24. Juli

… befinde ich mich mit einer jungen Frau, die wohl meine Frau ist, zum Mittagessen auf einem Ausflugsschiff der Bodenseeflotte. Das Schiff, die MS Ewald Gasperelik, schaukelt leicht unter weißem totem Himmel, der enge Hafen ist umstellt von putzigen Häusern mit verzierten Giebeln und Geranienkistchen in den Fenstern. Ich absolviere mit der mir unbekannten, aber seltsam vertrauten Frau einen rustikalen Lunch mit Dampfkartoffeln und prallen Würsten, an deren Schnittstellen eitergelb der Speck zu sehen ist. Am Nebentisch mühen sich zwei ältliche Touristinnen – sie haben sich gleich schon beim Einchecken als »Lesben mit Kinderwunsch« zu erkennen gegeben – mit dem Tagemenü ab. Simon, vielleicht fünf … vielleicht sechs Jahre alt, spielt irgendwo an Deck allein vor sich hin. Es scheint, dass hier etwas oder jemand gefeiert werden soll. Krys offeriert uns, Simon und mir, ein großes Bündel neuer Kleidungsstücke in transparenter, leise knisternder Verpackung – Jacketts aus lindgrünem, mit Noppen besetztem Stoff, Herrenhosen, ebenfalls grün, aber in sehr feinem Textil, mit scharfen Bügelfalten und Aufschlägen am Fuß. Ich weiß damit nichts anzufangen, überlege, was Simon davon brauchen könnte. Wir lassen die Essensreste stehen, gleich soll ein Tennisturnier stattfinden. Und Simon? fragt die Frau, die meine Frau sein könnte: Wird er uns alle Ehre machen? Der Kleine spielt an Steuerbord mit einem kleinen Tennisschläger, an dessen Rahmen eine Schnur mit einer kleinen Kugel oder einem Knoten befestigt ist. Unklar, was das für ein Spiel sein könnte. Wo sind wir denn eigentlich? ruft eine der beiden Tischnachbarinnen: Das ist ja wohl Ah … ah … Aargau! Doch Simon soll sich nun endlich seine Kleider aussuchen und uns beim anstehenden Turnier alle Ehre machen. – Schwere Regenfälle, intensives Blitzgeschehen, über Nacht ein akuter Temperatursturz um gut zehn Grad – und plötzliche Beruhigung meiner migränösen Verspannungen. Normalerweise reagiere ich auf derartige … auf derart abrupte Wetterumschwünge mit Hirn- und Bauchkrämpfen … mit erhöhter Nervosität und einbrechender Konzentration. Aber diesmal! Ich gebe meinen poetischen ›Ideen‹ den letzten Schliff, habe nun auch einen passenden Untertitel gefunden – pataphysische Fermaten. Stelle mir ein schmales Buch vor, das auf jeder Seite – in wechselnder Anordnung – einen, zwei oder drei Einzeiler bringt, die jeweils vom Rand bis zum Falz laufen; die gleichbleibende Zeilenlänge soll durch die Wahl unterschiedlicher Schriftgrössen erreicht werden, besonders lange Verse können vertikal stehen, würden folglich vom untern zum obern Seitenrand verlaufen – beim Lesen müsste man das Buch also bei solchen Seiten um neunzig Grad drehen, was dem Diagonallesen entgegenwirkt und die Aufmerksamkeit erhöht. – Marie-Cerise, Besitzerin des hiesigen Coiffuresalons, ist nach einem Amour fou mit dem Gemeindepräsidenten, Vater von vier Kindern im Schulalter und Abteilungsleiter bei der Elektronikfirma Kudelsky, von ihrer Liebestour aus Spanien zurück. Die Frau hat sich in den vergangenen drei, vier Monaten äußerlich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, ist in der Mitte dick geworden, hat die Haare vom Nacken her bis zu den Ohren hochgeschnitten, die Augen stehen schief und traurig über den massiven Backenknochen, im Mund trägt sie ein Stahlgebiss oder eine schwarze Zahnspange. Insgesamt scheint sie in sich zusammengesunken zu sein, sieht aus, als beugte sie sich über ihren eigenen, zu schwer gewordenen Leib – nichts von ihrem Lachen, ihrer Leichtigkeit ist übriggeblieben. Von den Einheimischen wird sie gemieden, die Wohnung hat man ihr gekündigt, der Geliebte ist zur Familie zurückgekehrt, sie selbst haust nun in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz des Städtchens. »So ist das Leben!