Eugenijus Ališanka: exemplum

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eugenijus Ališanka: exemplum

Ališanka-exemplum

DER ALCHIMIST

mein blut im tiegel
wenn ich es überm gas erhitze
wird es flink wie quecksilber
sieh da schon regnet es
jenseits des meeres ab
und hängt als nebel am alpenolymp
wenn ich salz des lebens hineinstreue
flocken gedruckte wörter aus
elektronen die in den schläfen stechen
laß ich das fenster offen über nacht
ist es am morgen schwarz
erwärme ichs im herd mit brandrückständen
und unleserlichen texten aus kaffeesatz
vermische es mit deinem blut
und warte zwanzig minuten
dann sieht es aus wie alter wein
das nenne ich nicht wissenschaft
schon gar nicht kunst
ich experimentiere ergo sum

 

 

 

ich experimentiere ergo sum

− Der litauische Dichter Eugenijus Ališanka. −

Eugenijus Ališankas Gedichte kommen so behende, so leichtfüßig daher, daß man meinen könnte, sie seien vielleicht allzu unbekümmert und möglicherweise von leichtherzigem oder gar leichtfertigem Charakter. Diesen Eindruck scheint auch das von jeher einfache Erscheinungsbild seiner Lyrik zu bekräftigen: Ališankas ungereimtes, umgangssprachliches Parlando ist durchgängig klein geschrieben und mäandert wie ein ungehemmter Redefluß fast ohne Punkt und Komma durch die Verszeilen.
Es verwundert deshalb nicht, daß der Dichter von manchen litauischen Kritikern und Kollegen der Logorrhö geziehen wird. Sein Schaffen fällt durch alle Maschen der „genres in der litauischen dichtung“ (das gleichnamige Gedicht im vorliegenden Band war ein Auftragswerk für eine Moskauer Literaturkonferenz; es durfte nicht mehr als fünfzehn Zeilen umfassen). Ab und zu wird es der sogenannten „intellektuellen lyrik“ zugeordnet, wohl eher aus Ratlosigkeit: Seine in fast jeder Hinsicht ephemere, Zufall, Ironie und Beweglichkeit zugetane Poetik entzieht sich dem Zugriff solcher Kategorien.
Nicht weniger schwer wiegt die ebenfalls in Litauen gelegentlich anklingende Vermutung, der Erfolg des Dichters im Ausland sei auf die vermeintliche Anspruchslosigkeit seiner Gedichte, wenn nicht auf marktorientiertes Kalkül zurückzuführen. Im argwöhnisch auf Eigenständigkeit bedachten Litauen, wo die Europäische Union nicht selten mit der Sowjetunion gleichgesetzt wird, geht das Gespenst der „Eurolyrik“ um, die unter Verzicht auf Metaphern, Seele und Musik mühelos in alle Sprachen übertragbar sei. So ist es auch nicht erstaunlich, daß Ališankas langjähriger, erfolgreicher Einsatz für die Herausgabe, Präsentation und Verbreitung von litauischer Literatur – als internationaler Programmleiter des Litauischen Schriftstellerverbands, als Organisator des populären Lyrikfestivals Frühling der Poesie und als Chefredakteur der englischsprachigen Zeitschrift Vilnius Review (die zeitgenössische litauische Literatur im Ausland vorstellt) –, daß dieses Engagement von übelwollenden Kollegen mit dem Wirken eines sozialistischen Kulturfunktionärs verglichen wird.
In Deutschland dagegen genießen seine unprätentiösen, humorvollen und präzisen Gedichte spätestens seit Erscheinen der zweisprachigen Ausgabe von aus ungeschriebenen geschichten (Köln 2005) eine für die litauische Literatur beispiellose Wertschätzung und Beachtung: Kein anderer Schriftsteller seines Landes erfreut sich solcher Resonanz im deutschen Feuilleton und wird so häufig zu Lesungen und Stipendienaufenthalten eingeladen.

