben Kindern, drei starben früh, oft war er krank. Dann zog er sich in sich selbst zurück. Irgendwann begann er zu dichten und mit 16 Tagebuch zu schreiben. Im Laufe seines Lebens wuchs es auf 4000 Seiten an, und 2000 erschien es unter dem Titel Dagbok 1924 – 1994 in Norwegen. Manche halten es für sein Hauptwerk. Aber Hauge war Dichter. Und er war, als typischer Einzelgänger, entsprechend sensibel für alles, was um ihn herum geschah. Zwar blieb er ohne Schulabschluss, aber weil er etwas arbeiten musste, meldete sein Vater ihn zu einem Lehrgang in der örtlichen Gartenbauschule an. Bis er über 70 war, lebte Hauge vom Obstbau: In einem Film des norwegischen Fernsehens sieht man ihn still zwischen Apfelbäumen umhergehen.
1946 war, fast unbeachtet, sein erster Gedichtband erschienen. Erst Ende der 60er Jahre, mit kurzen, Natur und Handarbeit feiernden Gedichten, wurde er einem größeren Publikum bekannt. Die Einflüsse der fernöstlichen Poesie auf sein Schreiben nahmen zu. Das Bild des Pfeiles kommt in mehreren Gedichten vor, um gute Schützen geht es gleichermaßen wie um gute Äpfel. Man müsse, heißt es einmal, immer ein wenig danebenzielen, mit Abstand und Wind rechnen. Hauges Gedichte werden kürzer und intensiver, und 1966 erscheint der Band Tropfen im Ostwind. Die Kritik zieht Parallelen zum anglo-amerikanischen Imagismus. Aber auch China und Japan interessierten ihn:

Lies Lu Chi und schreib ein Gedicht.
Er sagt nicht, wie es werden soll.
Viele haben vor ihm eine Eiche gemalt.
Trotzdem malte Munch eine Eiche.

Hat einer was zu sagen, findet es schon seine Form, glaubte Hauge. Über Whitman und Lawrence notierte er:

Diejenigen Dichter arbeiteten am besten, die nicht so viel über Formfragen grübelten, sie sind erfüllt von dem Leben um sie herum, sahen etwas und hatten immer etwas zu schreiben. Das Leben schwächte sie nicht, es war immer neu zu nehmen.

Spät im Leben fand er sein Glück mit einem anderen Menschen. Die Künstlerin Bodil Cappelen hatte ihm, entzückt von seinen Gedichten, einen Brief geschrieben. Hauge war 67 Jahre alt. Wenige Jahre später heirateten die beiden, gaben sogar ein illustriertes ABC mit Versen für Kinder heraus. Mit Bodil Cappelen, die heute seinen Nachlass verwaltet, nahm er sogar Einladungen zu Lesungen an. Die in der Edition Rugerup von Klaus Anders herausgegebene, übersetzte und kommentierte Auswahl aus Hauges Werk schließt eine Lücke in der deutschen Rezeption europäischer Gegenwartslyrik. Und wer weiß, vielleicht wagt sich ja demnächst auch ein deutschsprachiger Verlag an Hauges fulminante Tagebücher.

