Craig Arnold: Fleisch geworden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Craig Arnold: Fleisch geworden

Arnold/Cummings-Fleisch geworden

GRACE
Jeff Buckley 1966–1997

Gerade dreißig warst du, und jetzt verschieden
aaaaaund verschluckt, am Mississippi einen

Bootshafen hinab getrieben, in Memphis, mit Sachen
aaaaaund
aaaaaglücklich lachend, am Ausgang der Beale Street

aufgespült, und dabei warst du nicht mal voll
aaaaaoder aufgefunden wie dein Vater

spinnenkrumm, mit der Nadel noch
aaaaaim Arm – warst süß und zart

und wunderhübsch und kauftest einen Hut
aaaaaum dich Verantwortung zu lehren,

von deiner eignen kindisch wilden Stärke umgebracht.
aaaaaDie Stimme ist für immer aus

dir raus, mit dem Herz im Halse steckend abgewürgt,
aaaaaWiener Chorknabe gereift zur Geisterfee,

die uns durch Donnerschläge zusammenge-
aaaaaquirlter Lieder lotst, zu hoch

angestimmter Blues, mehr als in den angeritzten Saiten
aaaaasteckt, geschnalzt, eine Schlange, die

frisst an ihrem eignen Schwanz. Lully Lullay
aaaaalully lullay sangst du und machtest

dich damit aus dem Staub, hallelujahtest, machtest
aaaaamich auf jede Notenkurve scharf, hast mich

spontan dran glauben lassen. Doch nur mir alleine
aaaaahinterlässt du das, jedem von uns

allein, keinem großen Wir. Du warst eine Sünde,
aaaaaso schamhaft zu gestehen wie Ent-

haltsamkeit, so peinlich für zu zweit – wie Hunde
aaaaaan den Wunden lecken lauschen wir, dank

unsrer Kopfhörer in den Mutterleib gestohlen, Knistern
aaaaain den Drähten, auf das Geschluchze horchend, dass

wir nicht zu laut atmen auf der Hut, uns in der Stille
aaaaavon den eignen Lippen lesen. Jetzt da du weg

bist gib uns die Anmut den andren wieder aufzu-
aaaaaspüren, die abgestreifte Haut, die verlorne

Unschuld, deren Schutzpatron du warst – der Junge,
aaaaadem sie abging, hingeknallt aufs Ende

eines fremden Betts, der Faden vom eignen
aaaaaLeib in eines andren Innerstes

gesteckt, bis du ihn wieder einlullst
aaaaain den tristen erodierten Schlaf 

derer die kamen und sich nehmen ließen – ein Dorn
aaaaafür den Gatten, im Täschchen

seiner Frau neben der Pille verstaut, ein
aaaaaLaster, das er nicht teilen kann

mit ihr, nicht zu zweit im Dunkeln in einem abgestellten
aaaaaWagen nachgegangen, untreu, schon,

doch weniger als er – das Mädchen, hinter dir her
aaaaavon Club zu Club, in der ersten Reihe

vor der Bühne jede Nacht, balgte sich mit der Luft,
aaaaastreckte sich um mit ihren Fingern über

deinen Kopf grade-aus-dem-Bett-gestiegnen braunen Haars
aaaaazu streichen, und eines zum Andenken

zu grapschen, als Reliquie – als du schließlich nachgabst, zwischen
aaaaaJe Ne Connais Pas La Fin

und Last Goodbye, grüblerisch in deinen Jeans, ein
aaaaaloses Haar herauszogst, es ihr schüchtern

zu nehmen antrugst. Und was mich betrifft – ich
aaaaatrieb mich, als es dich aufspülte, in

