Gerd Ruge: Pasternak

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gerd Ruge: Pasternak

Ruge-Pasternak

DAS LEBEN DES BORIS PASTERNAK

verlief in Jahren voller Größe und Schrecklichkeit, in einer Zeit glühender Gefühle und kalter Abstraktionen. Kriege, Revolutionen, Fünfjahrpläne, Säuberungen – großartig oder monströs, die Ereignisse überschlagen sich. Wie anders vermag der Dichter in diesem aufgewühlten Weg seine Spuren zu hinterlassen, als in seinem Bemühen, in einer in übermächtige Ereignisse aufgespaltenen Epoche jene großen und einfachen Linien wiederzufinden, denen das Schicksal des Menschen in all seinen Verwirrungen folgt. Vor dieser Aufgabe verblaßt das Leben des Dichters selbst. Er ist nicht der große Aktivist, nicht der Mann, der Dinge geschehen macht und Entwicklungen vorantreibt. Die Meilensteine seines Lebens sind die Entstehungsjahre seiner Werke und die Erscheinungsjahre seiner Bücher. Aus den Zeugnissen seines Werks und den Äußerungen seiner Freunde entsteht in großen Umrissen das Bild eines Mannes, der aus der gleichermaßen russischen und europäischen Welt seiner Jugend auf den Bauplatz trat, auf dem revolutionäre Konstrukteure den Menschen und die Welt von Morgen zu schaffen suchten. Die Verhältnisse gestatten es nicht, aus einer Reihe ungezählter kleiner Glieder die Kette seiner Lebensdaten vollständig zusammenzusetzen. Boris Pasternak hat stets aus dem eigenen Erleben geschaffen, aber es scheint, als habe er niemals eigene Erlebnisse geschildert. Selbst in seinen autobiographischen Versuchen werden die Ereignisse seines Lebens weder chronologisch aufgereiht, noch aus dem Material der Erinnerungen rekonstruiert. Und von seinem ersten autobiographischen Versuch sagte er selbst:

Ich schreibe nicht meine Autobiographie. Wie ihre Hauptfigur glaube ich, daß nur Helden eine wirkliche Biographie verdienen, aber die Geschichte eines Dichters läßt sich in dieser Form nicht darstellen. Der Dichter gibt seinem ganzen Leben einen so bewußten, steilen Anstieg, daß es unmöglich auf der vertikalen Linie einer Biographie existieren kann, wo wir es zu finden erwarten.

Eines freilich läßt sich tun: Man kann die Umrisse des Hintergrundes zeichnen, vor dem das Leben des Dichters wächst und sein Werk entsteht. Man kann zeigen, wie viel und wie wenig er von seiner Umwelt und den Ereignissen seiner Zeit geformt ist.
„In Boris Pasternak verkörperte sich das Talent seines Vaters multipliziert mit dem seiner Mutter“, haben Freunde der Familie gesagt. Und in der Tat: aus allen Schilderungen seiner Eltern geht hervor, unter welchen glücklichen Vorzeichen die frühen Jahre Boris Pasternaks gestanden haben müssen. Musik und Malerei beherrschten die Atmosphäre, in der er aufwuchs, und wenn man von seinen frühen Gedichten und Prosawerken sagte, in ihnen finde sich die Technik der impressionistischen Malerei wieder, so scheint es ungerecht, darüber zu vergessen, welchen Anteil die Musik an seiner Entwicklung hat. Noch wichtiger vielleicht war es, daß beides, Malerei und Musik, in der Familie nicht als Liebhaberei betrieben wurde, sondern als bewußt gestaltende, künstlerische Arbeit. Der Vater Leonid Pasternak war einer der bekanntesten russischen Maler und Kunstpädagogen seiner Zeit, die Mutter, Rosa Kaufman-Pasternak, hatte eine glänzende Laufbahn als Konzertpianistin aufgegeben, um sich ganz der Familie und der Arbeit ihres Mannes zu widmen. Ein Lebensbild Boris Pasternaks wäre unvollständig ohne eine Skizze der ungewöhnlichen Eltern dieses ungewöhnlichen Mannes.
Rosa Kaufman-Pasternak war 1867 in Odessa als Tochter eines wohlhabenden Selterswasser-Fabrikanten geboren worden. Ihre musikalischen Talente äußerten sich schon sehr früh, als sich das kleine Kind selbst Klavierspielen lehrte, darauf regulären Klavier-Unterricht bekam und mit weniger als zehn Jahren die ersten Konzerte gab. Ihr Erfolg in Odessa war groß, ernsthafte Kritiker schrieben über ihr Auftreten und anerkannte Musiker übernahmen ihre Ausbildung. Mit dreizehn Jahren schon hatte sie in vielen Städten Rußlands konzertiert, und um diese Zeit entdeckte sie der gefeierte Pianist Anton Rubinstein, der für sie in Moskau und Petersburg, damals Hauptstädte der Musikwelt, Konzerte arrangiert. Eine schwere Krankheit wirft sie zurück, aber dann folgen neue Konzerte in Rußland, Polen und schließlich in Wien, wo die junge Pianistin, inzwischen dem Kleid des musikalischen Wunderkinds entwachsen, ihre Ausbildung vollendet. In den achtziger Jahren, als Klavierpädagogin an das Konservatorium von Odessa zurückgekehrt, lernt sie den jungen Maler Leonid Pasternak kennen, und 1889 heiraten sie.
Leonid Pasternak ist fünf Jahre früher als Rosa Kaufman in Odessa geboren worden – in einer Stadt, deren Leben in jenen Jahren reich und bunt ist wie das weniger Städte auf der Welt. Der Hafen von Odessa nimmt Schiffe vieler Länder auf. Die Bevölkerung ist ein wirbelndes Gemisch von Griechen, Russen, Ukrainern, Kaukasiern und Juden. Und aus der jüdischen Bevölkerung von Odessa sollten in diesen und den folgenden Jahren unbegreiflich viele Talente hervorgehen, Menschen, die im literarischen und musikalischen Leben Rußlands und der Welt heute noch eine wichtige Rolle spielen. Das Odessa jener Jahre ist eine kosmopolitische, springlebendige Stadt, deren Oberschicht von hoher Bildung und ausgeprägtem Kunstinteresse ist. Sie rühmt sich, die beste Oper östlich von Wien zu haben, und Wien liegt für viele Odessiten nicht weiter entfernt als Moskau. Das Odessa, in dem die Eltern Boris Pasternaks aufwachsen, ist etwas anderes als die abgelegene Küstenstadt von heute.
Auch Leonid Pasternaks Hang zur Malerei findet schon früh Ermunterung und Bestärkung bei Freunden der Familie, aber seinem Vater scheint es doch richtiger, daß der Junge etwas Ordentliches lernt. Er schickt den Sohn nach Moskau, an dessen Universität er Medizin studieren soll, aber hier lockt nun die Schule für Malerei, Skulptur und Architektur, und Leonid Pasternak kann sich dieser Lockung nicht ganz entziehen. Er spart und arbeitet, um die Kunstschule besuchen zu können, aber als er es endlich schaffen könnte, stehen ungünstige Umstände im Wege. Sie geben seinem Blick eine andere Richtung, und durch wenig mehr als einen Zufall wird sein Schritt weit nach Westen gelenkt, nach München, das in jenen Jahren als Isar-Athen Kunstjünger der ganzen Welt anlockt. Bei Münchener Professoren studiert er Malerei, aber als er nach Moskau zurückgekehrt ist, hat er noch keineswegs ein einfaches, gesichertes Leben vor sich. Als Zeichner beginnt er bei Zeitschriften mitzuarbeiten, und erst langsam stellen sich die ersten großen Erfolge ein – um jene Zeit etwa, als er seine zukünftige Frau kennenlernt. Die junge Pianistin gibt ihre Karriere auf, um ihr Leben von nun an ganz der Arbeit ihres Mannes unterzuordnen. Als erster Sohn der jungen Eheleute wird 1890 in der Arsenalstraße zu Moskau Boris Pasternak geboren, in einem der einstöckigen Häuser, die für das alte Moskau typisch sind. Und wenn dieses Haus schon dadurch, daß es aus Stein und nicht aus Holz erbaut war, zu den ansehnlicheren Gebäuden gehörte, so lag die Wohnung Leonid Pasternaks doch zu jener Durchfahrt hin, durch die die Wagen der Kutscher auf den Hof rasselten. Die Gegend war zwar lebhaft und bunt, aber nicht gerade die beste von Moskau. Es war in jenen Jahren leichter für einen russischen Bürger, in Wien oder München zu studieren. Aber es gab keine Privilegien für Künstler, und ein junger Maler hatte es bei allem Talent nicht leicht, sich in Moskau durchzusetzen.
Leonid Pasternak gehört freilich zu jenen, die es schaffen. Nach dem Vorbild seiner Münchener Lehrjahre versucht er sich neben selbständiger, künstlerischer Arbeit an einer privaten Kunstschule, die ihm hilft, seine Familie zu ernähren. Seine eigene Arbeit bringt ihn mit Malern, Musikern und Schriftstellern in Berührung, mit Rachmaninow, Skrjabin und Rubinstein, deren Porträts er malt, mit Leo Tolstoi, dessen Roman Krieg und Frieden er illustriert. 1893 beruft ihn die Moskauer Schule für Malerei, Skulptur und Architektur, der junge Boris siedelt mit seinen Eltern in die Direktoren-Wohnung der Schule um. In dem schönen Gebäude in der Mjasnitzkij-Straße begegnet das Kind den Männern des geistigen und künstlerischen Rußlands jener Jahre, deren Namen ihm noch nichts zu sagen vermögen, deren Lebensstil und Wesen aber die Atmosphäre schaffen, in der sich seine Entwicklung vollzieht. Die Kunst ist hier etwas Selbstverständliches, das keiner Begründung und Entschuldigung bedarf und das Leben eines Menschen ganz zu erfüllen vermag und ganz in Besitz nimmt.
Rosa Pasternak tritt nur noch selten in großen Konzertsälen auf. Aber häufig spielt sie für den Kreis der Freunde. Zu ihnen gehört Leo Tolstoi, der die Pasternaks nach Jassnaja Poljana einlädt und auch zu ihnen zu Gast kommt. 1894 gibt Rosa Pasternak zusammen mit zwei Professoren des Moskauer Konservatoriums ein Hauskonzert, und, von der Musik des Trios geweckt, holt das Weinen des vierjährigen Boris die Mutter vom Klavier fort an sein Bett. Fast sechzig Jahre später ruft er die Erinnerung an diesen Abend zurück:

Wahrscheinlich trug man mich herein, damit ich die Gäste sehe, oder vielleicht habe ich durch den Rahmen der offenen Tür in den Salon hineingeschaut. Er war ganz verräuchert. Die Kerzen blinzelten, als ob der Rauch sie in den Augen beiße. Sie spielten blitzende Läufe auf dem gefirnißten Mahagoni von Geige und Cello. Schwarz war das Klavier und schwarz die Kleidung der Herren. Die Damen tauchten aus ihren bis auf die Schultern dekolletierten Roben auf wie die Blumen eines Jubiläumskorbes. Die Rauchringe verschmolzen mit den grauen Haaren von zwei oder drei alten Leuten.