Volker Sielaff, Der Tagesspiegel, 21.12.2012

Wohin der Traum reicht, gelangt kein Fuß

− Der norwegische Dichter Olav H. Hauge. −

2008 wurde in Norwegen der 100. Geburtstag von Olav H. Hauge gefeiert. Er gilt als einer der bedeutendsten norwegischen Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gedichte von ihm wurden inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt, jüngst ins Mandarin und das Koreanische, 1986 erstmalig ins Deutsche von Andreas Struve.
Olav Håkonsson Hauge starb 1994, 86 Jahre alt, in Ulvik, einem Dorf an einem der Ausläufer des Hardangerfjords, ca. 150 km Luftlinie östlich von Bergen, dessen Bewohner hauptsächlich von Obstbau und Fremdenverkehr leben. Der Anbau von Äpfeln, Birnen, Pflaumen und Kirschen soll durch britische Mönche im 13. Jahrhundert eingeführt worden sein. Die Region Hardanger liefert heute 40% des in Norwegen geernteten Obstes.
Hauge, der sein ganzes Leben in Ulvik wohnte, Sohn eines Bauern und Vorarbeiters bei der Eisenbahn, hatte die Mittelschule besucht, kam aber wegen Kränklichkeit und „weil ich nicht rechnen konnte“ nicht aufs Gymnasium, lernte stattdessen Gärtner und bestritt nach dem Tod seines Vaters bis über sein 70. Jahr hinaus seinen Lebensunterhalt aus den Erlösen, die seine kleine Obstplantage einbrachte. Mit Literatur hatte er sich seit seiner Jugend beschäftigt, schrieb Gedichte, hatte sich als Autodidakt zunächst Englisch, später Französisch, Deutsch und Altnordisch (Norrøn) beigebracht, Sprachen, aus denen er auch übersetzte. Mit 16 begann er, ein Tagebuch zu führen – seinen letzten Eintrag schrieb er mit 86, eine Woche vor seinem Tod. Unterbrochen wurden die Aufzeichnungen nur in den Jahren seines ersten Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik (Diagnose: Schizophrenie) von 1934 bis 1937 und während des Krieges von 1939 bis 1944.
1946 veröffentlichte O.H. Hauge seinen ersten Gedichtband Glut in der Asche; im Abstand von jeweils etwa 5 Jahren folgten 6 weitere Bände. Man ist versucht, zwischen dem Zeitpunkt des Erscheinens seiner Gedichtbände und stationären Aufenthalten in der Psychiatrie einen Zusammenhang zu sehen, denn nicht gerade exakt, aber doch zeitnah genug um aufzufallen, mußte Hauge eingewiesen werden, meist mit Zwang. Jedoch wurden die Aufenthalte von Mal zu Mal kürzer, seine letzte psychotische Episode, 1966, verlebte er zu Haus, betreut von seinem ältesten Bruder.
Das lyrische Werk Hauges umfaßt etwa 450 Gedichte, der Band Übersetzungen 209 Gedichte, davon etwa die Hälfte aus dem Deutschen, vor allem von Hölderlin, Trakl, Brecht, Celan. Seine umfangreichste Arbeit ist das Tagebuch, das er wohl nicht im Hinblick auf spätere Veröffentlichung schrieb: fünf gewichtige Bände, insgesamt über 4000 Seiten, einzigartig in der nordischen Literatur. Es wurde von Hauges Witwe, Bodil Cappelen, gegen den Widerstand der Verwandtschaft Hauges zur Veröffentlichung freigegeben und erschien im Jahr 2000. Das Erscheinen des Tagebuchs löste bei manchen eine nicht geringe Erschütterung aus.
Hauge war, als er starb, ein in Skandinavien bekannter Dichter. Seine Bekanntheit und Beliebtheit hatte seit den sechziger Jahren stets zugenommen. Er galt als ein Dichter, der, an der romantischen und symbolistischen Tradition anknüpfend, zunächst Gedichte in traditionellen Formen schrieb, wovon er sich später mehr und mehr löste, von Metrum und Reim in den meisten Gedichten absah, in Wortwahl, Bildern und Stoffen immer einfacher, nüchterner, kantiger wurde, und, ermuntert von jungen Dichterkollegen (die ihn in den sechziger und siebziger Jahren für sich entdeckten und sich bemühten, ihn bekannter zu machen), sich – wie es schien – auch vom metaphysischen Grund seiner früheren Gedichte freimachte und Verse schrieb, die nicht auf etwas verwiesen, was jenseits dessen lag, was sie benannten, Dinggedichte zumal. Das glaubten zumindest einige der jungen Dichter. Hauge galt als der weise Arbeitsmann aus Hardanger, der seinen Obstgarten bestellte und darüber hinaus Gedichte schrieb, die so einfach waren wie die Äpfel in seinem Garten, nicht irgend welche Bauern- und Heimatlyrik, sondern Poesie auf der Höhe des Geschmacks der Zeit.
Hauges Haltung gegenüber diesem Zeitgeschmack war, das zeigen die Gedichte selbst, weisen aber vor allem die Tagebücher nach, schwankend und zwiespältig. Einerseits räumt er ein, die alten Formen und Weisen hätten sich verschlissen, andererseits ist er den neuen gegenüber skeptisch und schreibt, durchaus selbstironisch:

ALTER DICHTER ÜB TSICH ALS MODERNIST

Er trug sich mit dem Gedanken,
diese neuen Stelzen zu probieren.
Er hat sich aufgerichtet
und stakst vorsichtig wie ein Storch.
Wunderlich wie weit er sehen kann.
Er zählt sogar die Schafe beim Nachbarn.

Die späteren Gedichte verschweigen mehr als sie aussprechen. Hauge hat sowohl von der altnordischen Dichtung als auch von den alten chinesischen und japanischen Dichtern, z.B. Basho, gelernt: Willst du einen Fisch vorführen, mußt du ihn nicht aus dem Teich ziehen; es genügt auf die Flosse zu weisen, die den Wasserspiegel streift.
Die Tagebücher Hauges räumten mit dem Bild des einfachen Arbeitsmanns und Weisen auf. Zutage trat das Bild eines komplexen Geistes, eines – unsystematisch, ganz den jeweiligen Anstößen folgend – sehr belesenen Mannes, der es geschafft hatte, mit widrigen Lebensumständen fertig zu werden, seiner Krankheit, seiner mühevollen Arbeit, der mangelnden Zeit für das Dichten und Lesen, dem jahrzehntelangen Alleinleben (er heiratete erst mit 70), eines Mannes, für den Geist das Bewegende und der Grund der Welt war. Über den Dichter Olav Nygard (1884-1924) schrieb er, was für ihn selbst auch galt: „Für Nygard ist Geist die einzige Realität, die Materie ist bloß Manifestation von Geist.“
Nicht nur Hauges tägliches Leben mit seinen Plagen und manchmal auch Wehwehchen zeigen die Tagebücher, sie dokumentieren seine weitgespannte Lektüre (die Bücher ließ er sich paketweise schicken, oder er unternahm Fahrten nach Voss und Bergen oder Oslo, um Bücher einzukaufen), sein Hadern mit den verschiedenen Sprach- und Rechtschreibreformen in Norwegen, gegen die er sich scharf verwahrt, und in denen er vor allem eine Verwässerung der Sprache und die Vernichtung der Erfahrungen der Alten sieht, seine Bewunderung vieler junger Dichter, die er später oft nicht mehr so großartig findet oder nie wieder erwähnt; und er äußert sich an verschiedenen Stellen detailliert darüber, wie er seinen „Wahnsinn“ erlebte.
Das in einer frischen, einfachen und unmittelbaren Sprache, widersprüchlich, manchmal erstaunt seine Naivität, dann wieder seine tiefe Einsicht, die er in Aphorismen aufleuchten läßt. In einem Leserbrief an die norwegische Wochenzeitung Dag og Tid berichtet ein Mann von seiner Begegnung mit Hauges Tagebüchern: Er habe nicht mehr aufhören können zu lesen, in jeder freien Minute habe er darüber gesessen, selbst auf den Nachtschlaf verzichtet. Seine Frau habe sich gesorgt um ihn, er wollte kaum noch essen und habe, als er alle fünf Bände gelesen hatte, ein paar Kilo weniger gewogen.
Tomas Tranströmer schrieb in einem Brief an Robert Bly, Übersetzer von Gedichten Hauges ins Amerikanische, am 8. April 1976: „Hast du ein Gedicht übersetzt, das ,Gullhanen‘ heißt? Es gab mir den besten poetischen Schock seit vielen Monaten. (Aber es ist ein Sonett…)“

DER GOLDHAHN [GULLHANEN]

Und ich war lange tot. Tot im Gehäus,
sang wie ein goldner Hahn in Miklagard.
Ich lebte unter – hörte Lärm, Gescharr
und widerstand; hohl tönt der Sold-Seele Preis.