Südfrankreich herum, dem alten Jazzkeller der Troubadours
aaaaa– dort, in einem lila-weißen Dom,

einer Station auf dem Pilgerweg der Heiligen Körper
aaaaanach Santiago, zu Ehren eines Bischofs,

den Wildhengste in Stücke rissen – da ist, in
aaaaaeiner Krypta, die nach Wasser riecht, das

durch Knochen tropft, ein Kasten aus dreifachem Glas,
aaaaadie äußerste Umwandung golden,

achteckig, Nachbildung der Kirchenkuppel,
aaaaadie zweite silbern, viereckig, die

letzte genau die Form und Größe einer Ampulle Crack,
aaaaadarin kaum auszumachen ist

der Brombeersplint, Dorn aus Christi Dornenkrone.
aaaaaIch hätt’ das Ganze klauen mögen,

es exorzieren aus dem Land, nach Hause holen
aaaaaund unter dem Dreifachglas, eins

zu vier zu acht, dem einzigen Haar einen Schrein
aaaaaerrichtet, den Dorn zurück in mich getrieben

wo er hingehört.

 

 

 

Wer ins Fleisch schneidet, nimmt’s vom Lebendigen

– Warum Craig Arnolds Gedichte so fesselnd sind. –

Es zeigte sich außerdem, daß gerade nach der letzten noch denkbaren Gemeinheit, wenn wir nur noch blaß und zitternd herumstehen konnten, sich bei mir mit der Zeit immer öfter ein Zartgefühl für Judith ergab, das ich stärker fühlte als die frühere Liebe, und während ich mich dann mit etwas beschäftigte, stellte sich eine Beruhigung ein, in der sich die Verkrampfung in einen wohltuenden Schmerz auflöste.
(Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied)

