9. Juli

Früh wach … aufgeweckt vom Regen, der aus der Dachrinne über meinem Schlafzimmer schwappt. Dreckige Helle, feuchte unterkühlte Luft, ein erster Anflug, so scheint’s, von herbstlicher Eintrübung. In der Küche bekomme ich bis zu den Knien unangenehm zu spüren, wie die Kälte aus dem alten Tonplattenboden steigt. Bald schon Mitte Juli. Aber ich muss einheizen. Hole mir aus dem Holzschuppen ein paar trockene Scheite, hebe auf dem Rückweg eine Handvoll Tannenzapfen als Brandbeschleuniger auf. Doch das Feuer will nicht anspringen, es scheint, als würde es von oben herab durch den Kamin immer wieder zum Ersticken gebracht. Ich zerknülle und verbrenne mehrere Zeitungen, bis endlich ein Tannenzapfen Feuer fängt und die Flammen Nahrung bekommen. Ich setze mich mit dem Rücken zum Kamin, notiere den Traum von vergangener Nacht, bis ich hinter mir Gesprächslaute höre. Wende mich um, erkenne sofort, dass die Geräusche vom Feuer kommen, dass das Feuer leis vor sich hin plaudert – leis wie das ferne Echo eines lauten kollektiven Gröhlens, das nun als Volkes Stimme zu mir in die Stube dringt. Wieder ist damit für mich … für mich allein, und dennoch keineswegs für mich bestimmt, ein Als-ob für einen kurzen Moment Wirklichkeit geworden. Doch worin eigentlich besteht der Wirklichkeitscharakter von Täuschungen oder Illusionen dieser Art, solang ich sie als solche nicht durchschaue? – Auf 3sat eine TV-Sendung über Gehirn und Musik, darin ein Hinweis von Stefan Koelsch, wonach Kleinstkinder ohne jede Kenntnis von Wortform und Semantik relativ genau verstehen können, was etwa mit »Milch«, »Schlaf«, »Ruhe jetzt«, »später« usf. gemeint ist, dies allein aufgrund der Intonation und des Rhythmus, von der die jeweilige Aussage getragen ist. Gilt nicht etwas Ähnliches für die Rezitation magischer Texte und die Lektüre angeblich schwieriger Gedichte? Dass zunächst die Klanggestalt vergegenwärtigt wird und dann erst, durch Assonanzen ebenso wie durch Assoziationen, ein möglicher Sinn sich aufbaut! Vielleicht vergleichbar mit dem delphischen Orakel? Man vermutet, dass manche der dortigen Priester weder schreib- noch lesekundig waren. Die ihnen vom Gott eingegebenen Wahrheiten sollen sie als Singsang vorgetragen haben, wohl in der Art von leicht memorierbaren Merkversen mit einfachem Metrum, mit häufigen Wort- und Lautwiederholungen. Erst der Klang, dann der Sinn? Und … aber was für ein Sinn? Wessen Sinn? »Der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört«, heißt es bei Heraklit, »erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an.« Andeuten statt bedeuten. Die dunkle, oft mehrdeutige Rede des Orakels mag unsinnig geklungen haben und zunächst vielleicht unverständlich gewesen sein, da sie lediglich Wörter auf Wörter, und nicht Wörter auf Realien zu beziehen pflegte, bis in der Wirklichkeit selbst eine Situation eintrat, die das Orakel nachträglich klar und plausibel werden ließ. – Die mir liebste Sendung ist »Kunst & Krempel« beim Bayerischen Fernsehen – Leute wie ich und du bringen irgendwelche Erb- oder Fundstücke zur Begutachtung (Stühle, Musikinstrumente, Vasen, Kerzenständer, Bilder, Kommoden, Spiegel usf.), zwei Experten beschreiben, situieren, bewerten in Gesprächsform die Gegenstände, deren Verkaufswert zwischen zehn und hunderttausend Euro liegen kann – da wird in freier Rede höchst kompetent über handwerkliche Verfahren, Werkzeuge, Materialien, Signaturen, Schulen, Marktverhältnisse, Anwendungen berichtet, alles in strengem Direktbezug zum jeweiligen Objekt, alles ohne jedes theoretische Geflunker, dafür aber oft mit sichtlicher Begeisterung der Experten und zur echten Verblüffung der Besitzer. Würde bloß (das sage und wünsche ich mir) über Literatur … über das Handwerk des Schreibens mit solcher Sachkompetenz geredet!

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