Thomas Anz: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Alle Tage“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Alle Tage“ aus Ingeborg Bachmann: Werke. Band 1. –

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

 

 

Ingeborg Bachmann liest ihr Gedicht „Alle Tage“

 

Krieg und Frieden

„Alle Tage“ ist weit mehr als ein gut gemeintes Gedicht gegen den Krieg, bietet literarisch Besseres als bloß eine pazifistische Botschaft. Denn zusammen mit der Illusion, daß nach 1945 der Frieden zurückgekehrt sei, zerstört es von Vers zu Vers eine Denkgewohnheit nach der anderen. Die Gegensätze von Krieg und Frieden, von Unerhörtem und Alltäglichem, von kämpferischem Heldentum und ausweichender Schwäche gibt es nicht mehr. Der Krieg ist fortwährend gegenwärtig, aber er hat sich verändert.
Als das Gedicht 1953, acht Jahre nach Kriegsende, in Ingeborg Bachmanns Band Die gestundete Zeit erschien, hatte man für diesen Zustand zwei Begriffe bereit, einen politischen und einen philosophischen: „Kalter Krieg“ und das „Absurde“. Der Krieg ist hier Bild für die allgegenwärtige Absurdität der Existenz. Ihr läßt sich, so hatte es Albert Camus am Mythos von Sisyphos veranschaulicht, mit einem trotzigen, erhabenen „Dennoch“ standhalten. Etwas von diesem Aufbegehren ist dem Gedicht eingeschrieben. Das Absurde hat in ihm freilich auch ein politisches Gesicht. Gegen die verdeckte Fortsetzung des zuvor offen geführten Krieges, gegen Wiederaufrüstung und Militarisierung gerichtet, entsprach das Gedicht dem Protestwillen der jüngeren Generation.
Einer verkehrten Welt, so demonstrierte es, ist nur mit vollkommener Verkehrung alter Orientierungen beizukommen. Die Etikette und Werte, die im Krieg gelten, sind hinfällig geworden. Statt der Uniform ist Geduld angesagt, und Orden verdient, wer sich einen Rest Hoffnung bewahrt. Die Todsünden innerhalb der militärischen Ordnung – Fahnenflucht, Geheimnisverrat und Befehlsverweigerung – sind zu Tugenden mutiert. Tapferkeit hat sich im Einsatz nicht mehr gegen den Feind zu beweisen, sondern vor dem Freund.
Als intellektuelle Mode hatte sich der Existentialismus in den sechziger Jahren verbraucht, der Kalte Krieg endete 1990. Das Gedicht scheint damit unwiederbringlich in historische Ferne gerückt zu sein. Doch noch heute irritiert sein strenger, ganz und gar entschiedener Ton. Denn den militärischen, „männlichen“ Werten widerstreitet es mit knappen, begründungslosen Behauptungen, die wie Befehle klingen, selbst der militärischen Sprache nahestehen. Zu den traditionellen Konstruktionen von Geschlechterrollen gehört es, einer Dichterin das Terrain der Liebes- und Naturlyrik zuzuweisen. Wüßte man nicht, wer „Alle Tage“ verfaßt hat, man schriebe, geprägt durch solche Traditionen, die Autorschaft wohl einem Mann zu.
Hinter Masken „männlicher“ Perspektiven und Sprechweisen hat die Autorin immer wieder geschrieben. Der Militärhistoriker Malina ist in ihrem 1971 erschienenen Roman als eine Art Doppelgänger die männliche Seite der Ich-Erzählerin. Ihm legt die Autorin Sätze in den Mund, die an das alte Gedicht neu anknüpfen. Dem weiblichen Ich, das in Alpträumen einen Schauplatz aus Tolstojs Krieg und Frieden imaginiert, erklärt er:

Es gibt nicht Krieg und Frieden.

Und am Ende des Kapitels wiederholt die Protagonistin in seinem Sinn:

Hier ist immer Kampf
Es ist der ewige Krieg.

In einer der letzten öffentlichen Äußerungen vor ihrem Tod hat Ingeborg Bachmann im Juni 1973, aus Malina zitierend, wiederholt: „Es gibt nicht Krieg und Frieden; es gibt nur den Krieg“; in dieser Gesellschaft sei „immer Krieg“. Und sie meinte damit die verborgene, psychische Gewalt in den alltäglichen „Beziehungen zwischen Menschen“, vor allem „zwischen dem Mann und der Frau“. Schon etliche Jahre vorher hatte sie in mehreren Vorrede-Entwürfen zu ihrem „Buch Franza“ erklärt, daß 1945 kein geeignetes Datum war, „um sich beruhigt schlafen zu legen“. Die Verbrechen seien in der Gegenwart nicht verschwunden, „bloß weil hier Mord nicht mehr ausgezeichnet, verlangt, mit Orden bedacht und unterstützt wird“.

Thomas Anz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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