Craig Arnolds Gedichte ziehen aus mehreren Gründen in ihren Bann. Ich will es im großen und ganzen bei dreien belassen, die hoffentlich den Fächer weit genug aufspannen, um durch sie hindurch das Panorama seiner poetischen Landschaft sui generis zu erblicken. Einmal nehmen die vorliegenden Verse durch ihre Stimme für sich ein, die nicht bloß angelesen ist, sondern hinter der sich eine eigenwillige fleischlich-konkrete Existenz verbirgt. Dann vereinigen sie in sich zentrale Tendenzen der us-amerikanischen Gegenwartslyrik – gewissermaßen eine Synthese des Besten, was sie hervorzubringen vermag. Und schließlich zeigen sie, was Poesie jenseits aller Akademie-, Szene- und Mediendiskurse eigentlich bedeutet – ein in Fleisch und Blut übergegangenes Lebensgefühl.
Beginnen wir mit der Stimme, die diese Verse hervorgebracht hat und über das Substitut der Buchseite zum Hörer durchdringen will. So viel wird beim Lesen schnell klar: Der Kerl, der sie besitzt, ist sowohl Nutznießer als auch Verächter seines autobiographisch-faktischen Selbst, das nur interessiert, sofern es sich in Gedichte verwandeln kann – die Glosse zum Autor als Rohfleisch für die Gourmet-Küche des Gedichts. Doch schon hier beginnt das Problem. Wer so oft „ich“ sagen kann, meint der eigentlich noch sich selbst oder jede denkbare Existenz, die er sich andichtet?
Gerade das Korsett eines Gedichts bietet Platz genug, den Zauber eines multiplen Rollenbewusstseins, der im Pronomen „ich“ verschlüsselt liegt, auszuleben: Der Autor darf „ich“ sagen, ohne seine ganze Person für das, was sie sagt und tut, verantwortlich zu machen; kann er doch mit Rimbaud auf die Einsicht verweisen, dass „Ich ein anderer“ ist, Buchstaben-Ich und leibliches Selbst nie miteinander identisch sind.
Das Wörtchen „ich“ selbst ist es im Gedicht, das die Persönlichkeit spaltet in einen, der spricht und einen, der zusieht. Die Bilder aber sind verlässlicher und hier können wir Arnold beim Wort nehmen – denn egal, was einer von sich behauptet, mit den Bildern, die er preisgibt, kommt er erst zu sich. Bilder fallen in die Augen, spiegeln sich darin, werden abgespeichert; Worte hingegen springen vom Gaumen und sind verhallt.
Craig Arnolds images als sind Bilder von Orten, Träumen, Frauen (und Männern), von Stationen an der Grenze – zum anderen Land, zum anderen Geschlecht, zwischen Leben und Tod, Liebe und Hass, Illusion und Wirklichkeit –, Bilder von Zusammenstößen, die sich aus den Worten schälen und im Gedächtnis haften bleiben wie Lukrez’ das von den eidola sagt, jenen ,Filmen‘ oder ,Häuten‘, die von den Dingen abgelöst optisch zu laufen, zu flimmern, zu oszillieren beginnen. Da ist jede Ladung prallreifer Äpfel, quer über den einsamen Highway verstreut, die einen Crash zum unvergesslichen Momentum macht. Da ist das stille, an einer Hafenbucht gelegene Café, das eine von Anbeginn vergebliche, längst zerbrochene Liebe wiederbelebt. Und da ist der Dorn, den das pilgernde Ich in einem Reliquienschrein der Provence aufspürt und sich ins eigene Fleisch treiben möchte zur Erinnerung an jenen blutjungen Rockstar, der ,drüben‘ in God’s own country von den Fluten des Mississippi in den Tod gerissen wurde („Grace“).