«, sagt sie zerknirscht, während sie zwischen ihren violetten Fingern meine Haarspitzen kappt: C’est la vie! – Ich kann für den Workshop im Arc über Copy_Cut_ Paste keinen druckfähigen Text ausarbeiten, beschränke mich darauf, Stichwörter und Eckdaten zu notieren, die ich dann beim Reden argumentativ verknüpfen will. Unter all den eingeladenen IT-Freaks und Computerfachleuten werde ich der Einzige gewesen sein, der das Verfahren von Kopieren-Schneiden-Komponieren aus historischer und künstlerischer (literarischer) Sicht darstellt. Ich werde auf die Anthologie als uralte Textsorte verweisen, die seit jeher vom Prinzip … vom Verfahren des Copy und Cut und Paste geprägt ist. Die Lust an der Kopie, so meine These vorab, ist ein Grundimpuls künstlerischer, vor allem literarischer Produktion schlechthin, und im Vorgriff auf meine Schlussfolgerungen zu einer Poetik der Anthologie halte ich fest: Die Anthologie als eigenständige Textsorte steht exemplarisch für literarische Texte überhaupt, und literarische Texte überhaupt sind durchweg – auf spezifische Weise – von der Lust an der Kopie geprägt, auch wenn sie im allgemeinen – gerade umgekehrt – den Anspruch der Originalität erheben. Kopieren, Schneiden, Montieren > jeder Text ein Verschnitt (Literatur > Text aus Texten), ist nicht Schöpfung von Neuem, sondern Ausschöpfen von Möglichkeiten, d. h. > Aufarbeitung vorgefundener Materialien (Texte) durch deren De-Konstruktion inkl. nachfolgender Re-Konstruktion > exemplarisch für dieses Verfahren > Anthologie > vorhandene Materialien/Texte sammeln > auswählen (extrahieren/exzerpieren) > Cut > kopieren (abschreiben, übersetzen) > Copy > (neu) arrangieren > Paste > vgl. Autor begrifflich: > auctor (augere) = mehren, anreichern > augere/mehren kann sich naturgemäß nur auf etwas bereits Vorhandenes beziehen, darf also vom Begriff her nicht als Erst- oder Originalschöpfung verstanden werden > nota bene: jeder auktoriale (»schöpferische«, mehrende) Akt ist notwendigerweise gekoppelt an einen Akt der Auslese d. h. > des Ausscheidens, Fortlassens, Kürzens > also ist »Schöpfung« in diesem primitiven Verständnis ein Vermehrungsakt und gleichzeitig immer auch ein Akt des Minderns (Verschlankens, Bereinigens usf.). Vgl. das Verfahren des Pfropfens > hier gilt entsprechend: mehren (auch: veredeln) durch Abschneiden / Ausschneiden und > Ansetzen / Aufsetzen (Zuwachs). – Der »blinde« Homer als prototypischer Fall > sein Werk hat/hätte nur in der ephemeren Form als Re-Zitation den Status eines Originals > eines von mehreren, vielen Originalen, da kein Vortrag dem andern gleich sein kann/sein konnte/hätte sein können. Homer selbst ist ein Nacherzähler (Chronist o. ä.) und insofern ein Kopist > Homers Text (Ilias, Odyssee) ist eine Übertragung > schriftl. Kopie des mündl. Texts > Homer als Text (»der Homer«, »Homer lesen« usf.) ist seinerseits Vorlage für beliebig viele mehr oder minder exakte Kopien. Diese Kopien werden in der Folge unterschiedlich bearbeitet/ geschnitten > es gibt Varianten mit Auslassungen bzw. Ergänzungen, es gibt Extrakte (Episoden), die kontextfrei verselbständigt werden > die Episode mit dem trojanischen Pferd; die Rückkehr des Odysseus usf.) > Nacherzählungen in div. Sprachen, mit div. kulturellen Imprägnierungen > Bearbeitungen ad usum delphini > Schulbuch > Volksbuch > vgl. Gustav Schwab als Musterbeispiel für Kopieren (inkl. Übersetzen), Schneiden (Anordnung der Texte, Kürzungen), Neumontage und Vereinheitlichung im Stil deutscher Volkserzählung: ›Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums‹ (1837) – es sollen die schönsten Sagen sein entspr. dem Prinzip der Anthologie als Medium der Kanonbildung. Schwab in seinem Vorwort: »In dem vorliegenden Buche nun wird der Versuch gemacht, die schönsten und bedeutungsvollsten Sagen des klassischen Alterthums den alten Schriftstellern und vorzugsweise den Dichtern einfach und vom Glanze künstlerischer Darstellung entkleidet, doch, wo immer möglich, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen.« – Vgl. Emmanuel Lévinas, der ein Gleiches für die Bibel festhält (die ja ebenfalls das Produkt und auch die Grundlage permanenten Ausschneidens ist > vgl. kanonisierte vs. apokryphe Texte > dann Kopieren > Übersetzen > Variieren > Extrahieren. Zitat Lévinas: »Es liegt eine Beteiligung der Hl. Schrift an der internationalen Literatur vor, bei Homer und Platon, bei Racine und Victor Hugo ebenso wie bei Puschkin, Dostojewskij oder Goethe, selbstverständlich genauso bei Tolstoj oder bei Agnon.« (E. L., ›Ethik und Unendliches‹) – Viele, die meisten Texte, die wir ganz selbstverständlich mit Autorennamen versehen bzw. identifizieren, sind Protokolle, Nachschriften, Zusammenfassungen von Vorträgen, Diskussionen, Dialogen > mithin also kopierte und nachträglich zu »Originalen« zusammengeschnittene und einer – nur einer – bestimmten Autorschaft zugeschriebene Texte > siehe Vorsokratiker, Skeptiker, Zyniker, Stoa > wir lesen, wir zitieren »Sokrates« oder »Epiktet« (oder auch »Jesus Christus«), wissend, dass diese Autoren nie einen Schrifttext verfasst haben, folglich nur über Kopien bzw. Zitate, Zusammenfassungen usf. erreichbar sind > via Mediatoren, Protokollanten, Erinnerungen von Zeitgenossen, Schülern, Kollegen usf. erschlossen, extrapoliert werden müssen. – Die Hypothese nunmehr als Zwischenfazit: das Prinzip (> Form, Funktion) der Anthologie ist das Grundprinzip der künstlerischen Literatur generell. – Ich war heute im Wald während einer guten halben Stunde am Gängelband eines schwarzen Schmetterlings mit hochweißer Musterung, der sich auf Knöchel-, Knie-, Kinnhöhe gaukelnd vor mir her bewegte. Der mittelgroße, nein, eher kleine Sommervogel umschwebte mich wie ein flatterndes Aug, das mich von allen Seiten beobachtet, mich im Blick hält, mich gleichzeitig lenkt und ablenkt. – Für den Filmemacher Jean-Luc Godard ist die Geschichte insgesamt (als Historiografie) und sind Geschichten im Besonderen (als narrative Fiktionen) nichts anderes als kontextualisierte Zitate. Weder Geschichte noch Geschichten haben nach seiner Auffassung einen Autor, ihre Authentizität besteht darin, dass sie als Fiktionen Realitätsstatus gewinnen. Alles je Geschriebene ist Geschichte, ist kompiliert aus Geschichten, die ihrerseits aus Fremdzitaten generiert werden. »Wenn Sie so wollen«, sagt Godard in einem Gespräch mit Youssef Ishaghpour, »ist Geschichte für mich das Werk aller Werke … Sagen wir, die Geschichte ist die Gesamtheit von allem. Das Kunstwerk, wenn es gut gemacht ist, entspringt der Geschichte, und wenn es will, so ist es ihr künstlerisches Bild.« Ein solches künstlerisches Bild, ein »lebendiges«, ist der Film, der den Geschichtsverlauf – »die Zeit der Geschichte« – vor Augen führt und ihr somit ihre »Existenz« verleiht, derweil er die »Essenz« dazu aus der Gesamtheit der Texte bezieht … – Das Anagramm als Urszene literarischen Schreibens: Arbeit mit und aus dem, was vorhanden ist, Innovation durch Neuverteilung der vorgegebenen Elemente, Arrangement statt Entwurf; gilt für Poesie besonders, für Erzählendes, Dramatisches ebenso, wiewohl auf anderer Ebene – Erzählsituationen, Personenkonstellationen sind immer schon vielfach vorgeprägt, können und müssen aber stets neu gefügt werden. – Christian Bobin auf Espace 2 plaudert von seiner Cioranlektüre und allgemein von der Kunst des Negativen, des Verfalls, der Niedertracht usf.; er macht, wie ich, die Erfahrung, dass solche Literatur des Desasters durchaus tröstlich, sogar erhebend sein kann, wagt dazu die These, dass die Darstellung des Verfalls deshalb positiv wirke, weil sie vorausweise auf Erlösung, Rettung, Wiedergeburt. Für mich kommt der Trost, bei Cioran oder Beckett oder dem Maler Francis Bacon, eher daher, dass Kaputtheit, Hässlichkeit, Verfall usf. in starker Kunst durch die Meisterschaft der Darstellung oder Evokation gewissermaßen kompensiert und somit wenigstens momentweise erträglich gemacht, vielleicht sogar mit einem Minimum an Sinn versehen wird. Gilt in gewisser Weise auch für Juan Carlos Onetti, dessen gesammelte Prosawerke nun bei Suhrkamp erscheinen – ich kann da kreuz und quer oder auch, mit einer gewissen Anstrengung, linear lesen, aber es