2018-01-26

Literatur, die mich ernstnimmt, mutet mir Schwierigkeiten und Provokationen zu; sie bewahrt mich davor, lesen zu müssen, was ich immer schon verstanden habe oder was ich problemlos vorhersehen kann und erwarten darf.
Literatur, die mich als Leser nicht ernstnimmt, die mir entgegenkommt, mir gefallen will und allfällige Erwartungen wie auch immer erfüllt, kann ich meinerseits nicht ernstnehmen.

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Zum wievielten Mal bin ich bei Michel de Montaigne zugang? Zum ersten Mal jedenfalls lese ich die Essais (Edition Thibaudet) in der Typographie der Originaldrucke von 1588 und 1595, und zum ersten Mal habe ich nun das sichere Gefühl, für diese Texte die passende − die einzig richtige! − Lesegeschwindigkeit gefunden zu haben.
Gefunden? Die besondere, ziemlich beschwerliche, deshalb eher schleppende Lesegeschwindigkeit ergibt sich daraus, dass hier die ursprüngliche, gegenüber heutigem Usus stark verfremdete Rechtschreibung wiederhergestellt wird: Jedes dritte, vierte Wort muss ich zweimal lesen, um es optisch richtig zu erkennen, es einzuordnen und zu verstehen.
Die oftmalige Störung der Lesebewegung durch die ungewohnte Schriftform, das mehrfache Zurückkommen auf einen und denselben Begriff verlangsamt die Lektüre auf jene bedächtige Geschwindigkeit, die den Texten und ihrem Verständnis genau angemessen ist.
Nicht allein die Orthographie zwingt zu solch allmählichem close reading, die zahlreichen fremdsprachigen Zitate, die Montaigne unübersetzt in seine Essais einbringt, bilden zusätzliche Hürden, verhindern die diagonale beziehungsweise überfliegende Lektüre: Ich muss mein Latein, mein Griechisch reaktivieren oder in den Anmerkungen des Herausgebers Rat holen.
So ergibt sich eine tastende, dabei suchende Lesart, die als solche der Nachdenklichkeit weit mehr Anlass und Raum bietet als die übliche, meist hastige und allzu leichtfertige „Rezeption“ dieses einzigartigen Lese- und Lebensbuchs. − Ein paar wenige Seiten täglich reichen hin, um die Lektüre noch jedes Mal zum Ereignis zu machen, den Leser − zum Vertrauten des Autors.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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