Man könnte solche Bilder als ,Begleitumstände‘ der Biographie des Autors interpretieren – Visionen im buchstäblichen Sinn, die einer Existenz ihr Unverwechselbares, ihr Faszinosum geben, als Grundstock an Imaginiertem im bildlich-konkreten Sinn, der das Faktische eines Lebens erst zum Schwingen bringt. Zum Faktischen des Autors gehört, dass er 1967 geboren wurde, einen Teil seiner Kindheit in Deutschland verbrachte, in Stuttgart, weil der Vater Pilot bei der Air Force war, dass er mit Abschluss des Studiums gleich auch seinen ersten Gedichtband, und zwar 1999 als in der Yale Younger Poets Series Prämierter herausbrachte, Shells (Schalen), der ein sympathisches Vorwort W.S. Merwins enthält; dass er seit den letzten Jahren als Lehrer des Schreibprogramms der Universitv of Wyoming arbeitet – und dass er, entnimmt man der Homepage dort, an einem Buch über Vulkane und das Ende der Welt, wie wir sie kennen, sitze. Das ist eine ganze Menge, und dennoch fragt man sich unwillkürlich, was geschehen musste, dass er sich ganze zehn Jahre bis zum Erscheinen des jetzt fertig gestellten neuen Gedichtbands Made flesh Zeit gelassen hat. Die gegenüber dem Erstling womöglich noch ausgewogenere Sprache, die noch treffsichereren Pointen und die noch präziser gewählten Konstellationen und Kollisionen innerer Zustände erklären es nicht wirklich. Was die Wartezeit bis zum zweiten Band betrifft, so nehme ich an, dass er einfach die ihm entsprechenden Bilder gesammelt hat, dass er klassisch wie Kerouac unterwegs gewesen ist, sich herumgetrieben, umgesehen hat in neuer und alter Welt. Von seiner Wanderlust zeugt neben den konkreten Reisegedichten ein Titel wie „Boots“ (Stiefel).
Freilich gibt es Konstanten, wiederholte Spiegelungen, Obsessionen, moderne Donquichotterien, wie sie etwa ein seit Hemingways Fiesta als Sehnsuchtsland der Amerikaner figurierendes Spanien dem Ich zu bieten hat („My friend’s arriving on the bus“). Ein für Tramper (wenn es sie heute noch gibt), Backpacker, Euroliner und Interrailer geradezu gewöhnliches Erlebnis – man findet den Busbahnhof nicht da, wo man ihn vermutet hätte, die Suche danach gestaltet sich zur Odyssee – wird zum Auslöser einer wunderbaren, so nonchalant wie beiläufig erzählten Geschichte. Viele Gedichte Arnolds haben diese Tendenz, aus den Unvorhersehbarkeiten unserer Alltags kleine epische Vorgänge, Fabeln zu schöpfen: Er nimmt’s vom Lebendigen. Den Rhythmus seiner Verse klopft das Leben selbst, mit der Unendlichkeit an Geschichten, die es ,schreibt‘.
Dass Amerika, vielleicht gerade über den Umweg des Europabummlers, in diesen Gedichten zu Wort kommt, ist für keinen zu übersehen, der ein wenig mit der lyrischen Diktion dieses Kontinents vertraut ist. Arnolds Lyrik ist, um es frei heraus zu sagen, sehr amerikanisch, ohne dass sie sich groß um die anhaltenden Graben- und Partisanenkämpfe in der Szene dort scheren würde – etwa zwischen den Befürwortern engagierter, neuromantizistischer oder sprachbewusster Poesie. Seine Gedichte enthalten womöglich auch all das, aber wenn schon, dann auf herrlich unmilitante, ironische Weise, die anstatt etwa französische Preziosität hervorzukehren sagen kann: Zur Highschool sind wir doch alle einmal gegangen. Und es an Gedichten auf diese grundamerikanische education sentimentale, die uns hierzulande eher aus TV-Klischees bekannt ist, nicht fehlen lässt („Why I skip my high school reunions“; „Sheherazade“) – Arnold nimmt Abschied von den Kopfgeburten der Adoleszenz irgendwo in einer Kleinstadt des Westens, Liebe bleibt da noch auf wehmütige Reminszenzen an die nie eingetretene Nacht mit der heiß Begehrten beschränkt. Erst in den späteren Gedichten wird daraus dann der existentielle Ernst eines großen Beziehungsdramas, das sich seine Anleihen gern aus der griechischen Mythologie borgen darf („Hymn to Persephone“) – auch dies gehört zum Traditionsbestand einer amerikanischen Dichtung, der ihr eigener Kontinent nie genügend oder nie die richtigen Vorbilder lieferte. Doch – zum Glück – bleibt Arnolds „Persephone“, wie übrigens auch Williams’ „Kora“, ganz mit Amerika verwurzelt.