Unter den grauhaarigen Gästen, die dem kleinen Boris in Erinnerung bleiben sollten, war Leo Tolstoi. „Sein Geist durchdrang unser ganzes Haus“, sagt er von ihm.
In dieser, immer von Musik erfüllten Welt der Begegnung mit Kunst und Künstlern, wächst Boris Pasternak auf. Rundherum überwuchert das Moskau der Gründerjahre die malerische alte Stadt, überragen neue, oft mit überreicher Dekoration beladene Gebäude die Holzhäuser mit den sorgsam geschnitzten Fassaden. Unter den unzähligen leuchtenden Kirchtürmen fahren die Kutscher noch in bunten Trachten. Aber die alte Hauptstadt Rußlands wächst in ungestümem Tempo den modernen Städten des Westens nach. Moskau, das lange Jahre im Schatten der eleganten, gebildeten, glänzenden neuen Zarenstadt St. Petersburg verschlafen hatte, platzte vor Kraft und Unternehmungslust aus den Nähten. Die großartigen Pläne der aufsteigenden Industriellen stießen sich an den brüchigen Resten eines erstarrten Feudalsystems. Die Gedanken der Schriftsteller eckten bei Staats-Zensur und Kirche an. In der Auseinandersetzung mit einer Zeit so tiefer Wandlungen erlebt auch Rußlands Kunst eine Neugeburt. Anheimelnd in den kräftigen, warmen Farben einer fast bäuerlichen Vergangenheit, erregend und energiegeladen – so ist die Welt, in der der junge Boris Pasternak heranwächst.
Mit zehn Jahren hat er ein Erlebnis, das unerklärlich tief in ihm nachwirken und sein Verhältnis zur Dichtung später auf das stärkste beeinflussen soll. Es ist die Begegnung mit Rainer Maria Rilke. Im Geleitbrief schreibt Pasternak 30 Jahre später:

An einem heißen Sommermorgen des Jahres 1900 verließ ein Schnellzug den Kursker Bahnhof in Moskau. Unmittelbar vor der Abfahrt trat ein Mann im schwarzen Tiroler Umhang an das Fenster unseres Abteils. Bei ihm war eine hochgewachsene Frau. Sie mochte wohl seine Mutter oder ältere Schwester sein. Die beiden unterhielten sich mit meinem Vater über ein Thema, dem sie sich alle drei mit der gleichen Wärme hingaben. Die Frau wechselte ab und zu ein paar Worte Russisch mit meiner Mutter, der Fremde aber sprach nur Deutsch. Obwohl ich diese Sprache gut kannte, hatte ich sie noch nie so sprechen hören. Und deshalb erschien mir dieser Mann in dem Gedränge, das zwischen dem ersten und dem zweiten Läuten auf dem Bahnsteig herrschte, wie eine Silhouette inmitten von Körpern, eine Fiktion im Dickicht der Wirklichkeit.

Nur zwei oder drei Jahre später sollte der empfindsame, vielerlei Eindrücken aufgeschlossene Junge beim Aufräumen der Bibliothek seines Vaters ein Buch finden, das ihn lange Zeit begleitet: Rilkes Gedichtband Mir zur Feier. Der Zauber der Gedichte ist ihm leicht zugänglich. Im Hause Pasternak wurde viel und gern Deutsch gesprochen, und der junge Boris ist eigentlich von seiner Mutter und von Hauslehrern auf den Besuch einer deutschsprachigen Moskauer Schule vorbereitet worden, ehe er 1901 in die zweite Klasse des Moskauer Gymnasiums Nr. 5 aufgenommen wird. Aber mehr noch als die Schulstunden formt die lebendige, diskutierende, schaffende Welt der künstlerischen Freunde des Vaters das Leben des jungen Boris, eine Welt, die ihre innere Ruhe dem aufopfernden Verzicht der Mutter auf den Glanz einer eigenen künstlerischen Karriere verdankt. Die Luft, die Boris und seine Geschwister Alexander, Josephine und Lydia atmen, ist freilich stets voller Musik, und es ist fast selbstverständlich, daß der älteste Sohn auch schon Klavierspielen lernt. Erst die Begegnung mit Alexander Skrjabin freilich läßt die Neigung zur Musik in dem zwölfjährigen Boris zur betäubenden Leidenschaft werden. Der große, als Persönlichkeit seltsam faszinierende Komponist war der Nachbar, aus dessen Fenster geheimnisvoll glühende Akkorde durch den Wald herüberklangen zum Sommerhaus, das Leonid Pasternak in der Nähe von Obolenskoje gemietet hatte. Und wieder, wie bei der Begegnung mit Rilke, verfällt der Knabe einer unerklärlichen Verzauberung. In diesen Jahren scheint es, als sei er zum Musiker bestimmt, und dann, sechs Jahre später, ist es der gleiche Alexander Skrjabin, sein Idol, der diesen Zauber von ihm nimmt. Pasternak selbst sagt von sich und dieser Zeit:

Ich liebte die Musik über alles, und Skrjabin mehr als alle anderen in der Welt der Musik.

Ein Leben außerhalb der Musik schien ihm unvorstellbar. Und auch als sich die Musik mit der Literatur in seinem Leben verwob, da blieb der Geist Skrjabins noch lange in seinen Gedichten wirksam – nicht nur als Musikalität, die sich überall durch Pasternaks Dichtung zieht, sondern mehr noch als Geist des ästhetischen Experiments, das Klang und Farbe, Philosophie und Religiosität, Naturerlebnis und Reflexion in einem Werk zu vereinen sucht.
Um die Jahrhundertwende war Leonid Pasternak zweimal in Paris gewesen. In den Ausstellungen der französischen Impressionisten hatte er Anregung und Bestätigung für seine eigene Arbeit gefunden. Ohne auf die klaren, kräftigen Konturen zu verzichten, die seine zeichnerische Begabung ihm eingab, gelangte er zur neuen Schule der Freilichtmalerei, deren um die Jahrhundertwende entstehenden Werke zum Besten gehören, was die nichtreligiöse russische Malerei geleistet hat. In diesen Jahren entstehen seine schönen Landschaftsbilder, feinfühlig und voll Atmosphäre, durchaus unakademisch und voller Leben. In Obolenskoje malt er sein Bild „Nächtliche Weide“. Junge Bauernmädchen eines nahen Dorfes jagen im Galopp hinter einer Herde von Pferden her. Boris Pasternak reizt es, hinter den Reiterinnen über das Moor zu jagen. Sein Pferd setzt über einen Bach und wirft den Reiter ab. Er bricht sich das Bein. Es wird immer ein wenig kürzer als das andere bleiben, und die Verletzung des Knies wird ihn fast 60 Jahre später zwingen, an einem Stehpult zu arbeiten.
Die feinen Seismographen der Literatur künden in diesen Jahren schon die großen Erdbeben an, die sich vorbereiten. Die klassische Periode des russischen Romans ist abgeschlossen. Das Jahrzehnt der Symbolisten ist angebrochen, die erste Dekade eines Vierteljahrhunderts, in dem die russische Literatur von der Lyrik beherrscht wird. Die realistische Prosa ist zu flacher Mittelmäßigkeit herabgesunken, nur Anton Tschechow, Iwan Bunin und Maxim Gorkij setzen sie, jeder auf eigene und neuartige Weise, fort. Zugleich aber vollzieht sich auch in Rußland jene künstlerische Revolution, die in Westeuropa zu einer Umwertung und Umkehrung der Kunstprinzipien führt. Auf sehr russische Weise drückt sich der erwachende Individualismus in den Strömungen des geistigen Lebens von Petersburg und Moskau aus, und all die literarischen Richtungen fließen zusammen im Symbolismus, der am Anfang der russischen Literatur dieses Jahrhunderts steht und ihm die stärksten Impulse gibt. Alexander Blok, Wjatscheslaw Iwanow, Andrej Belyj oder Valerij Brjussow haben die literarische Entwicklung Westeuropas nicht direkt beeinflussen können. Ihnen standen die Schwierigkeiten der Übersetzung im Wege. Aber es genügt, an die Werke jener russischen Künstler dieser Zeit zu erinnern, die der Übersetzung nicht bedurften. Skrjabin und Strawinskij, Kandinsky und die von Djaghilew in seinem Ballett vereinten Kräfte – sie und viele andere, ohne deren Einfluß die moderne Kunst fast nicht zu denken ist, sind Kronzeugen für die Kraft und Bedeutung der Entdeckungen, die auch die Dichter ihres Landes zur gleichen Zeit machten. Vom Ästhetizismus bis zum metaphysischen Mystizismus, vom Neoklassizismus bis zum leidensbereiten Bekenntnis zum Menschen reichte die Skala der symbolistischen Talente und Temperamente. Zwei von ihnen haben auf den jungen Boris Pasternak den stärksten Einfluß: Alexander Blok und Andrej Belyj. Alexander Blok ist zweifellos der größere Dichter. Die kraftvolle Schönheit seiner Bilder, seine tiefe, menschliche Aufrichtigkeit hat im Werk Pasternaks einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Andrej Belyj ist die sprühendste, faszinierendste Persönlichkeit unter den Symbolisten. Zwischen anthroposophischer Träumerei und mathematischen Ordnungskonstruktionen hin und her gerissen, von Rudolf Steiner und Albert Einstein zu gedanklichen und schriftstellerischen Experimenten verleitet, schreibt er einen Stil von kräftigem Rhythmus, voll ungewöhnlicher Bilder und Worte. Beiden Dichtern ist ein revolutionärer Geist gemeinsam, der sich gegen die verknöcherte Welt des zaristischen Apparats und die erstickende Luft des Bürgertums wendet, freilich in anderem Sinn und Geist als die Kräfte, die die Revolution machen und zu denen sich beide Dichter für einige Zeit verirren werden.
Während bei den Dichtern der Prozeß der geistigen Umwälzung im Wort Gestalt annimmt, melden sich immer lauter die sozialen Kräfte, die die alte Welt schließlich zerschlagen werden. Im Jahre 1905 bricht die erste russische Revolution aus, wahrhaftig als Eruption einer Naturgewalt, ohne Plan und klar formuliertes Ziel. Der russisch-japanische Krieg ist für den Zaren verloren, die Lage der Bauern und Arbeiter wird immer elender, eine rebellische Stimmung breitet sich aus. Sie richtet sich freilich nicht unbedingt gegen den Zaren selbst, vielmehr gegen die Organe der Bedrückung. Eine riesige Menge sammelt sich am 9. Januar 1905 vor dem Winterpalais in St. Petersburg, um beim Souverän Klage zu erheben. Der Gefängnisgeistliche Georgij Gapon führt sie an. Aber die Streiks, die einige Tage vorher in den Petersburger Putilow-Werken begonnen haben, haben die Polizei nervös gemacht. Den Machthabern scheint es wichtig, den Demonstranten eine Lehre zu erteilen. Über dreitausend Tote und Verwundete zählt die unbewaffnete Menge an diesem „Blutigen Sonntag“, als Kosaken und andere Militäreinheiten sie vom Winterpalais des Zaren vertrieben haben. Aber die revolutionäre Krise hat damit erst begonnen. In vielen Städten des Landes kommt es zum Generalstreik, Barrikaden werden errichtet, Straßenkämpfe beginnen. In Moskau konzentrieren sich die Kräfte der Revolution im Stadtviertel Presnja. Hinter Straßensperren setzt sich die Arbeitermiliz fest, es kommt zu Feuergefechten und kurzen Artilleriebombardements, und immer wieder ziehen Demonstrationszüge durch die Straßen – immer auf der Hut vor Kavallerie-Einheiten, die die Versammlungen auseinandertreiben sollen. Es ist sicher, daß sich auch der fünfzehnjährige Boris Pasternak der Erregung nicht entziehen konnte. Die Erinnerung an jene Zeit hat er in den ersten Kapiteln des Doktor Schiwago zurückgerufen, und sie findet sich klar genug in der Beschreibung des Demonstrationszuges, der vor der Gefahr des Kosakenangriffs in ein Schulgebäude flieht. Was Boris Pasternak, den bei einer solchen Demonstration ein Schlag der Nagaika, der Kosakenpeitsche, traf, in diesen Tagen empfand, war sicherlich weniger der Zorn des Revolutionärs als vielmehr die Empörung über die Härte und Unmenschlichkeit, mit der gegen die Demonstranten vorgegangen wurde.
Jedenfalls schließt er sich keiner der sozialrevolutionären oder reformerischen Gruppen der russischen Intelligenz an. Das Leben läuft für ihn, für seine Familie, für die Menschen, die ihnen nahestehen, fast unverändert weiter. Auch die Begegnung mit Maxim Gorkij, der mit Leonid Pasternak über die Mitarbeit an politisch-satirischen Zeitungen verhandelt, ändert nichts daran. Viel wichtiger für seine Entwicklung ist die große Reise, die die Familie Pasternak auf ein halbes Jahr nach Berlin führt, die erste große Auslandsreise des jungen Boris. Berlin ist voll von russischen Künstlern, Philosophen, Studenten, die sich dem Druck der zaristischen Zensur entzogen haben. Aber mehr als die intellektuelle Gesellschaft beeindruckt die Stadt selbst den jungen Mann:

Ich lebte mich schnell in Berlin ein, flanierte durch seine unzähligen Straßen, sprach Deutsch mit einer Nachahmung der Berliner Aussprache, atmete ein Gemisch aus dem Rauch der Dampfmaschinen und dem Geruch der Gasbeleuchtung und des Bierschaums, hörte Wagner.

In Rußland ist inzwischen ein wahres Kunstfieber ausgebrochen. Malergruppen der modernsten Schulen befehden und vereinigen sich, veranstalten Ausstellungen. Die französische Kunst hält ihren Einzug mit Bonnard und Vuillard, Rodin und Matisse. Verlage und literarische Zeitschriften schießen aus der Erde. In literarischen Zirkeln fechten kunstbegeisterte junge Leute ihre Fehden aus. Die Futuristen brechen auf, um allen Konventionen der bürgerlichen Welt, allen Wertordnungen vergangener Kunst den Kampf anzusagen. Es vergehen noch einige Jahre, bis sie ihr Manifest veröffentlichen, mit dem für jene Jahre in aller Welt typischen Titel „Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“. Aber die Unruhe unter der intelligenten Jugend ist unüberhörbar. In literarischen Zirkeln werden neue Kunsttheorien ausgebrütet, in heißen nächtlichen Redeschlachten wird über Dichter und Philosophen diskutiert. Ohne einen für die Älteren sichtbaren Grund brechen die jungen Leute zu endlosen mitternächtlichen Spaziergängen auf. Aber auch diesmal ist es schwer, Boris Pasternak einer Gruppe zuzuordnen. Noch sucht er seine Richtung, noch hat er nicht einmal zwischen Musik und Literatur entscheiden können. Die Freunde, die ihn zu einem literarischen Zirkel namens Serdarda zuziehen, schätzen ihn wegen seiner musikalischen Begabung, wegen seiner rauschenden und glühenden Improvisationen am Klavier. Sie fühlen sich zu jenem Kreis hingezogen, der sich um die Zeitschrift Musaget gebildet hat, romantisch und symbolistisch, dem neokantianischen Denken der deutschen Philosophie eng verbunden. Boris Pasternak studiert inzwischen an der Moskauer Universität. Er hat das Studium gewählt, das auch sein Vater absolvierte, um eine gewisse akademische Basis von praktischem Wert zu haben: der Einfachheit halber, sagt Boris Pasternak, war es die juristische Fakultät, zu der er sich entschloß. Er blieb ihr freilich nicht lange treu. Auf Ratschlag Alexander Skrjabins sattelt er um – nicht zur Musik, die nun schon fühlbar hinter die Neigung zur Literatur zurücktritt, sondern zur Philosophie. Um der äußeren Unabhängigkeit willen gibt Boris Pasternak Nachhilfestunden und bereitet junge Leute auf das Abitur vor. Und abends geht er zuweilen mit anderen Studenten in eine möblierte Wohnung, in der Erwachsene aus vielen Berufen sich von den jungen Akademikern in die Geheimnisse des geistigen Lebens einführen lassen.
Die Vorlesungen an der Universität vermögen ihn nur selten zu befriedigen. Vieles ist zu trocken für den jungen Mann, der im Fieber seiner eigenen Entwicklung stärkere Impulse verspürt. Von seinen literarischen Versuchen hält er freilich noch wenig, die ermutigenden Urteile von Freunden nimmt er eher ungläubig hin. Was er im Kreis der Freunde beisteuert, ist zunächst mehr Kunst-Theorie. Im Atelier eines Bildhauers hält der neunzehnjährige Boris eine Konferenz ab: „Der Symbolismus und die Unsterblichkeit“. Er bemüht sich, den Zuhörern, die teils auf dem Fußboden des Ateliers sitzen, teils auf einer Zwischendecke liegen und die Köpfe herunterhängen lassen, seine Theorie der künstlerischen Unsterblichkeit darzulegen.
Als Boris Pasternak an diesem Abend spät nach Hause kommt, vom eigenen Vortrag und von den Diskussionen bewegt, erfährt er, daß Leo Tolstoi auf dem Bahnhof von Astapowo einsam gestorben ist. Ein Telegramm ruft Leonid Pasternak nach Jassnaja Poljana. Boris fährt mit und sieht in Astapowo die riesige, seltsam gemischte Menge, die dabeisein will, als Studenten die sterblichen Überreste Leo Tolstois zu dem Haus zurückbegleiten, aus dem er geflohen ist. Leo Tolstoi, dessen Geist nach dem Zeugnis der Kinder das ganze Haus der Pasternaks durchdrang, ist tot. Er läßt seinem Freunde Leonid Pasternak ein Wort zurück, das auch der Sohn behalten wird:

Bedenken Sie, Leonid Ossipowitsch, alles wird vergehen: Geld, großer Besitz, selbst Königreiche sind zum Vergehen verurteilt. Aber wenn in unserer Arbeit nur ein Körnchen wahrer Kunst ist, so wird sie ewig leben.

