2008-07-03

Im Internet bin ich heute auf ein Gespräch mit Thomas Vinterberg über seinen Film Festen (Die Feier) gestossen, aus dem manches mir Neue über die Entstehung dieses inzestuösen Familiendramas zu erfahren war. Den Stoff, die Story hatte der Regisseur von einem Psychiatriepatienten übernommen, dem es nie gelungen war, die frühen Schädigungen durch den Vater wie auch den vom Vater verursachten Freitod seiner Schwester aufzuarbeiten oder gar, wie Christian im Film, frei und anklagend darüber zu reden.
Als Festen eher unerwartet zum Welterfolg wurde, machte sich Vinterberg Gedanken darüber, ob und in welcher Weise er den Protagonisten und Lieferanten der Geschichte, der ja zugleich deren Held und deren Opfer war, an den Einkünften beteiligen müsste. Da er den Kontakt mit dem Patienten verloren hatte, wartete er eine Weile darauf, dass dieser sich melden und seinen 
Anteil fordern würde. Nichts dergleichen geschah. Aber zufällig fand sich eine Spur, Vinterberg suchte den nunmehr in einer andern Klinik internierten Mann auf, berichtete ihm von seinem Erfolg, erfuhr jedoch, dass der Kranke über alles im Bild war, dass er den Film gesehn und auch einige Kritiken darüber gelesen hatte. Irgendwelche Anstalten, sich seine Geschichte nachträglich honorieren zu lassen, machte er aber nicht.
Vielmehr bedankte er sich beim Regisseur dafür, dass dieser sein desolates Leben interessant genug fand, um es zu verfilmen beziehungsweise durch den Film zu dokumentieren.
Für Vinterberg, dem diverse Ungereimtheiten im Redeschwall des Patienten auffielen, war die Sache damit nicht erledigt; er begann zu recherchieren, befragte Mitpatienten, Familienangehörige, Ärzte, liess auch nach dem Grab der durch Selbstmord gestorbnen Schwester suchen und kam zum Schluss, dass es jene Schwester nicht gegeben haben kann.
Erneut nahm er das Gespräch auf, konfrontierte den Erzähler mit den Fakten, die dessen «wahre» Geschichte widerlegten oder jedenfalls unglaubwürdig erscheinen liessen. Der Kranke blieb ganz ruhig, machte keinen Versuch, sich zu rechtfertigen oder Gegenbeweise zu erbringen, sondern gab unumwunden zu, die Geschichte frei erlogen zu haben, wobei er betonte, wie ehrenvoll es für ihn sei, dass diese Geschichte, die er sich doch ganz allein zurechtgelegt habe und deren Erfinder er also sei, den Stoff für einen weltweit erfolgreichen Film geliefert habe. Von einer Honorarbeteiligung war auch jetzt nicht die Rede. Vinterberg beschäftigt sich nun mit der Frage, ob er tatsächlich, gemäss den Regeln von Dogma-Film, einen dokumentarischen, das heisst einen auf wirklichen Begebenheiten beruhenden Film gedreht hat oder ob der fiktionale Stoff, der ihm als Tatsachenbericht präsentiert worden war, den Film definitiv zum Spielfilm macht. Oder war es Vinterberg – auch eine denkbare Variante –, der die Entstehungsstory seines Films erfunden hat, um die allzu starre Dogmatik von Dogma zu 
unterlaufen, und vielleicht mehr noch, um auf die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Realität hinzuweisen, die gerade dort zum Problem wird, wo der Anspruch des Dokumentarischen besteht?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00