Erstaunlich ist, dass Arnold seinen Platz in der US-Lyrikszene behaupten kann, ohne einer der seit den fünfziger Jahren tonangebenden Zentren an der Ost- oder Westküste – New York und San Francisco – angehören zu müssen: eher ist er so etwas wie ein korrespondierendes Mitglied beider. Was einst zum exklusiven Distinktionsmerkmal zweier Subkulturen ähnlich wie in der Musikwelt die Zugehörigkeit zum Beatles- oder Stones-Fanblock gehörte, scheint längst nicht mehr so wichtig wie die individuelle, vom Habitus einer bestimmten Gruppe unabhängige Schreibweise geworden: das Festgelegtsein auf die Diktion eines Ortes scheint einer globalen Mobilität der Dichter gewichen zu sein (die für Amerika jedoch schon von jeher, anders als für Deutschland, dazugehörte). Denn das Phänomen ist nicht nur auf Arnold beschränkt, es ist an einer Reihe von Lyrikern zu beobachten, die ursprünglich im Umfeld New Yorks oder Kaliforniens begonnen haben (zum Beispiel Chris Edgar, Peter Gizzi oder Christian Hawkey). Diese neue Mobilität ist nun weder als demonstrativer Troll-dich-Gestus noch so zu misszuverstehen, als wollten die Dichter damit ihre Herkunft verleugnen. Nach außen hin oft einer gewissen materiellen Notwendigkeit gehorchend, wird damit für die Poesie ein amerikanischer Grundimpuls (re-)aktiviert, nämlich die Beweglichkeit.
Damit ist nicht so sehr eine spätzeitlich-digitale Nomadenkultur gemeint als vielmehr eine geistige Neugier und Hochspannung, die auf ihren Pfaden unterwegs die ihr gemäßen Anregungen und Winke aufgreift und sich anzuverwandeln vermag: Blitzschnell entstehen neue Verknüpfungen von nah und fern, Zentrum und Peripherie, vergangenem und gegenwärtigem Moment, ein pulsierender Schaltkreis, der alle Spötter ob der Antiquiertheit des modernen Gedichts in ihre Löcher sich verkriechen lässt. Im Gegenteil, das moderne Gedicht, so wie es von Pionieren wie Pound, Williams, Eliot oder Stevens theoretisch verfochten und praktisch umgesetzt wurde, darf noch immer als die adäquate Ausdrucksform eines Bewusstseins gelten, das in neue Bereiche der Imagination vorzustoßen sucht. Hinter diese Maßgabe kann keiner zurückweichen, der dem Gedicht noch irgendeine Bedeutung für unseren geistigen Haushalt zugestehen will. Und Dichter wie Arnold, Edgar oder Gizzi, so verschieden sie untereinander auch wieder sein mögen, halten sie wach, aktualisieren und revitalisieren sie regelmäßig – ohne Gruppenzwang und Schuledenken, in progress. Das zeichnet ein gutes amerikanisches Gedicht von einem bloß amerikanischen Gedicht aus: dass es offen bleibt, sich jede wünschbare, es bereichernde Option offenhält, dass es einer Summe von Möglichkeiten Ausdruck gibt, ohne einen definitiven Schluss zu ziehen, der alles andere verneinen würde. Die Gedichte Craig Arnolds sind gute amerikanische Gedichte.
Wie er das schafft, das ist nun erst einmal ganz sein Geheimnis, und es genügt, dies nur soweit zu entschlüsseln, bis wir begreifen, was uns zu ihnen zieht: Poesie als fleischgewordenes Lebensgefühl. Als ich ihn fragte, wie er auf den Titel des Bandes gekommen sei, verwies mich Craig auf Luthers Bibelübersetzung, die Genesis: Und das Wort war Fleisch geworden.Von der religiösen Doktrin auf die alles andere als doktrinäre conditio poetica übertragen heißt das, hier ist einer derart mit seinen Worten verwachsen, dass sie, wie eine Tätowierung nicht mehr von der Haut, ihm nicht mehr aus dem Fleisch zu schneiden sind. Er muss mit ihnen leben wie mit einer Verheißung oder einem Fluch – in die Wiege gelegt und auf den Leib geschneidert. Seine Worte sind das Lied, das er singt. Und das Lied, das er singt, ist seine Verheißung und sein Fluch – es handelt von nichts andrem als der Liebe; dem diabolischen Kreislauf von Trennung und Beisammensein, der scheinbar nie ein Ende hat, solang das Wort im Fleische lebt…
