24. Juni

wache gerade eben viel zu spät auf, wecke ihn und die andern Mitbewohner hastig auf, doch es erweist sich, ich hab mich um zwei Stunden vertan, und es bleibt genügend Zeit bis zum Festakt. Wir fahren übers Baugelände zum Veranstaltungsort und treffen noch einmal meinen Vater, der weiter um sein Haus kämpft und freie Sicht und freie Fahrt verlangt. Zu jedem meiner Bücher soll es eine besondere Laudatio geben, verfasst von verschiedenen Kritikern, drei von ihnen sollen über Skype simultan zugeschaltet werden, einer wird ein Paper verlesen, drei, vier weitere wollen frei vortragen. Aber noch sind die Leute nicht vor Ort, die Technik wird noch eingerichtet, irgendwie hoffe ich, dass mein Förderer rechtzeitig auffliegt und die Preisverleihung hinfällig wird. Doch die Hoffnung stirbt zuerst. Nämlich jetzt. – Im Runet stoße ich zufällig auf neu entdeckte, nun erstmals veröffentlichte Erinnerungen an den russischen Philosophen Wassilij Rosanow, die mir den genialischen Grafomanen und Exhibitionisten vollends zum Rätsel machen – einer der produktivsten Denker und Literaten des frühen 20. Jahrhunderts, der wöchentlich drei-, viermal in der Presse präsent ist, jährlich zwei, drei Bücher publiziert, eine umfangreiche Korrespondenz führt, an öffentlichen Veranstaltungen teilnimmt, sich zu allen politischen, kulturellen, sozialen, kirchlichen Tagesaktualitäten äußert, der aber auch – gleichzeitig – ein hingebungsvoller Familienvater und Gastgeber ist, regelmäßig zum Essen einlädt, bis spät abends im Gespräch bleibt, sich dann für den Rest der Nacht zum Lesen oder zur Arbeit an seiner Münzsammlung zurückzieht usf. – ein Mann, der aus vierundzwanzig Stunden gleichsam deren achtundvierzig macht, ein weithin geschätzter, freundlicher, aufmerksamer, umgänglicher, toleranter Zeitgenosse (so ist er bei seinen Verwandten und Bekannten in Erinnerung geblieben), gleichzeitig ein militanter Obskurantist, Antisemit (und Judenfreund), Antimodernist (und zugleich einer der avanciertesten Prosaschreiber seiner Zeit), ein führender Kritiker und Publizist (der die von ihm besprochenen Bücher kaum durchgeblättert, sie dennoch verstanden hat), ein Mann von höchster Intelligenz, der vor keinem Klischee, vor keinem Vorurteil, vor keiner geistigen Brandstiftung zurückschreckt – ein ganzer Mensch, könnte man … muss man sagen, einer, der all seine Widersprüche, Ahnungen, Träume, Zweifel, Verzweiflungen offen und in öffentlichen Skandalen auslebt und dafür auch öffentlich geprügelt und verachtet wird. Auch hat dieser Mann mit Fjodor Dostojewskijs großer Liebe, der Suslowa, zusammengelebt, um durch sie mit dem bewunderten Schriftsteller gleichsam körperlich vereinigt zu sein, bis sie ihm durch einen Schlag ins Gesicht den tiefsten Schmerz und die tiefste existentielle Erniedrigung seines Lebens verpasste. Rosanow scheint danach nicht mehr eins gewesen zu sein, zerbrach in eine Vielzahl von möglichen Ichinstanzen, schrieb unter zwei Dutzend Pseudonymen für reaktionäre und revolutionäre Blätter, für akademische und literarische Zeitschriften, für bibliophile, religiöse, politische Sammelwerke. Bald nach der bolschewistischen Revolution starb Wassilij Rosanow in materiellem Elend, nachdem er seine wortstarke ›Apokalypse unserer Zeit‹ abgefasst und in Form von billigen Broschüren an Freunde und Gegner versandt hatte; seine auf rund dreißig Bände angelegte Werkausgabe ist noch im Erscheinen. In der Sowjetzeit – während mehr als eines halben Jahrhunderts – blieben Rosanows Schriften ungedruckt. Heute gilt er als einer der herausragenden Autoren der russischen Moderne, gehört zu den meistgelesenen Philosophen und Publizisten seiner Zeit und wird von reaktionären Patrioten, orthodoxen Kirchenleuten, Neopaganisten, Neofaschisten, Antisemiten, christlichen Häretikern, Homosexuellen, Anarchisten oder Eurasiern gleichermaßen als Wortführer, zumindest als Stichwortgeber beansprucht. An intellektueller Vielfalt und Aktualität lässt Rosanow auch seine berühmtesten Zeitgenossen weit hinter sich – seine Zukunft wird größer gewesen sein als seine Vergangenheit. »Gott hat Abraham berufen. Ich habe Gott berufen. Das ist der ganze Unterschied.« Man sollte diesen singulären Denker, von dem ebenso viel zu lernen wie abzulehnen ist, endlich auch hierzulande adäquat zur Kenntnis nehmen. Leider fehlt es nach wie vor an den dafür notwendigen Übersetzungen. Ob ich mich auch darum noch kümmern sollte? – »Wir holen uns das Geld dort, wo es liegt – auf der Straße!