Für die studierende Jugend Rußlands hatten die deutschen Universitäten jener Jahre eine ungeheure Anziehungskraft. Ihr Ruf, dessen Echo sich heute noch bei sowjetischen Studenten spüren läßt, lockte nicht nur die Naturwissenschaftler, sondern ebenso stark die jungen Philosophen. Boris Pasternak hatte seine intellektuellen Freundschaften bei jenen Dozenten und Studenten der Moskauer Universität gefunden, die der Marburger Schule anhingen, deren Haupt der Neo-Kantianer Professor Cohen war. Unter den streitenden Fraktionen an der Moskauer Universität war dies die schwächste, ihr fehlte das professorale Oberhaupt. Sie mußten sich gegen die Anhänger Husserls und Bergsons zur Wehr setzen, die in diesen Jahren das Feld beherrschten, aber gerade der ständige Kampf sorgte dafür, daß die Philosophie alles andere als tote Spekulation blieb und lebendiges Bekenntnis wurde. Als Rosa Pasternak im April 1912 ihrem ältesten Sohn zweihundert Rubel zum Geschenk machte – Geld, das sie vom Haushaltsgeld und durch Musikstunden für besonders fähige Konservatoriumsstudenten erspart hatte – da war es klar, was mit diesem Geld zu geschehen hatte. Die erste Ausgabe war der Preis für das Vorlesungsverzeichnis des Sommersemesters an der Universität Marburg. Einem russischen Studenten standen in jenen Jahren kaum Schwierigkeiten im Wege, wenn er an einer ausländischen Universität studieren wollte. Pässe, Einreise- und Ausreisevisa, Devisengenehmigungen spielten im Europa vor dem Ersten Weltkrieg keine große Rolle. Nur das Geld mußte da sein, und selbst davon brauchte man bei äußerster Sparsamkeit nicht allzu viel. Zweihundert Rubel reichten für Fahrkarten in der untersten Klasse der Personenzüge, für Studentenbude und einfachste Kost. Und zweihundert Rubel hatte der zwanzigjährige Boris, um nach Marburg zu fahren, ein Semester zu studieren und nach Italien weiterzureisen.
Der Marburger Sommer hat im Werk Boris Pasternaks tiefe Spuren hinterlassen. Die Anziehungskraft der Marburger Schule auf ihn erklärt sich freilich aus ihrem Wesen ebenso wie aus dem Wesen des jungen russischen Studenten, der ihr entgegenflog in hemmungsloser Ungeduld und fieberhafter, fröhlicher Verzauberung. Was er in Marburg erfuhr, gab seiner Philosophie, die in ihrem Wesen schon vorgebildet war, das systematische Skelett, ohne ihn selbst zum Philosophen zu machen oder in die Grenzen einer Schulphilosophie zu zwingen. Die Marburger Schule

war unabhängig, sie riß alles bis auf die Grundfesten nieder und baute auf einem freien, weiten Platz auf. Sie hatte nichts gemein mit der trägen Routine aller möglichen Ismen, die sich stets an ihre rentable Vielwisserei aus zehnter Hand klammern, die stets unwissend sind und sich stets aus diesem oder jenem Grunde fürchten, die jahrhundertealte Kultur der frischen Luft einer neuen Betrachtungsweise auszusetzen. Frei von terminologischer ,Inertia‘, richtete die Marburger Schule ihr Augenmerk auf die Ursprünge, das heißt auf die echten Signaturen des Denkens, die es in der Geschichte der Wissenschaft hinterlassen hat. Wenn die landläufige Philosophie davon handelt, wie dieser oder jener Autor denkt, die landläufige Psychologie, wie der Durchschnittsmensch denkt, wenn die formale Logik lehrt, wie man im Bäckerladen denken muß, um das richtige Wechselgeld zurückzubekommen, dann interessierte sich die Marburger Schule dafür, wie die Wissenschaft in den fünfundzwanzig Jahrhunderten ihrer ununterbrochenen Autorschaft an dem brennenden Anfang und am Ende der Entdeckungen der Welt dachte. In einer solchen, gleichsam von der Geschichte selbst autorisierten Betrachtungsweise wurde die Philosophie wieder jung und weise, so daß man sie kaum wiedererkannte, und verwandelte sich aus einer problematischen Disziplin in die uralte Disziplin der Probleme, die sie eigentlich sein sollte.

In seinem Geleitbrief hat Boris Pasternak die Empfindungen der Marburger Zeit ausführlich beschrieben. Das kleine Zimmer am äußersten Stadtrand bei einer alten Beamtenwitwe, das Bild der kleinen Universitätsstadt, die Vorlesungen von Hartmann und Professor Cohen. Und auch jene Fahrt voller romantischer Verwirrung, zu der der unerwartete Besuch einer Jugendliebe führte. Schon als halbes Kind hatte Boris Pasternak sich in das Mädchen verliebt. In den anstrengenden Monaten vor dem Abitur hatte er ihre Nähe gesucht und ihr Nachhilfestunden gegeben, zur Vorbereitung auf die eigene Prüfung. Die ständige Anwesenheit einer französischen Kinderfrau hatte freilich jedes Gespräch über die Gefühle, die den Achtzehnjährigen bewegten, unmöglich gemacht, und die Liebe zu dem hübschen Mädchen aus gutem Hause, von der alle Freunde wußten oder ahnten, war niemals ausgesprochen worden. Nun kam sie selbst, deren Namen Boris Pasternak stets mit W. abkürzt, mit ihrer Schwester nach Marburg – ein Abstecher auf der Reise von Belgien nach Berlin. Die drei Tage des Zusammenseins in der fremden Stadt, erfüllt von Spaziergängen und Gesprächen, enden in einer Krise: der junge Student erklärt dem Mädchen in den letzten Minuten vor der Abreise seine Liebe. Und sie weist ihn zurück. Noch halb im Banne der Nachwirkung dieses Schocks übersteht er die konventionellen Abschiedsworte am Bahnhof, der Zug setzt sich in Bewegung, er läuft neben ihm her und springt in letzter Sekunde auf das Trittbrett. Ein Schaffner wird besänftigt, und der Zug rast mit Boris und dem Mädchen nach Berlin. Die Entscheidung freilich ist schon gefallen. Was nun gesprochen wird, erscheint nur noch als Rückblende auf die Stunden, die dem Augenblick vorangingen, in dem das Objekt seiner romantischen Liebe den jungen Mann abwies. Der Abschied in Berlin ist kein Abschied mehr, sondern nur noch ein Auseinandergehen, und Boris Pasternak wandert ohne Hut, ohne Mantel und ohne Geld durch den Berliner Nieselregen, bis er, den Kopf auf die Tischplatte einer Gastwirtschaft gelegt, endlich einschläft.
Dieses Erlebnis ruft die Krise hervor, die sich schon länger ankündigte. Der junge Student aus Moskau ist nicht zum Wissenschaftler, zum Philosophen geboren. Zu der Marburger Wirtin zurückgekehrt, die das Ausbleiben ihres Mieters mit unangenehm berührtem Staunen quittiert, packt er die Bücher und Blätter zusammen, die in seinem Zimmer in sorgfältig geplanter Unordnung herumliegen. Er schickt sie an die Universitätsbibliothek zurück. Der junge Russe schrieb nicht mehr an einer Dissertation, er schrieb Verse.

Tag und Nacht, wo immer es sich ergab, schrieb ich über das Meer, über die Dämmerung, über den südlichen Regen und über die Steinkohle des Harzes. Ich schrieb selbstvergessen, und nun bedeckte ein anderer Staub meinen Tisch. Der frühere Staub, der philosophische, hatte sich aus Abtrünnigkeit, aus meiner ängstlichen Besorgnis um meine Arbeit gesammelt. Den jetzigen Staub wischte ich aus Kameradschaft, aus Sympathie zu dem Schotter der Gießener Straße nicht weg. Und am fernen Ende meines wachstuchbedeckten Tisches blinkte ein seit langem ungespültes Teeglas wie ein Stern am Himmel.

An das Marburger Sommersemester schließt sich die Reise nach Italien an. Wieder ist es eine Reise vierter Klasse, in der an Essen und Wohnung gespart werden muß. „Morgens stolperte ich in der grauen Frühe aus dem Zug – ich fuhr nachts, um das Geld fürs Hotel zu sparen –, und oft wußte ich nicht mehr, ob ich nun eigentlich um den Mailänder Dom herumging oder schon in Florenz war“, erzählt der alte Boris Pasternak über diese Reise seiner Jugend. Aber jenseits der Erinnerung an die fröhlich ertragenen Entbehrungen dieser Entdeckungsreisen bleiben dem jungen Russen das Erlebnis der klassischen italienischen Kunst, die in ihren unzähligen Dokumenten aus allen Jahrhunderten menschlicher Geschichte den ewigen Strom der Kultur sinnfällig darbietet, bewegt und doch in sich ruhend, sich wandelnd, aber ohne Bruch. Für einen Italiener mag das die gewöhnliche, lebendige Luft sein, in der er atmet. Für einen jungen Menschen aus Rußland ist diese lebendige, plastische Dokumentation jahrhundertealter menschlicher Kultur eine bestürzende Entdeckung.
Der junge Mann, der nach Moskau zurückkehrt, ist ein Dichter. Schon äußerlich machte der junge Boris Pasternak einen starken Eindruck auf seine Freunde, ja selbst auf Unbekannte. Der russische Maler Annenkow schildert ihn in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg:

Er hatte große Augen, volle Lippen, einen stolzen und träumerischen Gang, eine schöne Figur, einen harmonischen Gang und eine kräftige und angenehme Stimme. Die Leute auf der Straße drehten sich instinktiv nach diesem Passanten um, ohne zu wissen, wer er war. Ich erinnere mich, daß sich Pasternak selbst einmal umwandte, er stellte sich fest auf beide Beine und streckte einem jungen Mädchen, das ihm nachschaute, die Zunge heraus. „Na, hör mal“, tadelte ich ihn. „Ich bin zu schüchtern, und die Neugierde ist mir peinlich“, entschuldigte sich Pasternak.

