8. Januar

Diesen für das rational klassifizierende Denken desolaten Sachverhalt hat der Karikaturist Saul Steinberg im Oktober 1969 auf einem Umschlagbild der Zeitschrift ›The New Yorker‹ – ich hatte es damals einrahmen lassen und habe es noch immer vor Augen – mit hintergründigem Witz visualisiert: Vor einem »abstrakten« Gemälde steht ein schattenhafter Betrachter, aus dessen Kopf eine riesige Gedankenblase aufsteigt, die »alle« Assoziationen − Begriffe und Namen und Zahlen − enthält, die das Bild beim Betrachter hervorruft, darunter Wortfolgen wie … Red, Green, Greenberg, Monteverdi, Verdi, Rossini, Leoncavallo, Catfish, Ratfink, Schweinehunde, Dragonfly, Horsefly, Belmont, Jamaica, Auteuil, San Siro, My Old Man, The Killers, Kilimanjaro, Kilogramm, Kilometer, 5/8 Mile, Isotta-Fraschini, Hispano-Suiza, Svizzera, Trieste, Joyce, James Joyce, Greta Garbo, Donald Duck, BB, MM, Phileas Fogg, Ugene, Unesco, Tristan Tzara, Tara, Tata, Uta, Ata, Ita, Nene, Papa, Gigi, Tata, Dada, Ada, Hedda, Betty Parsons, Curt Vallentin, Maeght, Janis, Museum, Rockefeller, Nelson, David, Hare, Denise, The Knees, Haircut, Nosedrop, Gogol, Nabokov, Hi Nabor, While-U-Wait, U Turn, U Thant, H B4 BUT, No X-ing, Vietato Fumare, Défense d’Afficher … Hier implodieren alphabetische Ordnung und Bedeutungszusammenhang gleichermaßen – der Cover von Steinberg kann sowohl als eine Karikatur auf (also gegen) jegliches Ordnungsprinzip wie auch als bildnerisches Manifest für totale Beliebigkeit gesehen werden: Anything goes! – Woher kommt es, dass man … dass ich auf Grund von jeweils nur ganz wenigen Daten – ein paar Seiten Lektüre, ein paar Takten Musik, einem ersten Bildeindruck – unzweifelhaft wissen kann, dass dies ein Werk, eine Leistung von höchster Qualität ist? Ich stelle mir die Frage, weil ich sie nicht … weil ich sie noch immer in keiner Weise beantworten kann; weil mir nicht einmal klar ist, ob das Phänomen künstlerischer Qualitätserkennung durch mich als Person bedingt ist oder ob es von den Werken … ob es von der Aura der Werke ausgeht. Ich erinnere mich, in meiner Jugendzeit aus einem Radioempfänger im Nachbarhaus beiläufig eine Motette oder ein Madrigal von Heinrich Schütz gehört zu haben, sofort aufmerksam geworden zu sein und gleich auch gewusst zu haben, dass diese Musik, dass dieser Komponist an Vollkommenheit nicht zu übertreffen ist. Vollkommenheit steht hier für etwas anderes als Fehlerlosigkeit, Vollkommenheit kann durchaus mit Mängeln behaftet sein, Vollkommenheit ist absolute Stimmigkeit des relativ Unstimmigen – versuchsweise gesagt! Und ebendies erfahre ich als Leser schon nach wenigen Seiten, egal in welchem Werk, bei Georg Büchner, Herman Melville, Nikolaj Leskow, Franz Kafka, Ossip Mandelstam, Andrej Platonow, Alejandra Pizarnik, Samuel Beckett. Und über Beckett hinaus? Nein – seither stellt sich dieser Qualitätsschock bei mir nicht mehr ein. Und in der Malerei? Da verspüre ich diesen ganz und gar unerklärlichen Schock noch bei Mark Rothko und Francis Bacon, zwei Künstlern, die gegensätzlicher nicht sein könnten, die mir aber – beide – die Sicherheit vermitteln, vor ihren Bildern daheim zu sein, allein mit der Kunst. – Bin im Auto – mit einem fabrikneuen, hochweiß