Mechthild von Magdeburgs Gedicht „Die Wüste hat zwölf Ding“

MECHTHILD VON MAGDEBURG

Die Wüste hat zwölf Ding

Du sollst minnen das Nicht,
Du sollst fliehen das Icht.
Du sollst alleine stahn
Und sollst zu niemand gahn.
Du sollst sehre unmüßig sein
Und von allen Dingen frei sein.
Du sollst die Gefangenen entbinden
Und die Freien zwingen.
Du sollst die Siechen laben
Und sollst doch selbst nichts haben.
Du sollst das Wasser der Pein trinken
Und das Feuer der Minne mit dem Holz der Tugend entzünden,
So wohnest du in der wahren Wüste.

nach 1250

 

Konnotation

Auf Wunsch ihres Beichtvaters begann die erste deutsche Mystikerin Mechthild von Magdeburg (1207/08–ca. 1282) nach 1250 ihre mystischen Visionen und geistlichen Eingebungen aufzuzeichnen. Bis 1270 wurden daraufhin sechs der sieben Bücher, die Mechthild unter das Motto Das fließende Licht der Gottheit stellte, auf Pergament gebracht und vom Dominikanerpater Heinrich von Halle mit Kapitelüberschriften versehen.
„Die Wüste hat zwölf Ding“ ist als frommer Tugendkatalog angelegt: Mechthild predigt die freiwillige Armut („Du sollst minnen das Nicht“), die Absage an die Selbstsucht, die moralische Eigenverantwortlichkeit („Du sollst alleine stahn“) die Fürsorge für die Kranken und Schwachen „die Siechen laben“) und die Bereitschaft, im Dienst an Gott auch Erfahrungen der Entbehrung und des Schmerzes zu akzeptieren. Nur so finde man den Weg in die „wahre Wüste“ – in die unverstellte Einheit mit Gott.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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