Für das, was er schreibt, findet er bei seinen Eltern freilich nicht allzuviel Verständnis. Mit freundlichem Lächeln lassen sie ihn gewähren, zumal er durchaus nicht einem besinnungslosen Taumel verfällt, sondern sein Philosophie-Studium regulär mit dem Staatsexamen beendet. In den Sommermonaten nach der Prüfung schreibt er die Gedichte seines ersten Buches Der Zwilling in den Wolken. Mit ihnen kommt er ins literarische Gespräch.
Literarische Zirkel und Gruppen befehden sich, grenzen sich ab, fühlen sich als Besitzer der einzigen neuen Wahrheit. Daraus besteht die Lebensberechtigung dieser Kreise. Boris Pasternak ist ihnen freilich nur schwer einzuordnen. Man rechnet ihn schließlich dem „rechten Flügel des Futurismus“ zu, dem gemäßigten Flügel, der sich an dem Bemühen, alle überkommene Kunst in aufgeregter Geschäftigkeit für sinnlos und veraltet zu erklären, nicht recht beteiligt. Die Parteinahme ist nicht sein Fall, und schon gar nicht die Parteinahme gegen die große Dichtung der Symbolisten, der sein erster Gedichtband zutiefst verbunden ist.
Immerhin, er gehört nun zur Schriftsteller-Gruppe Zentrifuge. Und er hat für die Zentrifuge zu streiten. In einem Café am Arbat-Platz sitzt er bei Kuchen und heißer Milch mit seinen Freunden zusammen, um den Feind zu erwarten. Der Führer der drei gegnerischen Disputanten, man kann ihn nicht übersehen, ist ein großer Mann mit kräftigen Gesichtszügen und einer volltönenden Stimme, bestimmt, in der lärmenden Schar von Epigonen und Mitläufern das Fanal des hyper-individualistischen Kampfes gegen alle künstlerische Konvention zu sein und später als „Lautsprecher der Revolution“ die ersten zehn Jahre der Sowjetliteratur zu beherrschen. Er heißt Majakowskij.
Wladimir Majakowskij ist drei Jahre jünger als Boris Pasternak. Aber in der futuristischen Bewegung ist seine hellgelbe Jacke bereits das Symbol des Bürgerschrecks. Er war von der Schule verwiesen worden, weil er sich dem bolschewistischen Flügel der russischen Sozialdemokraten angeschlossen hatte, bewies dann beachtliches Talent als Student der Moskauer Schule für Malerei, Skulptur und Architektur und gehörte mit weniger als zwanzig Jahren zu den Auffälligsten unter den Futuristen – nicht nur wegen seiner hellgelben Jacke und antibürgerlichen Aktionen, sondern mehr noch, weil er das dichterische Genie dieser Gruppe war. Von den sozialen Themen, die ihn in früher Jugend beschäftigten, hat er sich um 1914 scheinbar längst losgesagt. Er spottet über die Dichter, die als „Verkünder der Wahrheit und Plakate der Tugenden“ auftreten. Sein Bekenntnis zu einer rein formalistischen Kunst klingt freilich ein wenig hohl, und so laut er es wiederholt, seine eigenen Gedichte widerlegen ihn. Trotz aller Experimente mit dem Versmaß, aller Entstellung der Syntax, aller oft umständlichen Wort-Neubildungen werden sie nicht formalistische Kunstwerke für den Leser, sondern rhetorische, deklamatorische, pathetische Ansprachen. Wenn der hochgewachsene Majakowskij sie mit voller Stimme vorträgt, so wird im starken Rhythmus der Verse auch das bewußt Anti-Poetische dichterisch. Er kann die Sterne am Himmel mit Speicheltropfen vergleichen, er kann sich selbst als heißes Straßenpflaster darstellen, auf das eine Frau Zigarettenstummel von Küssen schmeißt – der Schock, den er auslöst, ist nicht der des Bürgerschrecks, sondern des Dichters.
Boris Pasternak soll in ihm dem Gegner gegenübersitzen, der die Zentrifuge in einem literarischen Streit beleidigt hat. Aber der kleinliche Gruppenstreit interessiert ihn nicht mehr. Er hat jenseits der lauten Front der Epigonen den Koloß Majakowskij entdeckt.

Hinter seiner Art, sich zu geben, spürte man etwas wie einen zur Ausführung gelangten Entschluß, dessen Folgen unabänderlich waren. Seine Genialität war ein solcher Entschluß, und die Begegnung mit ihr hatte ihn einst so tief beeindruckt, daß sie ihm für alle Zeiten als Thema vorgezeichnet war…

Majakowskij, dem seine gelbe Jacke stets als Symbol seiner äußeren Unabhängigkeit dient, bleibt für Boris Pasternak in den nächsten Jahren der bewunderte und geliebte, wenn auch entfernte Freund – bis zu jener Zeit, da er die gelbe Jacke gegen die dröhnende, politische Dichtung der ersten nachrevolutionären Jahre vertauscht, die freilich die steigende innere Unruhe auf die Dauer nicht zu übertönen vermag.

 

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Das tragische Schicksal des Menschen,

das bedeutende Werk des Dichters im Schatten des Kreml. Pasternak ist zum Symbol geworden, zum Symbol für jenes andere Rußland, das von der bolschewistischen Flut ausgelöscht schien. Durch die Auszeichnung mit dem Literatur-Nobelpreis wurde der russische Dichter ins grelle Licht des Weltinteresses gerissen. Für die kurze Zeitspanne zwischen bewegtem Dank und erzwungenem Verzicht hob sich der Vorhang vor einer menschlichen Tragödie von antiken Ausmaßen. Der in Moskau lebende Publizist Gerd Ruge vermittelt uns nach ergiebigen Gesprächen mit Pasternak und intensivem Quellenstudium in dieser Bildbiographie das gültige Bild vom bewegten Leben und Schaffen des Dichters, in dem die unbezwungene Kraft des abendländischen Rußland lebt.

Kindler, Klappentext, 1958

 

Pasternak

– Handschriftliche Aufzeichnungen 1930–1939. –

Erste Begegnung und Bekanntschaft mit Boris Leonidowitsch in der Redaktion der Krasnaja Now (Rotes Neuland) im Litfront – Sommer des Jahres 1930. An den Inhalt des Gesprächs, das bereits auf der Straße stattfand, erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich um diese Zeit auf die Idee verfallen war, einen Artikel über das Werk B. L.s1 in Form eines offenen Briefes zu schreiben. Von dieser Absicht unterrichtete ich B. L. Er war ernstlich erschrocken, denn er meinte, wenn der Artikel in Form eines offenen Briefes geschrieben werde, müsse er darauf antworten. Dieses Erschrecken wurde nicht durch den Artikel selbst hervorgerufen (über dessen Inhalt erzählte ich B. L. nichts), sondern allein durch die Tatsache, daß er eventuell darauf antworten müßte.
Die weiteren Begegnungen – bis zu der Majakowski gewidmeten Soiree Jachontows (1932, glaube ich) im Kleinen Saal des Konservatoriums – waren wenig bemerkenswert und uninteressant. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.
Auf dieser Soiree Jachontows begab ich mich während der Pause mit Boris Leonidowitsch in den Rauchsalon, wo sich sogleich ein lebhaftes, ja erregtes Gespräch über Majakowski zwischen uns entspann. B. L. erzählte, wie er vor der Revolution einmal bei Majakowski in Piter (Petersburg) in dem Hotelzimmer aufgekreuzt war, in dem jener damals wohnte. Es war vormittags. Majakowski stand auf, zog sich an und rezitierte dabei „Wolke in Hosen“ (woraus Jachontow gerade einige Abschnitte vorgetragen hatte, was B. L. zu dieser Erinnerung bewog). Eine heiße, durch nichts zu beeinträchtigende Verehrung für Majakowski als Dichter und Mensch sprach aus allen Sätzen Pasternaks. Zu guter Letzt weinte er wie ein Kind…
Schon viel früher, ich glaube 1929, fand das erste Telefongespräch mit B. L. statt. Ich schrieb an einem Artikel über ihn für die MSE (Kleine Sowjet- Enzyklopädie) und bat ihn telefonisch, mir seine Bibliographie durchzugeben. B. L. entschuldigte sich umständlich dafür, daß er sich für einen Augenblick vom Telefon entfernen müsse, um das Zugrohr vom überkochenden Samowar abzunehmen. Dann zählte er lange und ausführlich seine Bücher und die Artikel über ihn auf. Ich fragte ihn, ob er mir nicht Zwilling in den Wolken zu lesen geben könne, den ich sonst nirgends bekäme. B. L. riet mir, dieses Buch überhaupt nicht zu lesen, denn seiner Meinung nach verdiene es keinerlei Aufmerksamkeit.
Ich kehre nun zu einer mehr oder weniger klaren chronologischen Reihenfolge zurück.
Nicht uninteressant war B. L.s Verhalten auf zwei Abenden im Klub der FOSP2 im Jahre 1932, wo er Gedichte aus Die zweite Geburt vortrug. Heftige Erregung, Unterbrechen der Redner durch Zwischenrufe, Bestreben, bei den Zuhörern und dem Opponenten Verständnis für den Inhalt seiner Gedichte zu wecken… Leidenschaftlich-erregter Vortrag der Gedichte, wobei eine Reihe von Zeilen im Vergleich zu dem damals in den Zeitschriften abgedruckten Text variiert wurden (diese Varianten waren wahrscheinlich improvisiert).
[…] 

Ferner eine Reihe von Begegnungen und Gesprächen im Jahre 1934. Erstens nach der Veröffentlichung der ersten „georgischen“ Nachdichtungen3 B. L.s in der Iswestija. Begegnung am Puschkin-Denkmal auf dem Boulevard. Ich sagte, die Nachdichtungen seien sehr schön, aber wohl mehr Pasternak als die Georgier. Anfangs nickte Pasternak, aber dann erklärte er, wenn erst mehr Übertragungen von verschiedenen georgischen Dichtern – sie seien bereits teilweise fertig – erschienen seien, würde ich ihre individuellen Züge, ihre Unverwechselbarkeit erkennen und demzufolge meinen Vorwurf, die Übertragungen seien subjektiv, teilweise zurücknehmen.
Im Sommer 1934: Szene im Garten des Herzen-Hauses. Der kleine (13 bis 14 Jahre alte) Sohn B. L.s4streitet und rauft sich mit einem Jüngeren. Als B. L. das sieht, beschwört er seinen Sohn mit dramatisch-erregter Stimme, mit dem Raufen aufzuhören. Er geht dazwischen, trennt die Streithähne und regt sich furchtbar auf, obwohl die beiden Jungen sich im Grunde genommen mehr aus Spaß gerauft haben.
Etwa um diese Zeit Anruf B. L.s bei mir und Dank für das Vorwort zu dem im GICHL (Staatsverlag für Belletristik) erschienenen Band seiner Ausgewählten Gedichte. B. L. sagte mir, seiner Meinung nach habe noch niemand so „Ausgereiftes“ über ihn geschrieben, noch niemand ihn so – gut – wie ich verstanden. (Übrigens hatte B. L. das Vorwort erst nach Erscheinen des Buches zum erstenmal gesehen und gelesen.)
Natürlich bin ich von der Objektivität der Urteile B. L.s nicht sehr überzeugt und schreibe das alles keineswegs auf, um B. L.s gutes Verhältnis zu mir zu charakterisieren, sondern einfach, um seine unausgeglichene, exaltierte Überschwenglichkeit zu verdeutlichen. Aus demselben Grund fallen mir übrigens noch zwei Beispiele ein: Ungefähr gegen Ende 1930 wurde auf meine Initiative hin bei L.W. Warpachowski eine Lesung des Poems „Der Weg des Sozialismus“ von A.T. Twardowski veranstaltet (in Anwesenheit von B. L. und Frau, Asmus und Frau, D. Rabinowitsch, A. Less, A. Milikowskaja, L.W. Warpachowski, K. Waks u.a.). Ich weiß nicht mehr, was genau B. L. über Twardowskis Poem gesagt hat, doch auf jeden Fall hat er sich überaus begeistert darüber geäußert. Später, als ich das Poem zur Veröffentlichung im Verlag Mol. Gw. vorbereitete, bat ich B. L. um ein Gutachten. Er lieferte es bereitwillig, obwohl er befürchtete, sein Gutachten könnte nur eine für Twardowski nachteilige Situation heraufbeschwören. (Ich überzeugte B. L. vom Gegenteil.)
Immer noch zu eben dieser Überschwenglichkeit. Im Sommer 1934 äußerte B. L., als wir uns auf der Straße begegneten, überraschend den Wunsch, wir sollten uns häufiger treffen, um uns zu unterhalten, und erklärte, im Grunde genommen gefalle ihm zur Zeit die literarische Arbeit von nur vier Leuten: die N. Bucharins, die K. Fedins, die Al. Tolstois und – meine. Und wieder mache ich mir in keiner Weise etwas vor, sondern notiere es nur der Vollständigkeit dieses Manuskripts halber, für dessen Wahrheitstreue und größtmögliche Genauigkeit ich mich voll verbürge.
Ebenfalls im Sommer 1934: Gespräche über Assejews Referat5 auf der Versammlung der Moskauer Dichter, in dem dieser B. L. mit Besymenski6 verglich. B. L. könne – so behauptete er – gut schreiben, interessiere sich jedoch nicht für den Sozialismus. Bei Besymenski sei es genau umgekehrt. Aufs höchste empört über die LEF-Wortklauberei N. Assejews, saß B. L. dann mit mir im Garten des Herzen-Hauses und erbat meinen Rat, ob er Assejew antworten solle. Ich bestand darauf. B. L. wendete mit einer Art von kindlicher Hilflosigkeit ein:

