25. März

aaaaalich dorisch sein wird oder eben anderswie.
aaaaaDie schmale Stille nach dem Gau
aaaaaführt als Kriechspur in ein Nie
aaaaadas Grau in Grau
aaaaaden Kontinent umwölkt wie eine Symphonie

aaaaavon lauter unhörbaren Sachen. Aus allen Löchern singt es (für
aaaaadie letzten Augen) schön
aaaaabis zum Vergehn. Das Schöne daran geht als Dröhnen
aaaaaaaaaadurch die Trümmerlandschaft. Ein gestriges Gespür
aaaaareicht schräg herüber in die Kälte die kein Föhn
aaaaamehr bricht. Es ist die Kür

aaaaanach der verpatzten Pflicht. Wer siegen will
aaaaakann nicht kein Opfer sein. Der orchestrale Drill
aaaaavon einst reicht bestenfalls noch für den Schlusschor der Vernunft. Der Bericht ist das was ist. Und so bleibt alles ziemlich still.

aaaaaWie jetzt. Wo der Sonne eine Sonne blüht. – Was hat es zu bedeuten, dass im Japanischen »Fukushima« soviel wie Glücksinsel heißt? Und dass »Gau« im Deutschen für Größter Anzunehmender Unfall steht, aber auch – viel länger schon – für Reichsgau, Kraichgau? Mehr als Bedeutung kann Sprache nicht tragen; den Reim darauf – den Sinn – müssen wir selber bilden. – Derweil liegt Korfu weit zurück. Das war damals eine Reise mit einem Schulfreund per Anhalter durch Jugoslawien, dann hinüber auf die Ionischen Inseln. Erst in diesen Tagen, als ich wieder mit Hyperion unterwegs war, kam die Erinnerung daran erneut hoch, und mit der Erinnerung die vage Absicht, die Reise im Rahmen und mit den Möglichkeiten eines Computerspiels noch einmal zu unternehmen, und dies am Leitfaden eines Reisejournals von Jan Potocki, der anderthalb Jahrhunderte zuvor auf der gleichen Route unterwegs war und auf Korfu ein denkwürdiges Duell bestritten hat. Die wechselseitige Überblendung meiner einschlägigen Jugenderinnerungen mit den Aufzeichnungen des Grafen könnte eine größere Prosa provozieren. Ich muss das genauer überdenken, will an dieser Stelle bald auch die eine oder andere Episode skizzieren. Aber wer soll als Erzähler eingesetzt werden? Sind mehrere Erzählinstanzen in unterschiedlichen Perspektiven denkbar und praktikabel? Oder sollte ich vielleicht noch einmal nach Korfu reisen? Vor Ort recherchieren? Aber nicht doch. Die Erinnerung … Erinnerung, erweitert durch Einbildungskraft, muss genügen. Es geht um Literatur. Das Leben wartet anderswo. – Lesung im Bahnhof St. Gallen mit dem Improvisator Rudolf Lutz; rund einhundert Hörer, von Yvette Sánchez begrüsst und freundlich auf mich vorbereitet. Ich trage vor aus meinen ›Elf Tausend Verben‹, aus den Elementargedichten (›Himmeln‹), aus ›Jeder Zeit‹, dazu improvisiert Lutz auf seinem Keyboard die eine und andere Melodie. Anderthalb Stunden dauert die Lesung inklusive Diskussion. Das Publikum bleibt bis zum Schluss aufmerksam, geht stellenweise merklich mit. Ich bin erstaunt, dass ich mit meinem Geschriebenen Hörer viel leichter erreiche als Leser. Anschließend mit Y. S. zum Essen im Lagerhaus, gute Küche, wir reden bis zum letzten Zug. – Und heute nun unerwartet diese Leichtigkeit, geläutert die Luft, ungefiltert das Licht; die letzten abschmelzenden, im graubraunen Gras versickernden Schneeinseln und gleichzeitig die ersten Düfte aus der Magerwiese. Unlust zu arbeiten, Mühsal des Auflebens nach finsterer Frostzeit und … und nach all den Todesfällen im Freundeskreis und unter Kollegen. – Dass auch ein Toter (im Gegensatz zu allen Totgesagten) wieder aufleben kann, erfahre ich nun am Beispiel von Anatol von Steiger, den ich mit einer zweisprachigen Gesamtausgabe seiner Gedichte – ›Dieses Leben‹ – aus völliger Vergessenheit geholt und als Autor versuchsweise rehabilitiert habe. Der in der Ukraine geborene Steiger, Angehöriger der Berner Adelsgesellschaft und marginaler Vertreter der exilrussischen Poesie, ist 1944, nach langjährigem Aufenthalt in Frankreich, siebenunddreißigjährig an chronischer Tuberkulose in einem Schweizer Sanatorium gestorben. Ich habe sein verstreutes Werk nun erstmals ins Deutsche gebracht und in einem großen Essay erläutert. Für mich war die Arbeit insofern ein bemühendes Exerzitium, als ich vier Gedichtbücher von unterschiedlicher Qualität durchübersetzen musste, mithin auch manche Texte, die mir thematisch fremd waren und die ich formal für misslungen hielt. Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, das Alltagsparlando und die schlichten Soliloquia des Dichters in ihrer strengen Versifikation und Strophik im Deutschen adäquat wiederzugeben – beides musste formgenau erhalten bleiben, kaum irgendwo gab es Manövrierraum für Abweichungen oder eigenwillige Lösungen, wie sie bei formal sehr viel anspruchsvolleren Autoren (Zwetajewa! Brodskij! Ajgi!) durchaus – und mit Gewinn – möglich sind. Ich rücke an dieser Stelle ein titelloses Gedicht aus dem nachgelassenen Typoskript ›Kathemerine‹ von 1941 als Beispiel ein: September, einmal mehr. Und Regen, Regen,
Fast pausenlos. Septemberstille überall.
aaaaaAn solchen Tagen kommen Scherze ungelegen,
aaaaaWir sehen Glück und Güte im Verfall.