Wenn nicht schon die bereits erwähnten Vorzüge hinreichen, so ist es der Zyklus „Couple from hell“ (Höllenpaar), der Craig Arnolds Lyrik so einzigartig macht. Ich jedenfalls kenne weder diesseits noch jenseits des Atlantik ein lyrisches Werk der letzten Jahre, das mit einer Intensität und emotionalen Unerschrockenheit sondergleichen auf die Konflikte einer Paarbeziehung fokussiert: bis zu dem Punkt, wo die beiden sich so sehr Liebenden wie Hassenden, erschöpft in Hassliebe und Liebeshass, aufeinander liegen und nur mehr für immer auseinander gehen – oder das Ganze von vorn beginnen können. Ähnliches, wenn auch anders gestaltet, ist aus den Fünfzigern und Sechzigern nur noch von Robert Creeley („For Love“, „Anger“) überliefert oder vom jungen Rolf Dieter Brinkmann („Was fraglich ist wofür“). In der Antike war für Gefühlsaubrüche, wie Arnold sie schildert, die Tragödie zuständig, und die Leidenschaft ihrer Protagonisten hieß Pathos. Und ohne Pathos geht es auch bei Arnold nicht ab – ein artistisches Wagnis in ästhetisch wie existentiell eher nüchterner Zeit –, was anders auch kaum denkbar wäre, bei den Qualen, die seine personae sich selbst und dem jeweils anderen zufügen. Ein Pathos, von dem kein Leser verschont bleibt, beim Mit-Lesen überträgt es sich, bis es zum Mit-Leiden geworden ist. Vielleicht, weil die Zustände, die mit eruptiver Gewalt über Arnolds Figuren hereinbrechen und bis zum Psychopathologischen sich steigern können, jedem einzelnen von uns nur zu gut aus eigenen hoffnungslosen oder hoffnungslos gescheiterten Beziehungen vertraut sind? Weil hier einer die schöne Illusion, es müsse in der Liebe doch irgendwann einmal Harmonie und Eintracht herrschen, bei vollem Bewusstsein zertrümmert?
Während ich die Zeit eines Aufenthalts als sogenannter writer-in-residence in diesem Frühjahr im englischen Birmingham nutzte, um Arnolds neue Gedichte zu übersetzen, hatte ich zumindest das Gefühl, dabei zu sein und mitzuleiden, und jedes Mal, wenn ich aus dem kastenartigen Büro mit den klappernden Fenstern im elften Stock eines backsteingrauroten Hochhausgemäuers der dreißiger Jahre an der Aston Junction, wo ich schrieb, nach draußen ging und um Luft zu schöpfen entlang eines alten Kanals promenierte, der zunächst an Hinterhöfen, einem Funkturm und Industriebrachen vorbei und dann in die von gesichtslosem Allerweltskommerz erfüllte Innenstadt führte, blieben Arnolds lyrische Stimmen meine treuen Begleiter – und sei es nur, dass sie mit mir um die richtige Übersetzung stritten…
Als ich aus Birmingham abreiste, schienen diese Übersetzungen für mich zunächst beiseite geschoben – froh war ich, dem Verleger ein Resultat zu präsentieren und die Stimmen zur Ruhe (wenn wohl auch nicht zur Räson) gebracht zu haben. Außerdem schlug ich mich, wie üblich, mit einer Reihe anderer Dinge herum. Doch Arnolds Verse suchten sich ihr Ventil; es wäre schon seltsam gewesen, hätten sie mich nicht noch einmal heimgesucht. Im Frühsommer war ich auf einen Schreibworkshop bei Frankfurt eingeladen, und im Geplänkel der Mittagspause schloss ich mit meinem Gegenüber die Wette ab, dass es zu schaffen sei, in wahnwitzigen zehn Minuten ein vollständiges Sonett nach vorgegebenem Thema zu schreiben. Als mir das Thema spontan zugerufen wurde, traf es mich wie ein Blitz: „Liebe in der Hölle“ – das war doch Arnolds Obsession, und beim Niederschreiben spürte ich, dass sich sein Pathos meiner bemächtigte wie seinerzeit beim Übersetzen. Die zehn Minuten reichten gerade so hin, aber mir scheint der Verdacht nicht ganz unberechtigt, dass ich diese Wette ohne Arnolds Hilfe kaum gewonnen hätte:

„Liebe in der Hölle“

Lang schon saß ich in deinem Schatten,
auf einmal hatten wir uns angeblickt –
dein aufgeblitztes Bild: erstickt
daran was wir nun für uns hatten

warn wir im Paarsein, selten noch verzückt,
Momente ganz am seidnen Faden
(Actäon sah Artemis beim Baden) –
sofort von deinem mépris zerdrückt:

Was lässt uns weiter diese Straße
nehmen, verlegen uns am Kragen tippen
wie aus Versehen, wo doch unsre Lippen

nie mehr zur Harmonie der Vase
finden, in die unsre Körper ihre Masse
pressen, von der Zunge zu den Rippen?

Die Stimme, die wir einmal übersetzten, ist nicht mehr abzustreifen. Sie begleitet uns wie ein Gesicht oder ein Lied, das man nicht vergessen kann. Wie sollte man auch das Leben leugnen, aus dessen Mitte heraus sie sich Gehör verschafft? Es ist unsres und das Paradox der Liebe, die nie zur Ruhe kommt, ihr Kern von Anbeginn. Das lässt sich nur pathetisch sagen. 

Jan Volker Röhnert, Ende Juli 2008, Nachwort

 

Lange war es still

um den 1999 mit dem renommierten Yale Younger Poets Prize ausgezeichneten Craig Arnold. Vereinzelt erschienen in den vergangenen Jahren Gedichte in Poetry – noch immer eine verlässliche Quelle für wichtige Entwicklungen in der amerikanischen Dichtung. Nun ist es soweit: der zweite Band Craig Arnolds: made flesh erscheint 2009 in den USA. Furiose Liebesgedichte, immer nah an den Abstürzen, Gedichte, die so gern Kitsch wären und es nicht sein können, weil alles in ihnen zerbrechlich ist und zerbricht.
luxbooks präsentiert vorab die wichtigsten Zyklen aus diesem Band und versammelt ausgewählte Gedichte aus Arnolds Debut Shells. Die kongenialen Übertragungen Jan Volker Röhnerts zeugen erneut von der Lebendigkeit des transatlantischen Austauschs in der jüngeren Generation. Der Band ist illustriert mit Bildern des amerikanischen Malers Boyce Cummings.

amazon.de, Ankündigung

 

fleischgeworden.

Craig Arnold (1967–2009) kümmerte sich nicht um die Fehden zwischen den tonangebenden Dichterclans in New York und San Francisco. Er stand unakademisch und souverän über den Schulen der engagierten, neoromantischen oder rein sprachartistisch orientierten Poetiken. Der Dichter, der auch als Band-Musiker auftrat, gehört dennoch zu einer ganz besonderen Spezies – jener Künstler, die früh und gewaltsam starben und damit zur Legende wurden. Dem Rockstar Jeff Buckly, der im Mississippi umkam, hat er das Gedicht „Grace“ gewidmet. Dem Pop-Musiker Ian Curtis, der sich – von Epilepsie und Drogen gebeutelt – das Leben nahm, porträtierte er in „Leader of Men“. Er selbst verschwand im vergangenen Jahr auf mysteriöse Weise, als er auf einer japanischen Insel Vulkanstudien betrieb. Die Zwischenreiche, von denen die Gedichtauswahl aus den Bänden Schalen und Fleisch geworden erzählt, sind keineswegs provinziell. Arnold entwarf einen neuen Typus des Reise-, Ding- und Liebesgedichts mit einzigartig intensiven Sprachbildern, in denen Leben und Tod, Liebe und Hass, Vision und Realität zusammenfließen oder dramatisch aufeinander prallen.
Die dabei entstehende Spannung kann sich überraschend in lichte, leichte, oszillierende Imaginationen auflösen – oder auf den Boden finsterer Abgründe sinken. Den immer währenden Balanceakt des Ich hält Ironie in der Schwebe. Obwohl die Rhythmen der Gedichte u.a. amerikanische Transit-Episoden intonieren, spanische Begegnungen und deutsche Mentalitäten (Arnold lebte jahrelang in Stuttgart), sind sie von universeller Gültigkeit. Das Gedicht verknüpft Nähe und Ferne, gegenwärtige und vergangene Augenblicke. Darin zeigt sich Modernität: erzählt wird simultan – vom Übersetzer adäquat und geschmeidig übertragen bis in die umgangssprachlichen deutschen Entsprechungen.

Dorothea von Törne, Die Welt, 9.1.2010

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Literaturrat + Facebook
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Jan Röhnert – Interview mit Jan Röhnert in Toulouse am 3. Mai 2010.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Poetry Foundation

 

Craig Arnold liest das Gedicht „Made Flesh“.

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