« Ein Mitglied des Zürcher Kantonsrats schlägt vor, speziell attraktive Nummernschilder für Privatwagen zu versteigern. Die Nachfrage nach solchen Schildern sei groß, entsprechend hoch die Bereitschaft, dafür einen guten, wenn nicht exorbitanten Preis zu bezahlen. In einem Nachbarkanton sei bei einer Auktion des Straßenverkehrsamts unlängst ein einstelliges Nummernschild für rund einhunderttausend Franken verkauft worden. Die Schilder seien als »Prominummern« oder »VIP-Gadgets« gefragt. Solang es die entsprechende Nachfrage gebe, müsse dies im Interesse der angespannten Finanzlage des Kantons genutzt werden. Zum Antrag, wonach die bisher nicht vergebenen Nummern 1 bis 999 zur Auktion gebracht werden sollen, wird sich in den kommenden drei Monaten das kantonale Polizeidepartement vernehmen lassen. Worum geht es? Finanzstarke Zeitgenossen sind offenkundig daran interessiert, ihr soziales Prestige durch möglichst niedrige Nummern zu bekunden, durch die sie für jedermann als besonders wohlhabend ausgewiesen sind. Dass möglichst niedrige, und nicht etwa möglichst hohe Nummern gewünscht werden, hat zweierlei Gründe. Niedrige Nummern sind leichter erkennbar und lassen sich auch leichter memorieren. Dazu kommt – und dies ist wohl der interessantere Aspekt – die Rückbesinnung auf die bislang geltende Regelung, Nummernschilder streng in chronologischer Folge abzugeben. Das Prestige beruhte also auf Anciennität: Je niedriger die Nummer, so konnte angenommen werden, desto länger war der Fahrer im Besitz seines Führerscheins, und dies ohne jede Mauschelei oder Bestechung. Wer mit einer niedrigen Autonummer unterwegs war, durfte sich einem zumindest ephemeren Adelsverein zugehörig fühlen. Dieses chronologische (oder genealogische) Prinzip ist längst durch viele Ausnahmefälle konterkariert worden – nicht auf den »Adel«, nicht auf Tradition oder Kontinuität und auch nicht auf das Reglement kommt es an, sondern darauf, wer hier und jetzt in der Lage ist, sein Prestige als Very Important Person durch den Ankauf einer entsprechenden Autonummer öffentlich kundzutun beziehungsweise es zusätzlich zu erhöhen. Was einst als immaterieller Wert erdauert werden musste, kann heute umstandslos erkauft werden. Dass sich der Staat das prekäre Prestigebegehren neureicher VIPs nutzbar macht, indem er mit einhundertprozentigem Gewinn seine an sich wertlosen Nummernschilder an den Mann bringt, kommt einer verkappten Sondersteuer gleich, die aber als solche von den zahlungskräftigen Kunden wohl gar nicht erkannt wird. Der anekdotische Antrag im Zürcher Kantonsrat ist ein zwar unerhebliches, doch aufschlussreiches Beispiel für den hiesigen Werte- und Mentalitätswandel. – Wracktauchen – für Schnorcheltouristen werden eigens Schiffe versenkt, damit sie nach alten Schätzen tauchen können, die dafür eigens neu angefertigt werden. Das Angebot wird offenbar gern genutzt. Tourismusexperten hatten die Nachfrage nach dem neuartigen Urlaubsspaß vor allem aufgrund des Verkaufserfolgs einschlägiger Computerspiele extrapoliert. So werden mögliche Welten – hier eine infantile Spielanordnung – zum Modell für die Einrichtung der wirklichen Welt, die in diesem Fall durch ihre Künstlichkeit fasziniert. – Manchmal frage ich mich, woher bei mir die kritische Ader rührt … mein Bedürfnis? mein Zwang? mein Spaß? –, ungeachtet von Vorurteilen oder Vorlieben oder gar von persönlichen Implikationen über Literatur zu schreiben, mir also beispielsweise herauszunehmen, einen Aphorismus von Franz Kafka, einen Canto von Ezra Pound, ein Bonmot von Vladimir Nabokov missglückt zu finden. Meine kritischen Beobachtungen lasse ich mir auch dann nicht vernebeln, wenn es um Texte von der Hand eines Kollegen, einer Freundin geht. Aber solches Verhalten und Vorgehen wird hier durchweg missbilligt, gilt politisch und persönlich als unkorrekt, obwohl es doch … obwohl meine Ambition einzig darin besteht, der Sache, die ich jeweils vor Augen und im Sinn habe, gerecht zu werden. Die wenigsten unter meinen schreibenden Kollegen vermögen – bei sich selbst wie bei andern – Werk und Leben getrennt zu halten. Kritik am Werk wird als persönlicher Vorwurf aufgefasst. Zum Selbstverständnis des Literaten gehört ja noch heute, da Kopie, Zusammenschnitt, sogar Plagiat als künstlerische Verfahren akzeptiert sind, die sentimentale Überzeugung, ohne das Schreiben nicht leben zu können. Von daher hat die fahrlässige Gewohnheit, Autorennamen mit Werktiteln zu identifizieren, durchaus ihre Richtigkeit: Man liest Modiano oder Manganelli oder Mosebach, als blätterte man dabei deren Person auf … als wären Texte unmittelbare Emanationen der authentischen Körperlichkeit ihrer Autoren. Das sachliche oder gar kritische Gespräch über Literatur wird unter dieser unhaltbaren, dennoch weit verbreiteten Prämisse irrelevant – Gefälligkeitsbesprechungen sind ebenso wenig ernst zu nehmen wie Werbetexte oder die übliche Wertschätzung kanonisierter Schulbuchautoren.

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