11. Mai

Bin heute um halb vier Uhr früh aus flachem Schlaf aufgewacht, unfähig, wieder einzuschlafen, umgetrieben von hereinbrechenden wüsten Ängsten und Wünschen. Langer Rundgang in der Wohnung, kurze Wache auf dem Balkon, gebeutelt vom Südföhn. Schön. Auf dem Rückweg zum Bett ein Blick noch in den Mailbriefkasten. Eine Doktorandin aus Madrid bittet mich für kommende Woche, wenn sie (unterwegs zu ihrem Tutor in Tübingen) in Zürich Station macht, um ein Gespräch zu ihrem Dissertationsthema: Autobiografisches Schreiben und Selbstübersetzung bei Vladimir Nabokov. Signiert ist die Nachricht mit Inés Dolores García de la Puente. Klingt wie ein Volksliedvers – »de la Puente« als Refrain. Ich sage zu. Dienstag, vierzehn Uhr dreißig, Hauptbahnhof, Brasserie Fédéral. Bin dann doch rasch noch einmal eingeschlafen, muss dringend meinen Doktorvater aufsuchen, der mich in seiner Privatwohnung irgendwo am Rand dieser gigantischen Metropole zur Vorbesprechung des öffentlichen Kolloquiums erwartet. Ich kenne den Vater nicht, stelle ihn mir sehr jung vor, vermutlich ist er jünger als ich, und fast bin ich mir sicher … und schon fürchte ich, dass ich den verabredeten Termin verpassen werde, vielleicht schon verpasst habe. Von der Stadt hab ich nichts wahrgenommen, bin seit Stunden in unterirdischen Kanälen und Korridoren auf der Suche nach einem möglichst direkten Hinweg, nach einer raschen Verbindung. In den Tunnelröhren verkehren lautlos ferngesteuerte Schnellbahnen, die Aussehen wie mehrstufige Raketen mit silberfarbigem Anstrich. Mehrmals verpasse ich den Einstieg, es gibt zu viele Passagiere hier, die Haltezeiten sind extrem kurz, fünf Sekunden, wenn’s hochkommt. Doch gleich fährt der nächste Zug ein, vom Bahnsteig löst sich, vermutlich von der Druckluft aufgewirbelt, ein schwarzer Müllsack, flitzt auf feingliedrigen Beinchen zwischen den Schuhen der Wartenden hindurch und wirft sich unter den Zug – nicht um sich überrollen zu lassen, vielmehr, um sich zwischen Unterboden und Fahrgestell festzuhaken. Ich bin wohl der Einzige in dieser wogenden, sich stoßenden Menschenmenge, der den flinken blinden Passagier beobachtet und auch seinen Namen – Odradek – mitbekommen hat, muss mich nun aber wieder aufs Einsteigen konzentrieren. Vom Zugbegleiter – er trägt eine viel zu weite schwarze Uniform mit goldenen Tressen an Hut und Kragen – wird blitzschnell an einer funkelnden Kette der Steg heruntergelassen, über den, kaum schlägt er auf dem Bahnsteig auf, die Eiligen ins Innere drängen. Es ist ein Wagen erster Klasse, dennoch gibt’s ausschließlich Stehplätze. Ich baumle, mich an einen Haltering klammernd, neben einem jüngeren eleganten Paar in festlicher Kleidung, erkundige mich nach längerem Zögern in meinem unfreiwilligen Schwebezustand, ob dies »der richtige Zug« sei, worauf der Mann mit der krähenblauen Irokesentolle flüsternd zurückfragt: »Wohin wollen Sie denn?« Keine Ahnung. Und in diesem Gedränge schaffe ich es auch nicht, den zerknüllten Zettel aus der linken Hosentasche zu fischen, auf dem ich Vaters Adresse notiert habe. Steige kurz entschlossen bei der nächsten Station aus, besteige den grade in der Gegenrichtung einfahrenden Zug und werde – ich realisiere es reuelos – für immer unterwegs sein. Für immer ohne Ziel. – Beim verspäteten Frühstück nehme ich mir den »Kunsthandel« vor (Sonderbeilage FAZ). Ein spezielles Interesse von mir. Bin zwar kein Sammler, schon gar nicht Kurator, will nur einfach wissen, was »Kunst« heute wert ist … was ihr materieller Gegenwert ist, welche Geltung (in Geld) sie hat und welcher Sinn sich von dieser Geltung herleiten lässt. Rapportiert wird über die Frieze Art Fair in London und die Ergebnisse der gestrigen Auktionen in Wien und Paris; hier sind sie: zwei Millionen zweihundertsiebenundzwanzigtausend Pfund für Gerhard Richters ›5 Türen, II‹ und – als Spitzenlos – einundzwanzig Millionen dreihunderttausend Pfund für dessen ›Abstraktes Bild 809-4‹; dreihundertsiebzehntausendfünfhundert Euro für Emil Jakob Schindlers ›Blick auf Ragusa‹; siebenhundertelftausenddreihundert Euro für Melchior de Hondecoeters ›Vogelkonzert‹; drei Millionen einhundertachtzigtausend Pfund für Martin Kippenbergers ›Selbstporträt als Boxer‹; vierzigtausend Euro für eine Collage von Laurence Weiner; einhundertsechsundvierzigtausendsiebenhundert Euro für Wassilij Golynskijs ›Heißer Sommertag‹; zwei Millionen sechshundertzwanzigtausend Pfund für Piero Manzonis ›Achrome‹; eine Million dreihundertachtzigtausend Pfund für ein ›Concetto spaziale‹ von Lucio Fontana; neunzehntausendfünfhundert Euro für Rolf Szymanskis ›Warschauer Nixe‹; und Jean-Michel Baquiats ›Dog‹ wechselt seinen Besitzer für neunhundertfünfundzwanzigtausendzweihundertfünfzig Euro. – Alarmierend sind im Übrigen auch die Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland und zur massenhaften Arbeitslosigkeit in Spanien, in Griechenland, doch diese Zahlen stehn auf einem andern Blatt (ich habe zurückgeblättert zu den Rubriken »Ausland« und »Gesellschaft«).

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