5. Januar

Nur ausnahmsweise entspricht bei Thomas Mann die sprachliche Ausdruckskraft der Detailschärfe der Beobachtung und Empfindung; meist ist der Erzählstoff didaktisch überbelastet, mythologisch verschmiert, und alles wird überwölbt vom allzu offensichtlichen Bestreben, Wissen, Stilwillen, Kompetenz und Überlegenheit zu demonstrieren. Doch das alles kann ein Breitenbach, ein Niebelschütz auch, und ein Thelen kann’s besser, aber Thomas Mann ist, anders als sie, in den Kanon eingegangen. Ich werde mir nun auch – soll ich’s? – noch einmal die Romane vornehmen, unter denen ich bei einem ersten Lesedurchgang vor einem halben Jahrhundert den ›Zauberberg‹ und den ›Roman eines Romans‹ besonders zu schätzen wusste; bei ›Königliche Hoheit‹ und bei ›Felix Krull‹ – ich erinnere mich genau – war ich beeindruckt, wenn nicht begeistert vom rhetorischen Aufwand und der stilistischen Bravour des Autors bei der Abarbeitung von erzählerisch irrelevanten und entsprechend unergiebigen Stoffen. Anderseits: Wozu sollte ich denn Thomas Mann wiederlesen, wenn es doch … obwohl es doch beliebig viel Ungelesenes, womöglich Interessanteres gibt? – Ein dürftiger Tag, der sich durch diverse saisonale Widersprüche hervortut. In der Früh, noch bei Nacht, wartet er mit heftigen Schneewehen auf; im Verlauf des Vormittags fegen heftige Böen die matschige Weiße hinweg und legen die Gassen trocken; der Nachmittag wird durch ein paar massive Lichtbalken aufgehellt, die aber schon bald zerbröseln … die schon bald abgelöst werden durch schlierigen, mit Schnee durchzogenen Regen, den der Wind nun gegen die Hauswände und gegen meine Fenster klatscht. – Rund um die Uhr kann man auf dem französischen TV-Kanal Mezzo Musik gespielt sehen. Ich bin hin und wieder dabei, sehe berühmten Dirigenten über die Schulter, berühmten Pianisten auf die Knöchel, großen Sängerinnen zwischen die Zähne, den Paukisten aufs gespannte Fell, stelle fest, dass trotz der Nähe zum musikalischen Geschehen kein human touch aufkommt und auch nicht der höhere Hörgenuss. Im Gegenteil. Das Hören wird gestört, wird abgelenkt und zerstreut durch das Überangebot von attraktiven Bildern – das linke Knie der Cellistin, der Adamsapfel des Tenors, die Schweißperlen an den Schläfen des Oboisten. So kommt’s, dass ich bei Konzertübertragungen im Fernsehen die Augen lieber schließe, als mich durch die Optik des Aufnahmetechnikers gängeln zu lassen. Dazu kommt (doch das gilt auch für ganz normale Konzertbesuche), dass mich die Körpersprache der ausführenden Musiker irritiert. Gereckte Hälse, aufgerissene Münder, das Nicken oder Kopfschütteln, das Sich-Recken und Sich- Wiegen mit der Melodie – all diese spontanen körperlichen Regungen stoßen mich ab, verunklären meine musikalische Wahrnehmung, verhindern meine Einlassung ins Klangereignis. Am unerträglichsten sind mir in dieser Hinsicht die Oper, das Musical, das Rock- oder Popkonzert, musikalische Darbietungsformen mithin, bei denen die Opulenz des Bildhaften so dominant wird, dass man … dass ich die Musik bloß noch als tönende Kulisse wahrnehmen kann und … und so geht’s mir nun auch mit der neuen DVD aus der Gesamteinspielung von Bachs Kantatenwerk durch Rudolf Lutz: Alles, was hier ebenso sorgfältig wie effizient ins Bild gesetzt wird – Raum und Licht, Chor und Orchester, Dirigent und Solisten – ist des Guten zu viel, tut der Herrlichkeit der Musik Abbruch. Ich ziehe es jedenfalls vor (nur tue ich es zu selten), mir den Kopfhörer aufzusetzen und mit halbgeschlossenen Augen auf das zu hören, was hier und jetzt verlautet. – Ich komme in die unaufgeräumte Turmwohnung einer mir unbekannten jungen Frau mit wildem Haar und behäbigem Leib. Offenbar haust sie hier erst seit kurzem … ist hier noch nicht daheim, hockt im Schneidersitz in dem niedrigen fensterlosen Dachraum, in dem lauter helle, wie von innen erleuchtete Gegenstände aufgehäuft sind, Kissen und Polster, zerwalkte Bettlaken, Kartonschachteln, aufgedröselte Stricksachen, Hüte, Schneiderpuppen, gestärkte Schleier und Hemdbrüste. Es scheint, dass sich auf der Turmzinne, die über die Zugtreppe zu erreichen wäre, noch jemand aufhält, jedenfalls höre ich immer wieder schleifende und polternde Geräusche, vermute einen Stalker, ein Haustier, einen mechanischen Engel. Die Frau, die nun Oya heißt, reicht mir ihr jüngst erschienenes Buch, es ist ein relativ dicker, eher kleinformatiger Band, weiche elastische Broschur, sehr angenehm in der Hand liegend. Ich blättere, sehe dabei über den Krempelhaufen auf eine weite (»toskanische«) Landschaft hinaus; in der Mitte des Bilds erhebt sich auf einem markanten Hügel eine rote Backsteinburg in klarem funktionalem Design, an deren Fuß zwei junge Männer auf und ab gehen, sich lebhaft unterhalten. Nun plötzlich machen sie sich daran, mit eleganten Klimmzügen die Burgtürme zu erklettern, um dann gleich, einer nach dem andern, in steifer Haltung – Hände an den Hosennähten – mit den Füßen voran in die Tiefe zu springen. Reglos bleiben sie wie zwei mumienhafte Totemfiguren im Burghof aufrecht stehen, mit den blitzenden Schlittschuhkufen stecken sie für immer zwischen den Pflastersteinen fest. Ein wenig möchte ich mit der Frau nun doch noch reden, sie sitzt mir an der Breitseite eines langen Tischs gegenüber, das Buch liegt aufgeschlagen zwischen ihren aufgestützten Ellenbogen. Ohne meine Frage abzuwarten … ohne sich über den Text zu beugen … ohne die Lippen zu bewegen, beginnt sie aus dem eben erschienenen Roman vorzulesen. Ich höre erwartungsvoll und auch ein bisschen ungeduldig zu, höre auf ihre dunkle … auf diese gewinnende, diese hinreißende Stimme, die alles, was sie sagt, sogleich auslöscht. Was sie auslöscht, ist nicht nur das, was sie sagt … was sie fortwährend auslöscht, ist alles und noch viel mehr. Viel mehr, als ich verstehen kann … viel mehr, als ich verstehen möchte. Ich höre lauter Namen, lauter befremdliche Klänge, lauter Unverständliches. Was ich höre, vermag ich mir, weil ich’s ja nicht begreife, leicht zu merken. Aber jetzt, da ihr farbloser Mund … da ihr heißes gerötetes Ohr über mein Gesicht streicht, wird mir manches klar. Ich warne sie … ich hebe warnend das Kinn, um sie möglichst diskret auf den Mann aufmerksam zu machen, der – von mir verdeckt – mit blitzenden Kufen auf der Schwelle steht und [bricht ab]

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