Aber was soll ich denn sagen?

Dessen ungeachtet kam er zu der Dichterkonferenz, die wenige Tage später stattfand, und hielt eine recht komplizierte Rede, aber eine, die unmißverständlich, polemisch und ungewöhnlich ehrlich war. In der Litgaseta (Literaturzeitung) fiel diese Rede in dem Bericht über die Dichterkonferenz aus irgendwelchen Gründen unter den Tisch (vielleicht, weil der Reporter sie nicht verstanden hatte und sie nicht wiederzugeben vermochte?).
„Wenn die LEF-Leute statt auf Wörter auf Erdöl oder, sagen wir, auf Olivenöl reimen könnten, so würden sie das tun.“ (Hier zog B. L. gegen den Formalismus der LEF-Leute zu Felde.)
Der grundlegende, positive Tenor der Rede: 

Ich will nicht, daß wir, wenn wir von unserer Liebe und unserem Flieder sprechen, unbedingt darauf hinweisen, daß das kein faschistischer Flieder, keine faschistische Liebe ist. Sollen doch lieber die Faschisten über ihre Liebe und ihren Flieder schreiben, daß das keine marxistische Liebe, kein marxistischer Flieder ist. Ich will nicht, daß in der Poesie alles Sowjetische unbedingt gut ist. Nein, soll doch vielmehr alles Gute sowjetisch sein…

Übrigens hat der größere Teil der Zuhörer diese Rede so gut wie gar nicht begriffen und rezipiert. (Allerdings enthielt sie, d.h. die Rede, auch besonders viel von den üblichen Pasternakschen Ungereimtheiten und Nebulositäten.)
[…] 

Begegnung mit B. L. auf dem Lermontow-Abend im Haus des sowjetischen Schriftstellers am 26.10.1934. Eine freudige Begegnung. B. L. äußert den Wunsch, häufiger zusammenzukommen, um zu plaudern, und schenkt mir Pschawelas Büchlein Der Schlangenfresser in seiner Übertragung mit der Widmung: 

Meinem teuren Anatoli Tarassenkow, dessen Freund ich gern sein möchte. 26.10.34. B. P.
[…] 

Es folgt eine Aufzeichnung des Inhalts der Rede B. L.s über Lermontow, die er an diesem Abend7 gehalten hat. (Die Aufzeichnung erfolgte nach der Rede und erhebt deshalb, obwohl sie deren Inhalt genau festhält, durchaus nicht den Anspruch, die Eigenheiten Pasternaks als Redner wiederzugeben, was für gewöhnlich auf Grund der emotional bedingten Pasternakschen „Ungereimtheiten“, der Satzformen, Wiederholungen usw. äußerst schwierig ist. Nun die Nachschrift der Rede.
Zuerst entschuldigte sich B. L. dafür, daß er sich auf den Vortrag nicht vorbereitet habe und versprach, dieses Versäumnis durch seine weitere Arbeit „wiedergutzumachen“. Hoffnung darauf, „daß Sie und ich die Jahrestage 1937 und 1941 erleben werden“. „Zu der Zeit werden wahrscheinlich nicht wenige Arbeiten über Puschkin und Lermontow erscheinen. Auf dem Schriftstellerkongreß ist viel über das Zurückbleiben von Prosa und Poesie gesprochen worden. Gewiß, wir haben viele ausgezeichnete Prosaisten und einige Dichter. Aber die Stimme des Gewissens tief drinnen ist noch stärker als Reden auf einem Kongreß, als das schwache, matte Eingeständnis dieses Zurückbleibens. Ich“, sagte B. L., „bin mir dessen völlig bewußt, daß es in meinem Werk noch nichts Ernsthaftes über unsere bemerkenswerte Zeit gibt.“
„Puschkin und Lermontow. Wir atmen noch dieselbe Luft mit ihnen.“
„Glauben Sie nicht, daß ich, wenn ich von den beiden spreche, das tue, weil das Ausmaß meiner Unbescheidenheit so groß ist, daß ich nicht weniger als die beiden erfassen kann.“
„Puschkin und Lermontow sind für mich ein Paar. Lermontow wurde geboren, als Puschkin sechzehn Jahre alt war. Puschkin hat alles für Lermontow getan. Lermontow hat sich wie ein Schmarotzer ins gemachte Nest gesetzt. Puschkin ist der Baumeister, der Schöpferische, der Realist. Wir sehen das 18. Jahrhundert nicht mehr mit eigenen Augen und glauben deshalb allen möglichen Theorien darüber. Puschkin ist es, der uns den Blick darauf versperrt. Mit Puschkin aber beginnt die vertraute Atmosphäre des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Jahrhundert erreicht uns noch lebendige Kunde. In heutigen Begriffen ausgedrückt: Ich möchte gern einen Vergleich zwischen Puschkin und Lermontow – der Fünfjahrfeier des Aufbaus und der der Aneignung – ziehen. Lermontow hat sich eingelebt in das, was Puschkin geschaffen hat, und später ist das dann schon in den ganz intimen, familiären Tonfall von Lew Tolstois ,Kindheit, Knabenjahre und Jugendzeit‘ übergegangen.“
„Uns Russen ist es schon immer leichter gefallen, das Tatarenjoch zu ertragen und wieder abzuwerfen, Krieg zu führen und unter der Pest zu leiden als zu leben. Dem Westen hingegen hat sich das Leben immer leicht und alltäglich dargestellt.
Zum Schluß möchte ich mich nochmals dafür entschuldigen, daß ich mich nicht auf den Vortrag vorbereitet habe und verspreche, diesen Fehler durch Arbeit wiedergutzumachen.“
Nach Pasternaks Rede, in der Pause, sprachen wir wieder miteinander. Er bat mich, ihn anzurufen. Ich fragte, ob er denn in der nächsten Zeit in Moskau sei. Zu diesem Zeitpunkt war B. L. bereits von einer Menge Menschen umringt, die sich um seine Aufmerksamkeit u.a.m. bemühten. B. L. geriet in Verlegenheit und antwortete, mir naiv zuzwinkernd, er habe vor zu verreisen. Diese List wirkte über die Maßen komisch und naiv.
[…] 

Zu meinem großen Bedauern erinnere ich mich kaum noch an das lange Gespräch mit B. L. auf der Trauerkundgebung zum Gedenken an Kirow (im Vorstand des SSP/Sowjetischer Schriftstellerverbandes). Das einzige, was mir noch deutlich im Gedächtnis haftengeblieben ist, ist die Charakterisierung Marina Zwetajewas. Sie hatte ihm kurz zuvor einen Brief geschrieben. „Sie ist eine hervorragende Dichterin“, meinte B. L., „aber ich habe nicht gewußt, daß sie so närrisch ist. Ein regelrechter Teufel im Weiberrock.“ (Offenbar war das eine Anspielung auf die politische Erbitterung8 über die UdSSR.)

Begegnung mit B. L. während des Plenums des Vorstands des SSP9 (in den ersten Märztagen 1935). B. L. drückte mir lächelnd die Hand: „Wir kommen alle wieder täglich zusammen, wie in den Tagen des Kongresses.“ Das Wort „Kongreß“ (gemeint ist der Schriftstellerkongreß im August 1934) sprach er betont liebevoll und warm aus.
Im Sommer, im Juli 1935, nach dem Pariser Kongreß, kam er in die Redaktion der Snamja (Das Banner). Er sah sehr schlecht und ungesund aus. B. L. klagte, er könne nicht arbeiten, er schaffe nichts, er schreibe nicht, und auf dem Kongreß sei ihm sehr schwer ums Herz gewesen, denn Ehrenburg und Malraux hätten ihn, Pasternak, seiner Meinung nach über Verdienst gewürdigt.

Ich fühle mich sehr schlecht und einsam. Im Sommer hab ich mal bei Ihnen vorbeigeschaut, Sie aber nicht zu Hause angetroffen. Das hab ich sehr bedauert.
[…] 

Aufzeichnung vom 1.3.36
Nun geht der Winter zu Ende. In diesen Monaten gab es viele Gespräche und Begegnungen mit B. L., aber aus Bequemlichkeit habe ich sie dummerweise nicht aufgezeichnet, obwohl es dabei um Interessanteres als in den vorherigen ging. Trotzdem will ich versuchen, den Strang der Aufzeichnungen fortzuführen.
A. Gides Gedichte hat B. L. übertragen (s. Nr. 1 der Snamja, Jahrg. 1936). Die fertige Übertragung habe ich persönlich bei ihm abgeholt. Bei dem Wiedersehen küßten wir uns. In der Diele stehend, haben wir uns noch lange über etwas unterhalten.
Die wesentlichen Gespräche und Begegnungen mit B. L. waren in Minsk auf der Vollversammlung des SSP (Sowjetischen Schriftstellerverbandes) im Februar 1936. Ich erinnere mich noch an die Freude über die Versöhnung B. L.s mit Assejew, die Begeisterung angesichts der Verse B. Kornilows „Wie der Bär vom Honig Zahnschmerzen bekam“ und das in betrunkenem Zustand geäußerte vortreffliche Bonmot über L. Subozki:

Ich kenne Konserven von Krabben, von Strömlingen, von was Sie wollen, aber ich habe noch nicht gewußt, daß es auch Konserven von menschlicher Natur gibt.