lackierten Mittelklassewagen – in der griechischen oder mährischen Provinz unterwegs. Brigitte Uttar Kornetzky und (ein Mann wie) Martin Endres sind mit von der Partie. Es ist so etwas … es muss so etwas wie eine Fahrt ins Blaue sein. Wir durchqueren öde Kriegslandschaften, verlassene Dörfer, abgefackelte Wälder und Felder. Man kann die Straßenzüge nicht erkennen, alles ist mit Ruß und Asche zugedeckt, es gibt keine Wegweiser, die schmalen Trampelpfade verlaufen kreuz und quer zueinander. Wir fahren einfach über Land, es geht auf und ab, wie ein Fesselballon hängt die Staubwolke an unserm Heck. Wir suchen einen Platz zum Übernachten, parken das Auto mitten im Trümmerfeld auf einem Felssporn, der von einer niedrigen Zinne umgeben ist. Dass hier oben Schafe weiden, wundert mich nicht. Wir können ruhig im Auto übernachten, sage ich nach einem Kontrollgang zu meinen Mitreisenden. Brigitte legt die Wolldecken zurecht, überlegt, wer wo und wie im Auto schlafen soll. Aber erst noch wollen wir essen gehn. Zwei zum Verwechseln ähnliche Kneipen finden sich unmittelbar nebeneinander, beide mit offener Front – die Fassaden sind weggeschossen. Die Kneipen sind im Innern miteinander verbunden, bilden einen hohen, aber schmalen Raum. Es gibt nur wenige Tische, in der Mitte ein Buffet mit exzellenter Auslage – Meeresfrüchte, seltene Gemüsesorten, Salate, Gewürze usf. An der Stelle, wo wir hier nun um ein kleines Tischchen eng zusammensitzen, hat gestern ein Mord stattgefunden, jeder weiß es, aber man verhält sich so, als wäre nichts gewesen. Spät – bei Nacht – kehren wir zum Auto zurück. Dort, wo wir geparkt haben, steht jetzt eine schäbige Baracke, »Heim für junge Mütter« steht über der halb geöffneten Tür. Eins nach dem andern schreiten die Mädchen mit ihren Kindern auf der Hüfte wie in einem feierlichen Kolo um die Baracke – an uns vorbei. Auf der Suche nach unserm Wagen begegnen uns noch mehr von diesen Mädchen, es sind sehr viele, und bald macht’s den Anschein, als wären es für diesmal alle. – Nachtsüber Dauerregen, ich schlafe unter diesem dichten Rauschen langsam ein. Folgt irritierendes Traumgeschehen, vermutlich angezettelt durch meine aktuelle Beschäftigung mit Begriffs- und Satzlisten … mit angehäuften Gegenständen aller Art. Bin früh … zu früh aufgewacht bei völliger Dunkelheit und unerwarteter frühlingshafter Wärme. Gehe nach dem Frühstück hinüber ins Schreibzimmer des Hotels, richte mich an dem altmodischen, leicht schräggestellten Pültchen ein, werfe einen Blick hinaus in den kargen Garten mit den winterlich verhüllten Tischchen und Sesseln … schade, ja, die Tage werden schon wieder merklich länger und heller, was für mich bedeutet, dass die Schreib- und Lesezeit bald kürzer wird, denn nur unter der Lampe im nächtlichen Dunkel komme ich zur notwendigen Konzentration. Die länger werdenden Tage machen mir aber auch das sich verkürzende Leben bewusst, sie wecken eine ambivalente Schwunderwartung in allem, für vieles – Gedächtnis, Appetit, Körperkraft, Sehstärke, Schlaf, Libido, Schrittlänge, Atemweite. Ambivalent deshalb, weil man das eigene Schwinden vor allem daran erkennt, dass einem so manches zu viel wird.

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