Bis mich der Traum wachstieß in heller Nacht,
die Hülle fiel, und mit dem Glanz wars aus:
Bin in der Tür daheim. Tief schläft das Haus.
Das Kinderherz schlägt wieder froh und hart.

Die Hand am Türgriff zu den Eltern steh, −
Seh wie der Mond auf blanken Boden scheint.
Du warst so lange? kommt es, ohne Wort.

Dahinter schwang den Klöppel schwer das Weh.
Dann ließ der Traum mich los. In Gold geschreint
Für ihn, den Kaiser, sang und schwor ich fort.

Das Ich des Gedichts lebt im Innern eines aus Gold geschmiedeten Hahns und singt für den Kaiser. Dieses Dasein ist im ersten Halbvers des ersten Quartetts charakterisiert: Und ich war lange tot. Hauge verweist in seinem Tagebuch auf die Edda (mit deren Texten er vertraut war), und zwar auf die neunte Strophe der Vegtamskviđa, in der die Völva oder Wala, die Seherin, Odins Wecklied, um sie wegen Baldurs bösen Träumen zu befragen, erwidert: dauđ var ek lenge.

Welcher der Männer,     mir unbewußter,
Schafft die Beschwere mir     solchen Gangs?
Schnee beschneite mich,     Regen beschlug mich,
Tau beträufte mich,     tot war ich lange.

(„Simrock“)

Das Totsein ist kein bloßes Leblossein, es ist ein Dasein „unter“, wie es im dritten Vers von Gullhanen heißt. In der Unterwelt, der Hel, dem Totenreich (das nicht mit der christlichen Hölle als Ort der Bestrafung zu tun hat) weit im Norden, lebt einer der drei Hähne, die in der Völuspá genannt sind:

Unter der Erde     singt ein anderer,
Der schwarzrote Hahn     in den Sälen Hels.

(„Simrock“)

Einen dritten Hinweis auf Hel finden wir in den Versen aus Skírnismál, die Hauge seiner Gedichtsammlung Auf Adlers Höhe (1961) als Motto voransetzt. Es sind die Worte der Verbannung, die der für seinen Herrn um die Riesentochter Gerđr werbende Skírnis ihr zuruft:

Auf Adlers Höhe früh     sollst du sitzen
schaun von der Welt weg     gewandt zu Hel.

Die Erwähnung der Unterwelt, Hel, ist bedeutsam. Für Hauge koexistieren zwei Welten: die eine ist die der Vernunft, des Tages, des Oben, die andere ist das Reich des Traums, des Geistes, des Wahnsinns, es ist die Anderwelt, die für Hauge stets eine ebenso starke, zuweilen stärkere Wirklichkeit besitzt. Beide Welten stehen nicht abgegrenzt gegeneinander, sie berühren und durchdringen sich, keine ist im Verhältnis zur anderen durchgängig positiv oder negativ bewertet, in beiden offenbart sich der Geist.
In der zweiten Strophe erwacht das Ich in den Traum hinein. Es kehrt zurück in das Haus seiner Kindheit, begegnet seinen Eltern, wortlos das ganze Ereignis, nur der Kummer, die Sorge schwingt ihren Klöppel, es ist, als ob der stumme Klang einer Glocke alles durchdränge. Dann verblaßt der Traum, das Ich kehrt zurück in den Dienst des Kaisers.
Hauge hat sich nur zurückhaltend zu diesem Gedicht geäußert:

Ja, du weißt −, „sagt er gegenüber dem Schriftsteller Jan Erik Vold, „in dem alten Byzanz, das die Wikinger Miklagard nannten, gab es viele merkwürdige Dinge. Darüber kann man lesen, in den Schilderungen von damals. Und solche mechanischen Goldhähne gehörten zum Verwunderlichsten, was sie da hatten – sie mußten gute Goldschmiede gehabt haben. Aber es ist natürlich auch etwas Persönliches in dem Gedicht. Ja. Sonst hätte ich es nicht geschrieben. Nein.