Das sagte er zu Stscherbakow, als er am 17.2. von Golodeds Datsche zurückkam.
[…] 

Hier wird die chronologische Reihenfolge unterbrochen. Jetzt kommen keine Aufzeichnungen der Gespräche während der letzten vorhergehenden Tage. Sie folgen später. Ich gebe jetzt das Gespräch mit Pasternak vom 12.3. bei mir zu Hause wieder. (Anwesend waren]. Krekschin, B. Saks, O. Grusinowa und ich.) Pasternak kam unerwartet, um sich Rat zu holen, ob es sich lohne, daß er sich an der Diskussion im SSP über Formalismus und die Prawda-Artikel beteilige.

Lohnt es, sich zu beteiligen und dadurch ein Risiko einzugehen – aus diesem Anlaß?

Ich notiere einzelne Sätze und Formulierungen, denn das Gespräch trug einen allgemeinen und äußerst chaotischen Charakter. Pasternak war aufs höchste erregt und sprach mit selbst für ihn außergewöhnlicher Emotionalität und Aufgeregtheit. Er redete davon, daß diese ganze jetzige Geschichte absurd und beunruhigend sei und einen amArbeiten hindere. 

Unsere Zeit trägt Shakespearesche Züge. Wir sind in die Geschichte, in das Schicksal Frankreichs und Deutschlands mit einbezogen. Unser Staat wird von einem Objekt zu einem Subjekt der Geschichte. Da gibt es die Einheitsfront im Westen… Wir haben für die doch ein Gesicht, das wir selber noch nicht sehen.

„Die Iswestija (Die Nachrichten) hat in den letzten beiden Jahren Emanzipation betrieben. Dafür wurde Bucharin dort auch hingesetzt. Im Ausland gibt es die Einheitsfront mit uns. Aber damit sie ihr Anlegetau werfen können, ist ein Haken nötig, an dem sie ja festmachen müssen. Solch ein Haken war die Iswestija Doch jetzt weiß ich nicht mehr, wozu man die Iswestija noch weiter herausgeben soll – man braucht doch bloß die Auflagenhöhe der Prawda zu verdoppeln.“
„Die Prawda (Die Wahrheit) schreibt unverständlich. Was wollen die eigentlich? Lehrer, die Klarheit fordern, müssen sich selber klar ausdrücken.“
„Die Auseinandersetzung trägt den Charakter eines Streits um Termini. Aber sind Sie sich eigentlich über den großen Abstand klar, der einen Terminus von der Wirklichkeit trennt?“
„Der sozialistische Realismus wurde als Losung ausgegeben, als jedermann davon redete, daß schon alles in Ordnung zu kommen beginne; in der Iswestija fing man damals an, Natur und lächelnde Fotos abzudrucken. Gorki fügte dann die revolutionäre Romantik hinzu. Die Lyrik nimmt das Wort Liebe nicht in den Mund; das ist für sie ein ständig zu lösendes Problem. Die Menschen aber begreifen den sozialistischen Realismus als Telefonvermittlung, in die man sich einschalten kann.“
„Formalismus ist das, was ich Ihnen einst über die Entartung der LEF-Anhänger gesagt habe. Wenn man nicht nur Wörter reimen könnte, würden sie so weit gehen, auf Öl oder auf Holz zu reimen.“
„Unser Leben ist selbständig geworden, es ist mit allen Nervenfasern erwacht, es ist voller Überraschungen. Nehmen wir die Kollektivierung. Es entstand so etwas wie eine gefährliche Strömung. Viele Leben sind da hineingeraten. Aber auch wenn man wußte, daß das Leben den Weg durch diese Strömung nehmen würde, ist selbst die Tatsache, daß es seinen Weg nahm, eine großartige Überraschung. Genau solch eine Überraschung, ein Geschenk ist die Stachanow-Bewegung.
Wir haben noch nicht das 19. Jahrhundert des Sozialismus, wo man vor lauter Überdruß und Sodbrennen eine Madame Bovary zu schreiben anfängt. Ich habe einen Roman über die Mißerfolge, die Erfolge und die Mißverständnisse der Kollektivierung geschrieben. Aber er ist nicht gelungen.“
„Ich will ein Sowjetmensch sein.“
„Es ist zu wenig, einfach nur ,sowjetisch‘ zu sein; man muß zu diesem Adjektiv noch ein Substantiv hinzufügen. Bei uns jedoch verzichtet man oft darauf.“
„Die sprichwörtlichen Redensarten ,Das ist eine zu harte Nuß für mich‘ oder ,Ihm brennt der Boden unter den Füßen‘ ist das auch Formalismus? Warum sagt man ,brennt‘?“
„So war es noch unlängst. In den Zeitungen Natur, lächelnde Fotos. Auf die Rednertribüne kommt man mit einem gewissen Enthusiasmus, man spricht und schreibt voll Enthusiasmus. Jetzt aber tut sich jeder Gewalt an. Man sagt, was vor einem bereits gesagt worden ist…“
„Statt Kreise im Wasser von einem geworfenen Stein (veröffentlichten Gedichten oder Reden) auf einmal umherfliegende gläserne Spritzer.“
„Schien es doch, als würden alle freier, als stünden wir kurz vor einem Demokratismus, so schien es, und als würde nun die Zensur gelockert werden, doch die Schraube wird bis zum Schlitz angezogen.“
[…] 

Jetzt notiere ich die Gespräche, die tags zuvor, am 11.3.36, stattfanden. B. L. und ich hatten vereinbart, daß er am Abend zu mir nach Hause kommen und mir die Gedichte für die Snamja bringen solle. Eine gute Stunde später rief er an und bat mich, um 8.30 Uhr ins DSP (Haus des Schriftstellerverbandes) zu kommen – er würde mir die Gedichte dort übergeben. Ich kam hin. An einem Tisch im Restaurant saßen dann Pilnjak, Becher, Pasternak, die Tschebotarjowskaja, noch ein Deutscher und ich zusammen. Das Gespräch drehte sich um die Formalismus-Diskussion. Pasternak meinte, die Diskussion finde statt, weil die Wirklichkeit mit der Kunst unzufrieden sei, aber diese Unzufriedenheit dumm und ungeschickt zum Ausdruck bringe; die Termini „Formalismus“ und „Naturalismus“ besagten gar nichts, mit ihnen jongliere man ohne Sinn und Verstand herum; wenn morgen eine neue Kampagne beginne, würden sich dieselben Leute wieder zu Wort melden, vielleicht sogar mit der entgegengesetzten Meinung. Dann übergab er mir die Gedichte und meinte, ich solle sie mir nicht jetzt ansehen, sondern sie zu Hause lesen, diese Gedichte seien schlecht,10 Überhaupt falle es ihm schwer – und entführte mich in eine Versammlung, in der Malraux auf französisch eine lange Rede über die Arbeit des vom Kongreß für die Verteidigung der Kultur geschaffenen Büros hielt.
[…] 

Am 3.5.36 waren die Mustangowa und ich bei Pasternak. Vorher hatte er ein Zahngeschwür, man zog ihm den Zahn; u.a.m. Wir führten ein langes Gespräch über Dichtung und die Situation in der Literatur, ja sogar noch weitgehender: über die Realität. Pasternak erzählte, daß er gerade die Überarbeitung seiner Übersetzung eines kriegshistorischen Dramas von Kleist11 abgeschlossen habe (das er der Snamja zum Abdruck anbieten wolle) und jetzt die Arbeit an einem Poem über einen revolutionsgeschichtlichen Stoff aufnehmen wolle; es solle in der Art des Poems über das Jahr 1905 gestaltet werden. Ich schlug vor, entweder bei mir, bei B. L. oder bei Rejsin eine Lesung aus seiner Übersetzung des Kleistschen Dramas zu veranstalten, doch B. L. lehnte ab, weil er befürchtete, bei einer solchen Lesung würde aus Dankbarkeit für den getrunkenen Tee nicht die ehrliche Meinung geäußert.
Als am schrecklichsten an der gegenwärtigen Lage der Dinge empfindet Pasternak eine gewisse Schönfärberei und Kriecherei, die sich in der Literatur breitgemacht haben. „Selbst die Verwandten Andrej Belys, meine Freunde, Bewohner der Gegend am Arbat, auch die machen höchst erstaunte, ja schockierte Gesichter, wenn ich irgend so was loslasse wie bei einer Diskussion, in deren Verlauf ich erklärte, ich hätte die Kollektivierung erst 1934 begriffen. Bei uns mangelt es am Streit der Meinungen, an der Auseinandersetzung zwischen Standpunkten. Selbst an sich ehrliche Menschen fangen an, mit fremder Zungen zu reden. Da habe ich an Bucharin geglaubt“, sagte B. L., „habe gedacht, er sei prinzipienfest, weil er Mitarbeiter der Iswestija ist, und bin nicht zur Prawda gegangen (obwohl man mich dort haben wollte), wußte ich doch, daß die beiden Zeitungen einander befehden. Und nun stellt sich heraus, daß auch Bucharin nur Artikel mit derselben, der allgemeinen Meinung druckt. Ich bin aufgefordert worden, mich für die 1. Mai-Nummer der Iswestija zum Thema Freiheit der Persönlichkeit zu äußern. Da habe ich geschrieben, die Freiheit der Persönlichkeit sei etwas, für das man täglich, ja stündlich kämpfen müsse. Natürlich haben sie das nicht gedruckt… Und was passiert in der Prawda? Da drucken sie erst die Artikel einer Valja Gerassimowa gegen Schablone und mangelnde Individualität des Heldenbildes, und dann auf einmal folgen Tadel, weil sich da jemand herausnimmt, seine eigene Meinung zu haben. Wir durchleben eine schwierige Zeit. Wir befinden uns in einem Unterseeboot, das eine schwierige historische Fahrt unternimmt. Manchmal taucht es auf, und dann kann man eine Prise Luft schöpfen. Statt dessen will man uns einreden, wir führen auf einem prächtigen Schiff, auf einer Luxusjacht, und ringsum eröffneten sich großartige Aspekte. Und die Menschen fangen an, das zu glauben und dem ehrlich zuzustimmen. Selbst so klarblickende Leute wie Budanzew beginnen sich mit diesem ganzen Humbug anzufreunden. Ich sehe meine Aufgabe darin, von Zeit zu Zeit unangenehme Dinge auszusprechen, die Wahrheit über all das zu sagen. Es tut not, daß auch andere damit anfangen. Wenn die Menschen sehen, mit welcher Hartnäckigkeit ein und derselbe Gedanke wiederholt wird, werden sie auch erkennen, daß man die Lage der Dinge verändern muß, und wird sie dann vielleicht auch wirklich verändern. Bei uns greift man manchmal zu liberalen Winkelzügen und sagt, man könne doch über Liebe und Natur schreiben. Wem nützt das? Sind denn die Themen das Problem für die Kunst? Der Künstler löst diese Themen jedesmal neu. Und man möchte durchaus nicht über alles mögliche schreiben – und eben das begreifen verschiedene Fachleute in Sachen Präsidien wie Kirpotin nicht.
Mir sind jede Bequemlichkeit, jede Gewohnheit und Beständigkeit zuwider. Selbst als sich bei den LEF-Leuten, noch zu Majakowskis Zeiten, so etwas wie eine eigene, wenn auch eine LEF-Bequemlichkeit breitmachte, habe ich entschieden dagegen protestiert. Die Menschen bei uns gewöhnen sich an mechanisches Denken und fangen an, wie ein Papagei alles nachzuplappern.“ 

