31. August

Wach erst um acht. Habe verschlafen, und wie immer, wenn ich verschlafe, sind die Träume weg: Ich weiß nur, ich war in jener Welt zugange, habe viel gesehen und erlebt, aber mehr als dieses vage Wissen – eigentlich bloß eine schwache Ahnung – bleibt nicht. Seltsame Befindlichkeit! Eine Erinnerung an etwas zu haben, an das man sich nicht erinnern kann. Und noch eine Seltsamkeit – wenn ich darauf achte, mit welchen Lauten, Wörtern, Sätzen ich jeweils den Tag beginne. Was sagt man, ohne sich an jemand anderes zu richten, als Erstes nach dem Aufwachen, im Übergang aus dem Traum, beim Hochtauchen aus dem Schlaf, bei noch unvollständigem oder verwirrtem Bewusstsein! Ich vermute … ich fürchte, das meiste davon entgeht mir, ist automatisches defektes Daherreden, wird informell und absichtslos gesagt, nur damit es – vor aller Bedeutung – verlautet. – Gestern ein ganzer TV-Abend zum Thema »Zahl und Zeit« – diverse Filme (mit den leider obligaten Einspielungen von Kostümepisoden und musikalischer Untermalung) zu Fragen der Astronomie, Geometrie, Zeitrechnung, Wahrscheinlichkeit, Kalenderkunde, zu Mensch und Natur, mit Beispielen wie Stonehenge oder die Pyramidentempel und Observatorien der Maya. Die Einsicht ist faszinierend und ernüchternd zugleich, weil klar wird, was Menschen einst, vor Tausenden von Jahren, zu erkennen und zu leisten vermochten ohne technische Hilfskonstrukte wie Mikroskop, Fernrohr, Flaschenzug, Kreissäge, Dynamit usf. Gehirn, Augen, Arme, Rumpf waren die hauptsächlichen Gerätschaften und Werkzeuge, sie wurden gewalthaft zu menschlichen Megamaschinen zusammengezwungen. Darauf fehlt aber auch in dieser jüngsten Filmdokumentation jeder Hinweis … darauf, was die Errichtung jener gewaltigen Anlagen an physischer Kraft, an kollektiver Zwangsarbeit gekostet hat – etwa die Aufstellung der tonnenschweren Stelen von Stonehenge oder die Cheopspyramiden, an denen Generationen von Menschen als Sklaven gearbeitet haben müssen. Anderseits sind daraus funktionale Bauwerke von unübertroffener Schönheit erwachsen … erwachsen – als wäre ihre gewalthafte Entstehung ein organischer Prozess gewesen. –… aber leider kann ich ja nur eine Person in mein Auto aufnehmen, der Zweisitzer ist zu eng, wie machen wir das denn nun, frage ich meine Eltern, die mitfahren möchten. Vater besteht darauf, dass wir uns arrangieren, er zwängt sich (mühelos!) in die Nische hinter den beiden Vordersitzen, Mutter nimmt neben mir Platz. Wir fahren im Halbdunkel auf einem Feldweg, der sich in vielen Windungen zwischen Hügeln und um Waldstücke herum dahinzieht, bis wir in Olten oder Aarau ankommen. Zwischenstation. Wir wollen uns die Füße ein wenig vertreten, uns ein wenig recken vor der Weiterfahrt, Vater bastelt an meinem Fahrersitz herum und entdeckt plötzlich eine Möglichkeit, die Nische dahinter so zu erweitern, dass er umgekehrt zur Fahrtrichtung ziemlich bequem darin Platz nehmen kann. Nach kurzer Weiterfahrt bleiben wir auf der Autobahn in einem Stau hängen, müssen anstehen, warten in einer langen Schlange zusammen mit beliebig vielen Immigranten (?), alle sehr dunkel, mit dichtem Kraushaar, die Frauen üppig, alle ganz ruhig, geduldig schweigend, bis sie an der Reihe sind. Ein paar Schritte vor mir erkenne ich, obwohl ich sie nur von hinten sehen kann, Krys, gehe zu ihr hin, frage sie: Wartest du auch? Oder wartest du auf mich? Erst in diesem Augenblick dreht sie sich zu mir um, sie ist sehr schmal und grau geworden im Gesicht, trägt schütteres, fast schon weißes Haar, ihre Schultern fallen ab. Die verwaschene Bluse mit dem weiten Ausschnitt lässt ihren faltigen Hals unschön hervortreten. Nein, ich muss erst mal ein Bad