Elisabeth Borchers’ Gedicht „Was alles braucht’s zum Paradies“

ELISABETH BORCHERS

Was alles braucht’s zum Paradies

Ein Warten ein Garten
eine Mauer darum
ein Tor mit viel Schloß und Riegel
ein Schwert eine Schneide aus Morgenlicht
ein Rauschen aus Blättern und Bächen
ein Flöten ein Harfen ein Zirpen
ein Schnauben (von lieblicher Art)
Arzneien aus Balsam und Düften
viel Immergrün und Nimmerschwarz
kein Plagen Klagen Hoffen
kein Ja kein Nein kein Widerspruch
ein Freudenlaut
ein allerlei Wiegen und Wogen
das Spielzeug eine Acht aus Gold
ein Heute und kein Morgen
der Zeitvertreib das Wunder
das Testament aus warmem Schnee
wer kommt wer ginge wieder
Wir werden es erfragen.

1986

aus: Elisabeth Borchers: Alles redet, schweigt und ruft. Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002

 

Konnotation

Folgt man den christlichen und islamischen Mythen, ist das Paradies ein Ort der Harmonie, an dem alle Gegensätze aufgehoben und alle Konflikte versöhnt sind. Nicht so in dem Gedicht der 1926 geborenen Dichterin Elisabeth Borchers. Zwar werden alle gängigen Legenden und Topoi vom umhegten Garten Eden zitiert. Zugleich wird aber deutlich, dass auch das Paradies seine Begrenzungen und seine Tücken hat.
In ihrem 1986 erstmals publizierten Gedicht zeichnet die Autorin das Paradies zunächst als eine verschlossene Festung, die nach außen hin hermetisch abgeriegelt ist. Zwar wird anschließend die Magie der Düfte und Naturlaute beschworen, die an diesem Ort zur Entfaltung kommen. Dagegen werden ambivalente Eigenschaften des Paradieses benannt, etwa der Umstand, dass es dort „kein Hoffen“ und keinen „Widerspruch“ geben kann. Am Ende steht eine fragende Haltung und ein paradoxes Bild. Ein „Testament aus warmem Schnee“ – das ist nicht nur ein rätselhaftes Oxymoron, sondern auch ein hier unerwarteter Hinweis auf Vergänglichkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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