Später kamen noch Asmus12 und Andronikow mit ihren Frauen, die abwesende Sinaida Nikolajewna kehrte zurück, und das Gespräch wurde nun weit praktischer. Bemerkenswert war B. L.s Bericht über seine Fahrt zur Fabrik „Kugellager“ im Jahre 1932, kurz nach dem 23. April, an dem sich das Organisationskomitee konstituierte. Das war eine lange, komische und verworrene Geschichte, wie ein gewisser N., ein Arbeiter, bei Pasternak anrief und ihn in die Fabrik einlud. B. L. fuhr hin, las über den Werkfunk Gedichte vor, ohne zu wissen, wer daran interessiert war, und kam danach auf Drängen N.s mit zu ihm nach Hause. „Ich erinnere mich noch an ein leeres Zimmer“, erzählte B. L., „in dem sinnlos ein Lautsprecher brüllte, an schlafende Kinder und ein beginnendes Gelage. Dann fand sich noch ein Kollege ein, und das Gelage artete immer mehr aus, wir gingen zum Du über und wurden Freunde. Um zwei Uhr nachts – in die Fabrik war ich um zwölf Uhr mittags gekommen – nahm man mich, um mich mit dem Auto nach Hause zu bringen. Als wir auf den Hof kamen, stießen wir auf jemand, stritten uns heftig mit ihm und hätten uns beinahe geprügelt; hinterher stellte sich heraus, daß das ein Vorgesetzter meines neuen Freundes war. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Am nächsten Tag ruft mich N. an, wobei er mich duzt und bittet, in einer äußerst wichtigen Angelegenheit kommen zu dürfen. Wie sich herausstellt, hat man ihn wegen Randalierens im trunkenen Zustand entlassen und ihm die Werkswohnung gekündigt. Ich mußte ihm durch Gronski eine neue Arbeit besorgen. Seit jener Zeit ruft er mich regelmäßig an, wenn er wieder einmal seine Arbeit verloren hat, und ich muß ihn immer wieder neu unterbringen. Er hat schon lange nicht mehr angerufen – das bedeutet, daß er es bald wieder tut.“
Ausführlich und mit einer Menge lebendiger Details erzählte B. L. die ganze Geschichte und mußte selber schrecklich dabei lachen.
Hierauf führte Andronikow seine parodierende Imitationsnummer „Pasternak“ vor (ferner „Tolstoi“ und andere aus früheren Zeiten). B. L. lachte Tränen; dann erläuterte er Andronikow ausführlich, was er an dessen Nummer für am gelungensten hielt und worüber sich streiten ließe. Das alles dauerte fast bis drei Uhr nachts.
An eben diesem Abend versprach B. L., mir in Kürze seine Übersetzung des Kleist-Stücks für die Snamja zu bringen, das thematisch für die Zeitschrift in Frage komme.
[…]

Meine offenbar letzte Aufzeichnung mache ich am 4. Juni 1937, nachdem man meine Artikel über Pasternak bereits einer vernichtenden Kritik unterzogen hat und nachdem wir uns im November 1936 überworfen haben…
Im Sommer 1936 war ich drei-, viermal bei Pasternak auf der Datsche. Das waren eigenartige Streitgespräche, in denen ich bereits spürte, daß ich mich von Pasternak entfernte, aber immer noch bemüht war, ihn irgendwie zu verstehen. Dieses Verständnis wurde jedoch immer illusionärer. Und Pilnjak und Selwinski, die mit B. L. befreundet waren, wurden mir immer unsympathischer. Das habe ich ihm offen und ehrlich gesagt, und er hat mir auch halb beigepflichtet, unterhielt jedoch trotzdem weiter enge Beziehungen zu ihnen. Weit schärfer setzten wir uns über Pawel Wassiljew auseinander, den B. L. für einen talentierten und bedeutenden Dichter hielt.
Wenn wir baden gingen und uns über das Mittagessen, das Wetter, die Natur, Sharow oder Althausen unterhielten, ging alles gut. Aber sobald wir auf gewichtige literarische Fragen zu sprechen kamen, ließ das gegenseitige Verständnis nach.
Ich erinnere mich noch an B. L.s unglaubliche Empörung darüber, daß ein Reporter ihn über die Versorgung der Datschenbesitzer in Peredelkino durch das Lebensmittelgeschäft interviewen wollte. Man wollte B. Leonidowitsch sogar dazu bringen, sich vor einem Lastwagen fotografieren zu lassen, der Lebensmittel nach Peredelkino gebracht hatte…
Ich weiß auch noch, wie ein Reporter der Litgaseta B. L. zu überrumpeln versuchte, indem er ihn aufforderte, sich zu gewissen Vorfällen zu äußern. Höchst ungern und mit Müh und Not rang sich B. L. unter gutem Zureden durch P. Pawlenko dazu durch.
B. L. sprach – recht unbestimmt – über seinen Roman, an dem er schrieb. Mit großem Interesse las er Tarlés Buch über Napoleon, das ich ihm gegeben hatte. Er erzählte, daß er jetzt die vielbändige Geschichte der französischen Revolution von Michelet lese. 

Dann traten Ereignisse ein, die mit dem Trotzkisten-Prozeß13 (Kamenew – Sinowjew) in Zusammenhang standen. Nach Informationen Stawskis lehnte es B. L. anfangs ab, die Adresse des Schriftstellerverbandes mit der Forderung, diese Banditen zu erschießen, zu unterschreiben. Unter Druck gesetzt, erklärte er sich dann bereit, seinen Namen doch nicht aus der bereits getippten Unterschriftenliste streichen zu lassen. In meiner Stellungnahme in der Aktivsitzung der Snamja am 31. August 1936 habe ich B. L. deswegen scharf kritisiert. Offenbar hat ihm das der bei der Versammlung anwesende Asmus mitgeteilt.
Als ich danach einmal bei B. L. war, zeigte sich, daß unser Verhältnis zueinander weiter abgekühlt war. Und obwohl B. L. der mich angreifenden Sinaida Nikolajewna gegenüber, die das Verhalten ihres Mannes in dieser Frage voll und ganz billigte, meine Stellungnahme zu ihm sogar ein bißchen zu „rechtfertigen“ versuchte, war ersichtlich, daß der Bruch nicht mehr fern war.
Einige Zeit später schrieb ich B. L. einen Brief, in dem ich ihm mitteilte, daß ich ihn aufsuchen und mit ihm sprechen wolle, bekam aber keine Antwort. Auf dem Bankett zu Ehren der neuen Verfassung – im DSP (Haus des Schriftstellerverbandes) – sprach ich B. L. wegen dieses Briefes an. B. L. drehte und wand sich und gab mir keine direkte Antwort auf meine Frage, weshalb er ihn nicht beantwortet habe. Dann kamen wir unversehens auf A. Gide14 zu sprechen. Wir waren beide ein bißchen in Rage, und unsere Formulierungen klangen scharf und entschieden. Es lief darauf hinaus, daß B. L. Gide verteidigte. (Es ging um sein der UdSSR gewidmetes Buch.) Ich äußerte mich scharf dagegen. Wenn man bedenkt, daß B. L. mir im Sommer von seinem Gespräch mit A. Gide erzählt hatte, in dem der das Vorhandensein persönlicher Freiheit in der UdSSR geleugnet hatte, bekommen diese Äußerungen Pasternaks einen bestimmten politischen Sinn. Im Ergebnis dieses Gesprächs kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung und zum Bruch. B. L. erklärte, ich verträte ja die allgemeine offizielle Meinung und er habe kein Interesse mehr, sich mit mir zu unterhalten.
Später ging Stawski in seiner Rede auf dieses unser Gespräch ein, das viele (Dolmatowski, Ark. Kogan u.a.) mit angehört hatten.

Anatoli Tarassenkow, aus Erinnerungen an Boris Pasternak, herausgegeben von Franziska Thun, Aufbau Verlag, 1994
Übersetzung Margit Bräuer

 

 

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Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Boris Pasternak

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Felix Philipp Ingold: Boris Pasternak (1890-1960)

Thilo Koch: Boris Pasternak als Stimme des anderen Rußland

Gerd Ruge: Begegnung mit dem anderen Rußland

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Martin Beheim-Schwarzbach: Boris Pasternak im Selbstbildnis

René Drommert: Boris Pasternak als Übersetzer

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Flg.: Ein Dichter in der Sjetsch
Die Tat, 10.2.1960

Heinz Schewe: Boris Pasternaks 70. Geburtstag

 

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