nehmen, sagt sie, ohne im Geringsten überrascht zu sein, dass ich da bin und sie anspreche. Alles ist wie früher, denke ich, die Wanne ist fast schon vollgelaufen, der Schaum türmt sich zu einer Blumenkohlwolke, Krys knöpft die Bluse auf, lässt sie fallen, ihre linke Brust ist zur Hälfte amputiert, der obere Teil bis hinunter zur Brustwarze entfernt. Krys gibt sich völlig ungeniert, ich übrigens auch, sie hat sich nun ganz ausgezogen, wir stehen dicht voreinander, umarmen uns nicht … haben uns noch nicht einmal umarmt und sind schon wieder wunderbar vertraut. – Ich kenne meine Wohnungsnachbarin, eine betuchte Zahnarztwitwe, als verbitterte, tief vornübergebeugte, durch eine riesige Hornbrille mich und den Rest der Welt aggressiv musternde Zeitgenossin. Doch heute begegne ich ihr (zum ersten Mal) in der Tiefgarage, sie kommt mir, offensichtlich ohne mich zu erkennen, beschwingt tänzelnd entgegen, hält an der Leine ihr winziges Hündchen, trällert ein Liedchen vor sich hin, fordert das Tier mit der linken Hand zum Hüpfen auf und … aber augenblicklich verstummt sie, als sie mich erkennt, geht wie üblich finster blickend an mir vorbei und zeigt mir verächtlich ihren knochigen Buckel. – Workshop (Donnerstag bis Samstag im Arc) zu »Lust an der Kopie«; achtzehn Teilnehmer, geschätztes Durchschnittsalter sechs-, siebenundzwanzig, die meisten von ihnen aus dem IT-Bereich, Digitalkünstler, -techniker, -theoretiker usf. Für mich, der ich als außenstehender Kulturreferent eingeladen bin, sind das lauter Namenlose – so, wie auch ich für sie ein Nobody bin. Ich übernehme das Eröffnungsreferat, weil ein Kollege, der über Plagiat und Kopie reden sollte, ausgefallen ist. Meine These ist, dass das Spiel mit Original/Kopie, wie die Anthologie es darstellt und seit der Antike realisiert, für die Literatur insgesamt charakteristisch ist: Originale werden kompiliert, kopiert, neu komponiert und bilden dann auch ein neues, oft mit einem Autornamen versehenes Werk (Diogenes Laertios, Anthologia Probae usf.). So neu sind die heutigen Copy-and-paste-Verfahren also nicht … nicht jedenfalls in der Intention; die technische Umsetzung ist eine andere Sache. Ich kann mit meinen Ausführungen nur wenig Interesse gewinnen, Rückfragen gibt es kaum, ich fürchte, die Teilnehmer können oder wollen meine Analogiebildung zwischen anthologischen Textverschnitten und aktuellen künstlerischen Verfahren wie Sampling, Covering, Plagiat, Imitat, Fake usf. nicht mitvollziehen. Es folgen, über zweieinhalb Tage hin, lauter frei und hochgemut vorgetragene, unstrukturierte, rein resümierende und völlig unkritische Referate mit unzähligen Bildbeispielen, alles dargeboten, würde ich sagen, mit wegwerfender Begeisterung. Derweil an meiner Seite der Workshopchef unentwegt Fotos schießt, Mails abruft und verschickt, elektronische Zeitungen liest, seinen Blog alimentiert, seinen Fuß – mal den einen, mal den andern – übers Knie legt, so dass ich auf der grob gerippten Sohle des Billigschuhs die Preisetikette lesen kann. Soviel zum Arbeitsstil dieser nachrückenden Experten, die mir schon heute sagen können, womit in den Jahren 2015 oder 2050 mit Sicherheit zu rechnen ist – sei’s im Verkehrs- und Kommunikationswesen, sei’s in der Haushalts- oder Medizinaltechnik, im Gebrauchsdesign, im Städtebau, in der Buchhaltung, in der Bionik, Kosmetik, Robotik und Prothetik usf. Diese Leute wissen alles und noch viel mehr, sie wissen auch … sie glauben auch zu wissen, dass ihr Wissen eine Macht darstellt, die einst … die bald entscheidend auf Politik, Wirtschaft, Alltagskultur, Arbeitswelt einwirken wird – ein Wissen, das sich gänzlich abgekoppelt hat von dem, was für meine