Bernd Jentzsch: Zu Bernd Jentzsch’ Gedicht „Straßenkreuzung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bernd Jentzsch’ Gedicht „Straßenkreuzung“ aus Neue Texte 4. Almanach für deutsche Literatur, 1964. 

 

 

 

 

BERND JENTZSCH

Straßenkreuzung

Die Bewandtnis der nach links gelenkten
Blicke: ich warte, wo
Autos gestoppt werden von Einbiegern.

Ich erwarte eine Entscheidung.

Bin ich noch derselbe
Nach dem Wechsel der Farbe?
Woran halte ich mich,
Wenn das Argument
Ins Knie bricht?

Entscheidungen fallen allmählich,
Über kurz oder lang,
An Kreuzungen immer bei Grün.

1964

 

Kommentar zu „Straßenkreuzung“

Am 13.2.1964 veröffentlichte das Neue Deutschland unter der gleisnerischen Überschrift „Zu einigen Problemen des geistigen Lebens“ den von Horst Sindermann vorgetragenen Bericht des Politbüros an das 5. Plenum des Zentralkomitees der SED, das vom 3.–7.2. getagt hatte.
Sindermann, bis vor kurzem Sekretär für Agitation, kritisierte Tendenzen, vor denen sich die kommunistische Weltbewegung unter der Hegemonie der KPdSU seit je gefürchtet hat wie der Teufel vor dem Weihwasser: Theoriezuwachs, Integration von nicht-marxistischem Gedankengut, die Entstehung von ideologisch-strategischen Brennpunkten außerhalb der Sowjetunion. Die Revisionismus-Schelte richtete sich unter anderem gegen die stark besuchten philosophischen Vorlesungen Robert Havemanns an der Humboldt-Universität, die internationale Prager Kafka-Konferenz und die Auffassungen Ernst Fischers, der für einen „Prozeß der Renaissance“ des Marxismus und für das Prinzip der dialogischen Marxismus-Rezeption eingetreten war. Getreu der Katechetik, daß es keine ideologische Koexistenz geben könne, wies Sindermann den Vorschlag Jean-Paul Sartres, die Psychoanalyse Freuds in den Marxismus einzubeziehen, ebenso zurück, wie er der von Jiří Hajek in der Zeitschrift Plamen ausgelösten Debatte, „Prag zum neuen Zentrum des Marxismus in Mitteleuropa zu machen“, unterstellte, sie verfolge das Ziel, „unter der Flagge des Kampfes gegen den Dogmatismus unsere Politik in Grundfragen“ zu revidieren. In Roger Garaudys vieldiskutiertem Essayband Für einen Realismus ohne Ufer erkannte er zu Recht eine theoretische Erwiderung auf den sozialistischen Realismus. Indem er vorgab, die Partei sei bereit, „über die neu herangereiften Probleme unserer Zeit“ offen zu sprechen, verketzerte er „diese Theorien“ im selben Satz als „Verfälschung des Marxismus“. Wie prinzipiell die Kritik der Partei gemeint war, verdeutlicht die bei aller angriffslustigen Bildhaftigkeit defensiv klingende Drohung, die SED werde sich „keine faulen Eier ins Nest“ legen lassen. Vier Jahre später wird in Prag der Bericht der vereinigten Politbüros mit Panzern vorgetragen werden.
„Straßenkreuzung“ ist eine Selbstbeobachtung unter verunsichernden Vorzeichen. Der Text entstand in mehreren Fassungen wenige Tage nach der Veröffentlichung von Sindermanns Bericht. Eine Alltagssituation simulierend, prüft er das ideologiebestimmte Vokabular. Fragend, meditativ, vorsichtig schlußfolgernd. Sich vertiefend in Gedankenarbeit. Nachdenken über Veränderungen, die gespürt werden. In Erwägung der Notwendigkeit, sich selbst verändern zu müssen. Beirrung, und das Rettende doch auch. Hoffnungen setzend auf die Prozeßhaftigkeit der Geschichte. Faules Ei: nicht ins Nest gelegt, aber immerhin vorhanden. Eine sich abgliedernde Zelle, die alle Anlagen für die Entwicklung eines reflexiven Lebewesens enthält. Individuation im Kopf, Gattungsbegriff für den poetologischen Hausgebrauch.
Heinz von Cramer hatte den Text derart gelesen und ließ es den Verfasser wissen.

Bernd Jentzsch, 25.4.1992, aus Bernd Jentzsch: Flöze, Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, 1993

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