In der skandinavischen Literatur über Gullhanen werden neben der Edda weitere Bezüge genannt, etwa die Byzantine Poems von W.B. Yeats oder H.C. Andersens Des Kaisers Nachtigall. Einen bemerkenswerten Hinweis gab der norwegische Literaturwissenschaftler Asbjørn Aarnes.

Er verwies auf die enge Beziehung von Hauges Sonett zu Gérard de Nervals

EL DESDICHADO

Ich bin der Finstere, – der Witwer, – Untröstbare,
Der Prinz von Aquitanien, dessen Turm versinkt:
Mein einziger Stern ist tot, – und meine sternenklare
Laute von Schwermuts schwarzer Sonne klingt.

Hast mich getröstet, du, in der Grabesnacht,
Mir nun den Posilippo, das Meer Italiens bring,
Die Blume, die mein trauriges Herz entfacht
und das Gewerk, wo Rebe sich um Rose schlingt.

Wer bin ich? Amor? Phoebus?… Lusignan? Biron?
Vom Kuß der Herrin ist mir die Stirn noch weh;
Ich träumte in der Grotte, bei der Sirene Feier…

Und ich hab siegend zwiegequert den Acheron:
Erweckend Mal um Mal auf Orpheus’ Leier
Der Heiligen Seufzer und die Schreie der Fee.

Über dieses Gedicht ist viel geschrieben worden, ich will nur andeuten: sowohl in Hauges als auch in Nervals Sonett geht es um Verlust, Trauer, Traum, den Gang in das Totenreich bzw. die Unterwelt, verlorene und wiedergefundene Identität, das Bewahrende, Rettende der Poesie. Nerval ruft das Mittelalter auf und die Antike, Hauge Byzanz und die altnordische Mythologie.
Nerval war der Dichter, dem Hauge sich seelenverwandt fühlte, er begriff ihn als Schicksalsbruder, nicht nur als Leidensgenossen, der wie Hauge sich Aufenthalten in psychiatrischen Anstalten unterziehen mußte, sondern auch als einen, dessen Dichtung Hauge zutiefst ergriff. Wie Nerval ist Hauge Romantiker. „Grundzug bei den Menschen. Ich meine nicht den Stil, den wir Romantik nennen. Sondern den romantischen Sinn,“ notiert er 1967 in seinem Tagebuch.

*

Liest man Hauges späte Gedichte, könnte man zuweilen dem Gedanken unterliegen, er habe im Lauf seines Lebens eine Wendung vollzogen hin zu einer milden, weisen, skeptischen Diesseitigkeit. Ganz so ist es nicht. In seiner letzten Gedichtsammlung befindet sich das Gedicht

WEGE

Auf dem Weg sah ich Wege:
ein Weg war über
und ein Weg unter
und Weg auf allen Wegen.
Im Kreis gingen manche andere grad.

Der arme Schlucker sitzt
wo er hingesetzt ist,
der Kluge versucht
einen Stubben von allen;
Hel oder Himmel
erwarten den, der nur
einen wählt.

Das wars, was
sie mir über Wege sagten,
aber nicht alles:
Wohin der Traum
reicht, gelangt kein Fuß,
und ein oder andrer fand
heilendes Gras
auf der Insel
in seinem Loghica.

Die ersten vier Verse des Gedichts stammen aus den Heidreksrätseln (Heiđreksgátur), einem Text aus der älteren Edda. König Heidrek werden von Odin, der sich hier Gestumblindi nennt, 38 Rätsel vorgelegt. Das Rätsel, das Heidrek hier lösen soll, lautet:

Ich fuhr nach Haus,
ich machte eine Reise nach Haus.
Auf dem Weg sah ich Wege,
ein Weg war über
und ein Weg unter,
und Weg auf allen Wegen.
König Heidrek,
lös nun das Rätsel.

Und Heidrek antwortete:

Du gingst über eine Brücke, der Fluß war der Wasserweg darunter, und Vögel flogen über dir und zu deinen Seiten, das war ihr Weg; du sahst einen Lachs im Fluß, und das war sein Weg.