aaaaaAn solchen Tagen ist man ohnehin alleine:
aaaaaOb mit Verwandten oder ohne sie.
aaaaaDer große Junge wurde so zum kleinen,
aaaaaEr duckte sich ins Pult, so klein wie nie.

aaaaaDem Alten ist Vergangenheit viel näher,
aaaaaO gäbe es doch einen Neuanfang
aaaaaUnd wüsste man – der war verrückt seit jeher …
aaaaaDoch besser, man verdrängt’s ein Leben lang.

aaaaaDas Feld liegt feucht und dämmrig in der Stille,
aaaaaHier eine leere Hütte, eine Radspur dort.
aaaaaDen Armen Brot, den Kranken Lebensfülle,
aaaaaDer Welt den Frieden gibst Du niemals, Gott.
– Ich hatte von Steiger seit meiner Studienzeit in Paris (Jahr der Entdeckung: 1968!) systematisch alles gesammelt, was irgendwie erreichbar war, besitze nun sämtliche Erstausgaben (mehrheitlich Privatdrucke, alle mit handschriftlichen Widmungen), das Typoskript seines letzten, noch unveröffentlichten Lyrikbuchs (1941), außerdem diverse private Materialien – dazu brauchte es einen langen Parcours durch russische Antiquariate in Paris, Wien, Prag, Leningrad usf. Das Buch ist vor einem halben Jahr bei Ammann erschienen, ich habe mehrfach öffentlich daraus vorgelesen, und bereits ist in Russland ein Nachdruck geplant, der nebst der Lyrik auch die autobiografische Prosa sowie Tagebücher und Briefe von Anatol von Steiger enthalten soll. Ich war mit diesem Projekt viele Jahre hindurch archivalisch und übersetzerisch beschäftigt, bin erleichtert, es endlich zum Abschluss gebracht zu haben, und möchte die Genugtuung nicht missen, einen von der Literaturgeschichte ignorierten Autor wieder ans Licht gebracht und lesbar gemacht zu haben – Anatol von Steiger war selbst unter Kennern so wenig bekannt, dass ich ihn auch hätte erfinden können. – Mein Interesse an Archivalien, das zu Publikationen von Alexander Turgenew, Rainer Maria Rilke, Marina Zwetajewa u. a. geführt hat, ist damit noch nicht überwunden. Zur Zeit versuche ich in Form eines kleinen dokumentarisch fundierten Romans Materialien neu zu nutzen, die ich seit langer Zeit beiläufig zusammengetragen habe und aus denen ich einen zuletzt dann doch fiktiven Lebensgang entwickeln möchte, der das vergangene Jahrhundert in der Optik von Krieg, Gefängnis, Arbeitslager, Exil als einen horrenden Comic Revue passieren lässt. Um mir dabei und dazu Mut zu machen (das Unterfangen ist schwierig und grenzt gelegentlich ans Unverschämte), greife ich hin und wieder zu den einschlägigen Erinnerungsbüchern von Jewgenija Ginsburg, Anatolij Kusnezow, Joseph Berger, Józef Czapski. Die bisherigen Aufzeichnungen dazu und die ersten Schreibversuche lege ich unter dem Arbeitstitel ›Kirilliza‹ ab – Reverenz an den verstorbenen Freund Kirill Beregow, der mir im Gespräch und in zahlreichen Briefen und Dokumenten seine Geschichte anvertraut hat, und diese wird wohl im Wesentlichen den Grundriss zu der geplanten Prosa bilden. – Ich bin erleichtert, habe ein großes Werk abgeschlossen, nun räume ich die Materialien zusammen: Kopien, Notizen, Dokumente, Entwürfe usf. Auch ein paar abgepackte Brotlaibe gehören dazu, alles wird auf einem mobilen Serviertisch aufgehäuft, soll nun verschickt werden. Die Kosten dafür übernimmt der Staat; ich selber fahre einen Teil des Materials mit einem Lastzug zu Tal. Auf der abschüssigen, relativ schmalen Straße kommt mir von unten ein anderer Lastzug entgegen – nur mit mühevollen und langwierigen Manövern gelingt es uns, aneinander vorbeizukommen. Als ich beim Krematorium anlange, kann ich grade noch sehen, wie die nackte Leiche meines Vaters, dessen molliger linker Fuß (mit dem Namenszettelchen am großen Zeh) bereits die typische safrangelbe Färbung angenommen hat, von einem Träger in eine Müllmulde gelegt wird.

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