Generation unter dem Titel Allgemeinbildung hochgehalten wurde. Philosophie, Geschichte, Literatur sind sind nicht mehr von Interesse, bevorzugt werden im Kulturbereich die Computerkünste, Werbedesign, Comics, Gadgets aller Art, soweit sie bild- oder objektbezogen sind. Spaß und Gewinn bestimmen solches Fortschrittsdenken. Die Sprache wird hier ausschließlich physikalisch und quantitativ aufgefasst – bei der Entwicklung von Hightech-Hörgeräten zum Beispiel, von Spezialmikrofonen, drahtloser Sprachübermittlung oder elektronischer Textübersetzung. All diese praxisorientierten Entwicklungen sind auf die Gebrauchssprache ausgerichtet, dienen einzig der Sprache als Kommunikationsmittel, verfehlen deren sinnliche und ästhetische Qualitäten, bleiben deshalb ohne jede Relevanz für den künstlerischen Spracheinsatz. »Das überlassen wir gern den Poeten«, sagt der Moderator in seinem Schlusswort. – Nach tagelangem Fön mit hoher Klarsicht kommt nun hier ein schwerer Landregen auf, durchwirkt von Nebelschwaden, aber auch von letzter spätsommerlicher Wärme, seltsame Zwischenzeit oder … oder genauer – Unzeit zwischen den Zeiten: Atemstillstand vor der Katastrophe. Doch vor wessen Katastrophe? Vor meiner, vor unsrer, eurer Katastrophe? Es ist ja ebenso tröstlich wie furchterregend, dass Katastrophen, große wie kleine, ausschließlich den Menschen treffen … ausschließlich unsereinen betreffen können. Allem andern – dem Stein, dem Stern, dem Baum, dem Wolf, der Wolke – ist die Katastrophe egal. Und umgekehrt ja auch. – Bin schon wieder – widerwillig wie immer – zu einer großen Tagung angereist, eben werden wir in einem altertümlichen weitläufigen Berghotel einquartiert. Wir sollen uns erst mal in der Mensa versammeln, um dort begrüßt zu werden, den Tagesbefehl entgegen zu nehmen. Aber vorab will ich mein umfangreiches Gepäck im Zimmer abstellen, mich umziehen. Endlos erstreckt sich der Korridor – es scheint nur diesen einen zu geben – durch das gewaltige Gebäude, er ist so niedrig, dass ich mich beim Gehen bücken muss, die vielen Knickstellen und Absätze lassen vermuten, dass das Hotel mehrfach um- und ausgebaut worden ist. Mit gesenktem Kopf, den Laptop über der einen Schulter, die bleischwere Reisetasche über der andern, bewege ich mich durch … bewege ich mich entgegen einem dichten Strom von lauter unbekannten, fröhlich plaudernden und frech lachenden Zeitgenossen, vorwiegend Frauen in grob karierten weiten Röcken und schmatzenden Sneakers. Ich suche … ich muss die Nummer 218 finden, doch die meisten Türen – wie übrigens auch die Decke und die Wände des Korridors – sind mit ölig schimmerndem Dreckweiß frisch gestrichen. Jetzt bleib ich stehn, richte mich auf, schlage mit der Stirn an die Deckenlampe, frage nach meiner Nummer, nach meinem Zimmer, und da niemand Antwort gibt, schreie ich ungehalten in die Runde. Die Runde – ein einziger dunkler Mund mit beliebig vielen spitzen Glitzerzähnen – gähnt mich von allen Seiten an, doch weiter vorn, bei der Verzweigung des Korridors, warten schon Magi Wexler und Ursula Krechel, sie warten so angestrengt, als erwarteten sie tatsächlich mich, stehen da, derweil ein kleiner Junge mit blondem Wirrkopf um ihre Schuhe herum und zwischen ihren Beinen durch krabbelt. Wie ernst, frage ich mich, kann das gemeint sein? Wozu, von wem bin ich eigentlich eingeladen? Ursula zeigt mit ihrem matt schimmernden Lederhandschuh auf das Schild mit der verschmierten Nummer 218. Wir gehn, sagt Magi, schon mal vor; und mit ihren grauen, gelbsträhnigen Stirnfransen sieht sie nun eher wie Sylvia Altwasser aus. Auch diesmal habe ich schlecht gepackt, Hemden und Socken vergessen. Was tun? Wie geh ich nun zum