Hauge kannte die vier in seinem Gedicht zitierten Verse aus einem Lehrbuch für Altnordisch. Ob er das ganze Rätsel kannte, ist fraglich, jedoch für das Gedicht unerheblich.
Loghica entspricht dem See Loycha in Irland, der in einem anderen altnordischen Text genannt wird, dem Königsspiegel (konungs skuggsjá). Dort heißt es von diesem See, daß sich eine schwimmende Insel darin befindet, die dann und wann dem Ufer so nahe kommt, daß man mit einem Schritt auf ihr sein kann. Ist einer krank und gelingt es ihm (und es gelingt immer nur einem zur selben Zeit), auf die Insel zu kommen, findet er ein heilendes Gras. Er wird davon gesund, doch in dem Augenblick, als er die Insel betrat, trieb sie vom Ufer ab.

Klaus Anders, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 3, Juni 2009

Die Tagebücher des norwegischen Lyrikers und Obstbauern

Olav H. Hauge

– Die Tagebücher des norwegischen Lyrikers und Obstbauern Olav H. Hauge spiegeln die große Abgeschiedenheit der Landschaft um Ulvik – und seinen wachen Blick auf die Welt. –

Auf den lyrischen Weltkarten ist der norwegische Hardanger-Fjord eine der abgelegeneren Regionen, zugleich aber auch eine der poetisch best vermessenen. Lebte doch hier in großer Abgeschiedenheit und mit wachem Blick auf die Welt der Dichter Olav H. Hauge (1908–1994), in dessen Werk sich ein Menschenleben lang die Landschaft um Ulvik mit ihren Bergen, Seen, Wäldern, Almen, den Dörfern und verstreuten Gehöften, mit dem tief ins Landesinnere reichenden Fjord namentlich genau eingeschrieben hat.
Das Ich, das die Landschafts(w)orte ausspricht und ansingt, versteht sich in einem großen Zusammenhang mit allem umher. Geradezu bewohnt sind die Gedichte mit Menschen, Sagengestalten, Geisterwesen, allerlei Getier; bewachsen mit Blumen, Farnen, Bäumen; allgegenwärtig ist das Wetter, der Wind, Schnee und Regen, die von ihnen geprägten Jahreszeiten, Winterdunkelheit und Sommerleuchten.

SCHNEE

Ich erwachte,
hell mein Raum
von dem weißen
Heiligtum.

Blau der Tag
die Birke glänzte
voller Reif
am Himmelsfenster.

Nur das Schneehuhn
konnte gehen
auf dem weißen
reinen Schnee!

Es sind Naturgedichte in einem umfassenderen Sinn. Denn die insgesamt sieben Gedichtbände Hauges, die zwischen 1946 und 1980 erscheinen – von neoromantisch geprägten Anfängen bis zu nüchterneren Ding-Gedichten, welche ihn seit den Sechzigern einem größeren Publikum bekannt machen –, sind stets auf der Suche nach einer spirituellen Dimension der Wirklichkeit. Hier weiß Hauge sich im Einklang mit allen tief ins kollektive Bewusstsein reichenden Dichtungstraditionen:

Merke! Im Grunde, im Innersten ist der Mensch stets derselbe geblieben.

Apfelbaum, Fingerhut und Eisranunkel, Habicht, Goldhähnchen und Igel, Sense, Sackwaage oder Scheinwerfer: Mit einem ihr eigenen hohen, gleichwohl zurückgenommenen Ton unternimmt Hauges Lyrik den Balanceakt zwischen einer bodenständigen Bewusstseinserweiterung und der Bemühung, den mystischen Kontrollverlust von Verzückung und Verrückung in Grenzen zu halten. Im Blick auf die sichtbare Welt öffnet diese sich hin zu inneren Landschaften, unbekannten Kontinenten, die sich zwischen zwei Obstbäumen, Dörfern und Feldwegen ins Ungeheuere erstrecken, in die hinein die dichterische Rede fällt – und sich so hält an dieser Welt.