Ališankas Œuvre ist Ausdruck einer inzwischen gut zwanzig Jahre währenden konsequenten und ergiebigen Suche, ihr in exemplum erklärtes Ziel das, was „es wahrscheinlich nicht gab, / aber nicht nicht geben konnte“. Diese griffige Umschreibung des Kontingenzprinzips von Richard Rorty verweist wie der lateinische Titel und die Eingangszitate des Buchs, die den Bezug zur lateinischen Rhetorik herstellen, auf die ernsthaften Absichten des Dichters: unwahrscheinliche, aber vorstellbare Alternativen im scheinbar Zwangsläufigen zu schaffen.
Schon in den 2002 im Original erschienenen ungeschriebenen geschichten hatte Ališanka gewundene Pfade des Zufälligen und Beiläufigen freigelegt oder gebahnt – Pfade, die die kollektive Geschichte und die individuellen Lebenswege kreuzen und durchkreuzen. Mit exemplum entfernt er sich nun noch ein Stück weiter von dem, was gemeinhin als Wirklichkeit und Wahrheit bezeichnet wird, um immer neue Versuchsanordnungen für immer neue Selbstbilder zu erfinden. Freilich, auch die ungeschriebenen geschichten waren zum Teil schon erfunden:

Es sind Geschichten, die von keinem anderen erzählt oder aufgeschrieben werden, weil es meine sind, keine universellen, daher auch der Titel des Buchs. Ich erzähle Geschichten meines und nicht nur meines Lebens, die manchmal erfunden sind, obwohl was einmal erdacht ist, ja bereits existiert. Das Übergreifende Thema dieses Buches ist die Suche nach Identität. Ich stöbere in den Überresten meiner Kindheit, zerstöre eine Maske, setze mir eine neue auf, schaue in den Spiegel und in die Welt. […] Vielleicht läßt sich ja so eine Verbindung herstellen zwischen dem Anfang und dem Ende der Geschichte, die Verbindung zwischen meinem Schreiben und meiner Kindheit in Sibirien. Vielleicht rechtfertige ich mich vor meinem eigenen Leben. Sagen wir, an diesem Punkt war es so. Schreiben heißt, sich selbst ständig umzuschreiben.

Doch während Ališanka in diesen Geschichten dem fragmentarisch flüchtigen, exzentrisch unvollkommenen Bilder- und Gedankenstrom lustvoll – er selbst sagt „dionysisch“ – freien Lauf ließ und ihn nur behutsam bändigte, erkundet er in exemplum vornehmlich die Voraussetzungen und Umstände, unter denen Identität entsteht oder erschaffen wird. Das Exemplarische besteht in der jeweiligen Versuchsanordnung und im fortgesetzten Versuchen: „ich experimentiere ergo sum“. So wirken diese neueren Gedichte trotz der bewußt herbeigeführten Haltlosigkeit konturierter, ruhiger, entschiedener.
Mit der auf den ersten Blick geringfügigen Akzentverschiebung vom Erfundenen zum Erfinden, vom strikt Partikularen und Singulären zum Verallgemeinerten, Exemplarischen setzt sich eine umfassendere Bewegung in Ališankas Schaffen fort, die weit über das ironische Spiel mit verschiedenen Selbstbildern hinausgeht.

Der studierte Mathematiker, der 1960 im sibirischen Barnaul als Kind einer Familie litauischer Deportierter geboren wurde, hatte in seiner Jugend Lyrik zu schreiben begonnen, weil er im spätsowjetischen Litauen einen Ausweg suchte aus der „versteinerten, absurden Situation“, einen Ausweg, den er sich vom Spirituellen versprach. Heute bezeichnet er sein von „geistigen Vätern“ wie Rilke, Celan und Trakl angeregtes Frühwerk als „ziemlich autistisch“. Doch diese vom Existentialismus und fernöstlichen Religionen geprägte Hinwendung zum Transzendenten war für die litauische Lyrik der siebziger und achtziger Jahre geradezu typisch.
Sein Debütband erschien 1991 unter dem Titel lygiadienis (äquinoktium) und enthält vorwiegend in Naturbilder gefasste Gedankenlyrik:

hier sind unsere dinge, berührbar,
vom frost des bewußtseins gebremst
an der grenze der auflösung, zerfallen doch,
bruchfiguren, sandige marskanäle,
in ihnen ströme schwarzen talgs, wie
tausendfach verzweigt, lagunen
(in eine fallen wir
sommerandrogyn)

Schon hier deutet sich eine hin und wieder ins Leere laufende oder mißlingende Transzendenzbewegung an: „wir lauschen / doch niemand / erwacht / von unsern gedanken“. In Ališankas zweitem Lyrikband Peleno miestas (Stadt aus Asche), 1995, nimmt das Metaphysische die konkrete Gestalt einer toten Stadt an, so auch des vorzeitlichen, leblosen Vilnius, von dem es heißt:

unbekannt bleibt
das kalte vilnius
[…] die stadt wird nicht erweckt,
nicht fortgespült die schöne trauer

denn „es gibt ein geheimnis, gegen das wir machtlos sind“. Dieses Geheimnis bleibt unausgesprochen, es entzieht sich der Sprache. Ališanka deutet die metaphysische Stille postmodern: Als abgerissene, gelöste Verbindung zur Vergangenheit verheißt sie Freiheit („mögen sie namenlos bleiben, die straßen, unfest“), als entfallene Sprachbarriere eine Möglichkeit unmittelbarer Erfahrung („nun ist es besser wir / verstehen einander ohne worte“) und schließlich, als Leerstelle, ein letztes Refugium des Sakralen.