Empfang? Da ich nur mein ärmelloses T-Shirt und meine Ellbogenschoner anhabe und … aber nichts zum Überziehn dabei, entrolle ich meinen Regenschutz – geht ja! Ich lege ihn wie ein Hemd an, den untern Teil stopfe ich in die Hose, die ich nun aber kaum noch schließen kann. Dass die Krechel mit dem Doktor Knoefel angereist ist, erstaunt mich nur im ersten Augenblick … beim ersten Augenkontakt mit dem seit der vorigen Tagung auffallend verjüngten Kollegen, der nun an der Sprossenwand hochsteigt und vom Weltgebäude herab mit ruderndem Arm hinausweist auf das gewaltige Panorama, nein, ja, ich war zwar oft schon da, aber dieses Panorama – von drei, vier in die Tiefe gestuften Gebirgsketten sind wir hier … nur ein Wort fällt mir dafür ein … sind wir hier »umfriedet«. Knoefel ruft uns zur Erhebung auf, er ist braungebrannt und schüttelt seine kleine schwarze Faust, und behauptet, dass es keinen Gott, aber einen Andern gebe. Und so fort. Und da der Bahnhof inzwischen bombardiert worden ist, versammeln wir uns im strömenden Regen weit draußen im Gleisfeld. Die Regenhaut habe ich aus dem Gürtel gezogen, bin noch so froh, dass irgendetwas … dass irgendetwas mir bis zu den Knöcheln reicht. Ein paar altmodische, fast schon schrottreife Waggons rollen sehr langsam und völlig lautlos und ohne Lokomotive heran. Thomas und Ursula erheben sich, Hand in Hand, zum Duett und fordern uns jodelnd zum Einsteigen auf. Auf! Auf! Hoffentlich, denke ich, sind wir nun bald im Off – und erwache. – Hat nicht vor Zeiten Sir Winston Churchill den Nobelpreis … den Literaturnobelpreis bekommen? Oder war’s General de Gaulle? Man kann sich tatsächlich fragen, ob und weshalb der höchste Preis für Literatur Literaten vorbehalten sein sollte. Wenn aber politische oder historische Prosa ausgezeichnet wird – warum nicht auch wissenschaftliche? Sind doch – zum Beispiel – die Schriften eines Claude Lévi-Strauss, eines Arno Borst oder Hans Blumenberg bei all ihrer diskursiven Stringenz hochgradig fiktional und in bestem Sinn belletristisch. Der sogenannten schönen Literatur sollte das faktografisch abgefasste Sachbuch mit gleicher Berechtigung angehören dürfen wie die Novelle oder der Roman; denn Fakten und Fantasien fließen da wie dort, mehr oder minder kontrolliert, in eins und lassen sich schwerlich auseinanderhalten – was doch schon im Vergleich alter Chroniken mit Volks- und Heldenepen evident wird. Nicht auf das Fakten- und Datenmaterial kommt’s an, sondern auf dessen Arrangement, auf Schwerpunktbildungen, Verknüpfungen, Auslassungen, Ergänzungen, und je nach Ausmaß dieser Ein- und Übergriffe verschiebt sich die fluktuierende Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität. Wenn ich Hegel lese – ich tu’s immer wieder und nie nicht mit Gewinn –, bewege ich mich auf einem derart hohen Niveau von Literatur, dass es mich kaum noch kümmert, ob ich eine philosophische Abhandlung oder einen historischen Roman vor Augen habe, und wenn ich Umberto Eco für den Nobelpreis vorschlagen wollte, dann nicht für seine Romane, vielmehr für die Gesamtheit seiner Sachbücher, Aufsätze, Essays und Kolumnen – im Unterschied zu Hegel (oder zu Georg Simmel) beherrscht Eco nicht alle Schreibregister gleichermaßen souverän. – Täglich, allnächtlich diese Träume – beliebig viele, doch keiner wiederholt sich. Nie habe ich einen Traum als Variation oder Fortsetzung eines andern Traums geträumt. Jeder meiner Träume ist ein Original, unverwechselbar, unaustauschbar, einmalig; dies im Unterschied zu manchen realen Lebenssituationen, die ich allzu oft als Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen empfinde.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00