kommt außer der allgemeinen Impression von Schlechtigkeit und Bedrängnis nichts Bündiges heraus; die Texte lassen sich weder auf einen Punkt noch auf eine Linie bringen, sind nicht resümierbar, halten aber Seite für Seite einzelne Sätze bereit, an denen man ohne Gegenfrage, Begeisterung, Verstörung nicht vorbeikommt. Überhaupt kommt man an starker Literatur, ist man schon einmal am Lesen, nicht ungeschoren vorbei, auch dann nicht, wenn einem das Verständnis versagt bleibt. – Weiter zu Cut_Copy_Paste: Elemente und Fallbeispiele zu einer anthologischen Poetik. Bei Pawel Florenskij > das Zitat als die ehrlichste … die einzige ehrliche Schreibweise; das Plagiat als adäquater, ja einzig möglicher Werkstatus > vgl. Walter Benjamin, Jorge Luis Borges u. a. m.: Das ideale Buch bestehe nur aus Zitaten. Dies ist zu realisieren … ist realisiert worden in der Werkform des Cento (Kénton) als Zitatgefüge, patchwork, »Flickengedicht«, »Stoppelgedicht« > vgl. ›Cento Probae‹ (Rom, 4. Jh) > 700 Verse kompiliert aus Werken des Vergilius (Aeneis; Georgica; Eklogen) als christl. Heilsbotschaft in den Kulissen vorchristl. Bukolik > vgl. Centones aus Homer, Cicero, Petrarca usf. Die Originalität solcher Kompilate beschränkt sich darauf (und ergibt sich aber auch daraus), dass und wie vorgefundene, vorgegebene Texte angeeignet und neu disponiert werden > das Angeeignete tritt an die Stelle des Eigenen, die neu zusammengeschnittene Kopie an die Stelle des Originals. Macht nicht eben dieses Verfahren auch die kanonisierte Autorschaft aus? Hat nicht auch schon – zum Beispiel – William Shakespeare nach dem Prinzip von Cut-and-paste gearbeitet? Vgl. dazu ein Notat aus den Arbeitsheften des russischen Schriftstellers Andrej Platonow: »Shakespeare … – er nahm fertige Werke von andern Autoren, schrieb sie um und demonstrierte damit, wie man schreiben muss und was aus der Kunst zu machen ist, wenn man die höchste schöpferische Kraft darauf verwendet.« Die höchste schöpferische Kraft auf das Kompilieren … auf die Nachbereitung eines Kompilats verwenden, um auf diesem Weg … auf diesem Umweg zu einem Werk zu gelangen, das als eigenes und originales Werk zu gelten hätte. Ebendies bewerkstelligt auch – ich verweise auf ein viel älteres Beispiel – der altgriechische Kompilator und Anthologist Diogenes Laertios im 3. Jh., dessen Name an Autors Stelle bzw. in Funktion des Autors für eine großangelegte Geschichte der griechischen Philosophie steht, die aus lauter Zitaten, Exzerpten, Anekdoten, Briefen und mündlichen Überlieferung zusammengeführt wurden. Quellenhinweise fehlen ebenso wie Hinweise zur Textüberlieferung. Authentizität, Korrektheit, Verlässlichkeit der Texte sind zweifelhaft. Da jedoch keine alternativen, besser tradierten Dokumente greifbar sind, bleibt das zehnbändige Kompilat des Diogenes Laertios unter seinem Namen als Machwerk unentbehrlich und wird, obwohl die meisten Texte aus dritter, vierter Hand übernommen und dabei notwendigerweise verfälscht wurden, bis heute als erstrangige Quellensammlung benutzt. – Vgl. auch die ›Anthologia Palatina‹ (Urfassung verloren), die seit ca. 900 bis ca. 1300 bei ständiger Umstellung und Erweiterung des Textbestands (Liebesgedichte, Grabsprüche, Weihinschriften, ethische Gebote, didaktische Gedichte usf.) zu einem Florilegium antiker Epigrammatik kompiliert wurde, in diesem Fall freilich ohne Namensnennung der beteiligten Anthologisten. – Noch ein interessantes Exempel kompilativer Textgenese: Die ›Anthologia Planudea‹ (1299) des Mönchs Maximos Planudes, der auf die Palatina zurückgreift, jedoch aus sittlichen Erwägungen vieles weglässt (Erotica usf.), dafür anderes hinzunimmt (> christl. Erbauungstexte); vieles zu erhalten und zu überliefern, manches fortzulassen, Neues beizufügen – dieses offenere Verfahren des Anthologisierens hat sich in der Folge auch als Prinzip der wissenschaftlichen Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel durchgesetzt.

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