UNTER DEN STERNEN

Was hat mich herausgetrieben
unter diesen scharfen Morgenhimmel?
Die blauen, frostgroßen Sterne,
was wollen sie?

Berge versprechen nichts, – weichen nur
und lassen die Fjorde ein
und die Flüsse hinab und stehen
verhärtet unter dem Schnee.

Doch der Waldhang, der Waldhang hat sich lang hingeworfen,
entblößt seine Armut unter den Sternen.

Es ist mein eigenes Leid, mein eigenes Herzweh,
das dort liegt, eisenschwarz und blutend,
und schwört zu grünen, zu singen.

Wie sehr Hauge diesen Halt braucht, wie sehr er durch „die andere Welt“ angezogen und von dorther durch den „anderen Mann“ in sich gefährdet war, zeigen die nun auf Deutsch veröffentlichten Tagebuchauszüge aus 70 Jahren unter dem Titel Mein Leben war Traum.
Von Kind auf kränkelnd und zugleich hochsensibel für seine Umgebung, still und zurückgezogen, wird ihm die Literatur ein träumerisches Korrektiv zur Gegenwart und ihrer andrängenden Wirklichkeit. Bereits 1924, kaum sechzehnjährig, spricht er programmatisch von einem „geistigen Tagebuch“, welches seine Höhenflüge ebenso verzeichnen sollte, wie „meine Meinung zu verschiedenen Büchern“:

Ich möchte mich dorthinauf schwingen, hinaus aus all der Enge hier unten, wo niemand mich versteht! (…) Dort würde ich meinen Gesang anstimmen können!

Dass er auf diesem von enormer Wissbegier geprägten Weg immer einsamer würde, hat er schon früh geahnt. Die als abweichend empfundenen Wirklichkeits- und Selbsterfahrungen werden bedrohlich, wie ein nachdenklicher Eintrag 1929 zeigt, und doch geht auch eine Faszination aus von der Undurchdringbarkeit dessen, was Seele und Geist sein könnten:

Mein Seelenleben ist ein unaufhörliches Pendeln zwischen Licht und Schatten (…) alles Wirkliche kreist um mich wie ein seltsamer Traum. Soll das so sein? Es ist sonderbar: aber alle Stimmungen haben einen eigenen Reiz und ihre eigene Freude.

Offensichtlich sind Spannung und „Stürme“ in diesem Echoraum der Seele so groß, dass mehrfach die Zwangseinweisung in psychiatrische Heilanstalten unumgänglich wird. Im Rückblick erscheinen Hauge die dort verbrachten Jahre keineswegs negativ, sondern von reichem „Geistesleben“ und „kosmischem Wachsein“ erfüllt:

Ich dichtete und träumte, hatte Gesichte, erlebte Ekstasen Tag für Tag, Jahr für Jahr, ohne daß mir jemand etwas tat. Daß ich eingesperrt oder gefesselt war – was oft vorkam – machte gar nichts. Die Ekstase, die Gesichte, die Träume, die Stimmen kamen trotzdem zu mir. (…) (Aber) es ist notwendig, wieder zurück auf die Erde zu kommen, wenn man hier in der Welt sein will.

Es ist im wahrsten Sinn des Wortes Weltliteratur, in die Hauge sich hineinliest und die er in sich hineinlässt in ihren Facetten, Epochen, Stilrichtungen, Genres, um sie produktiv in die Gestaltwerdung des eigenen Denkens und Schreibens zu wenden. Er, der ohne ordentlichen Schulabschluss eine Ausbildung zum Gärtner absolviert und den Beruf des Obstbauern bis ins Alter auf dem elterlichen Hof ausübt, eignet sich als Autodidakt einen weitgefächerten Bildungshorizont an, lernt Sprachen, übersetzt. Überall ist er auf der Suche nach Grundlegendem, Welthaltigem, Begreifbarem. So alltäglich es sein mag – es verbürgt ihm einen nicht zuletzt christlich verankerten Zugang zum „Licht“.

Karfreitag (1970) Wach sein und den Stimmen lauschen – das ist das Geheimnis beim Dichten. Daß sie zur rechten Zeit und am rechten Ort einfallen.

Ob die nordischen Edda-Mythen, die norwegische Tradition von Wergeland bis Uppdahl, die amerikanischen Transzendentalisten Emerson und Thoreau, Shelly, Yeats, Rimbaud, Hölderlin, Hopkins, Emily Dickinson, Whitman und Pound, asiatische Dichtung, Trakl, Brecht, Char und Celan: Ein vielstimmiges Selbst- und Totengespräch wird geführt in Ulvik, ohne dass die Nachbarn etwas davon mitbekommen. Für sie ist Hauge der schweigsam-kauzige Apfelbauer. Wenig ahnen sie von seinen Grenzgängen:

Am besten hat es einer, solange er unbekannt leben kann und ihn keiner so recht beachtet.

Seinen Lebensmenschen, das Glück einer tiefen Liebesbeziehung, die sein gewohntes „Leben auf den Kopf (stellt)“, findet Hauge erst im Alter von 66 Jahren mit der Künstlerin Bodil Cappelen. „Es ist das erste Mal“, dass er sich „wirklich jemandem anvertraut“.
Welch einsames, auf die Erforschung der eigenen Bewusstseinszustände zugespitztes, dabei nicht unzufriedenes Leben. Hauge lebt in Sprache. „Dichtung denkt magisch“: Um diesen heißen Kern kreist Hauges „träumerisches“ Dichtungsverständnis, ohne seinen reflektierten Standpunkt preiszugeben. Gerade die zeitlebens geführten Tagebücher lassen – neben dem „grauen, stillen (Alltag)“ – Hauges eigenständige Urteilskraft erkennen im Hinblick auf geistesgeschichtliche Entwicklungslinien ebenso wie auf zeitgenössische Positionen. Dabei nicht zuletzt ihr Hineinwirken in die eigene, äußerst skrupulös bewertete Dichtung: Es ist ein schmales, mit großen Mühen sich abgerungenes Werk, mit dem er in die Öffentlichkeit tritt. Mehrfach zerstört er fertige Manuskripte, da er sie für nicht haltbar erachtet. Und die Diarien? Hauge notiert:

Als Literatur betrachtet völlig wertlos.

Das Gegenteil ist der Fall.
Nach den 2012 erschienenen Gesammelten Gedichte, umsichtig von Klaus Anders übersetzt und kommentiert, erlauben beide Hauge-Bände deutschen Lesern erstmals eine Zusammenschau, in der das Biografische und das Poetische sich wechselseitig beleuchten. Wilde Bildung, einsiedlerhafte Distanz zur Literaturbetriebsamkeit, exzessive Neugierde bei wiederkehrend psychotischer Gefährdung, körperlich harte Arbeit in der Natur – diese Bestandteile verschmelzen zur dichterischen Lebensform.

22. März (1960) Heute früh erwachte ich und war sogleich hellwach. Alles hatte sich gleichsam geöffnet. Die Vögel und alle Lebewesen, ja auch die Toten, sie wussten alle voneinander und lauschten und antworteten, selbst die Fliegen, und die Möwen kamen und setzten sich mir auf die Hand. Ja, das ist nichts Neues, ich habe es oft erlebt, nicht nur im Traum. Doch dann steht man auf und beginnt seinen Tag, und die Wirklichkeit legt sich wieder zur Ruhe oder sinkt zurück, doch so zementiert und grau wie vorher ist sie nicht.

Andreas Kohm, Badische Zeitung, 20.2.2016

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Carl Wilhelm Macke: LitMag-Weltlyrik: Olav H. Hauge
culturmag.de, 3.10.2016

 

 

Wolfgang Hottner: Der Mann hätte sich nicht genauer ausdrücken können

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Facebook

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Internet Archive +
Olaf Hauge Zentrum

 

Olav H. Hauge liest 1972 fünf Gedichte auf dem Festival in Haugesund.

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