Hierin unterscheidet sich Ališanka von seinem älteren Dichterkollegen Tomas Venclova, für den die Architektur von Vilnius seit der Kindheit zeichenhaft ist; sie spricht zu ihm aus der Vergangenheit und spielt deshalb auch als Gegenstand seiner poetischen Metaphysik von Anfang an eine entscheidende Rolle in Venclovas Schaffen. Auch einige von Ališankas Altersgenossen, wie zum Beispiel der in Litauen hochangesehene und wegen seines intrikaten Spiels mit Klängen und Bedeutungsnuancen des Litauischen leider nur schwer Übertragbare Aidas Marčenas, greifen Venclovas (und Brodskys) Programm auf, die kulturellen Traditionen des alten Europa zu rekonstruieren und nach seinem Untergang fortzusetzen. Transzendieren bedeutet für sie das Überliefern einer in der Sprache aufgehobenen, das heißt ihr endliches Dasein überschreitenden Vergangenheit.
Während diese Lyriker sich zur Maxime der klassischen Moderne bekennen, der Schriftsteller sei das Werkzeug der Sprache und nicht umgekehrt, hat Ališanka schon in einem 1993 publizierten Essay sein Unbehagen an einer Poetik ausgedrückt, in der „der Dichter der Sprache unterworfen ist [und] die Sprache mit sich selbst spricht“; Dichter und Worte nur als „Medien für jenseitige Welten“ dienen:

Hier wird eine der Bedeutungen des Dichters als Opfer sichtbar – der Dichter bringt sich selbst zum Opfer, er ist ein Schwarzes Loch, das in andere Welten und zugleich zu völliger Vernichtung führt.

Dieses Motiv hat er im nächsten, 1999 erschienenen Band dievakaulis (gottes knochen) entfaltet, dessen ohnmächtiges, unzulängliches Subjekt – oft der Dichter selbst – durch eine unbegreifliche, gottverlassene Welt irrt:

ich hab vergessen, welche stadt die erste war
wo frauen ein gebet auf händen trugen
und männer die namen des todes bewahrten
zu spät aus gottes körper rieselt schnee
ich lauf im straßengraben schlucke wind
und mein vergessen wird vollkommen.

Schon hier kündigt sich jene grundlegende Wende an, die mit den ungeschriebenen geschichten vollzogen wurde und für den Fortgang von Ališankas Schaffen von entscheidender Bedeutung sein wird: Durch eine Umorientierung auf das Naheliegende, Ironische und Unvollkommene vollzog er Ende der neunziger Jahre die entscheidende Abkehr von der metaphysischen Dichtung. Im Rückblick sagt er:

Vor Jahren war Lyrik für mich fast ein Zweig der Metaphysik, während mich das Leben selbst nur insofern interessierte, als es ,Spiritualität‘ enthielt. Deshalb tilgte ich damals, soweit es ging, den trivialen Alltag aus meinen Gedichten, ich suchte nach Reinheit, beinahe Abstraktion. In jüngerer Zeit bemühe ich mich um die Details ,dieser Welt‘, ihre Widerspenstigkeit, Konkretheit und Umgangssprache sind heute wichtiger für mich […] Es ist wirklich kaum zu glauben, daß ich Kunst und Leben so lang trennen konnte.

Mit der zunehmenden Distanz zu Metaphysik und Spiritualität ist Ališankas Lyrik, durchaus im Sinne Wittgensteins, verspielter geworden:

wovon man nicht reden kann
das muß man sich vorstellen
was man sich nicht vorstellen kann
muß man lieben
[…] noch weniger womit man nicht spielen kann

Seither ist sein Schaffen von jener fast trügerischen Einfachheit, Klarheit und Beweglichkeit, die ihm in der Heimat den erwähnten Vorwurf der Stillosigkeit und Trivialität einträgt. Eine charakteristisch saloppe, treffende Erwiderung auf diese Kritik findet sich im Gedicht „genrekrise“:

ich rede wie ich kann
mit einem menschen so
und anders mit einem stein
das ist nicht literatur heißt es
[…] kaum änderst du den stil
schon werfen sie dich aus der bar
aus dem flugzeug aus dem zug
ich komme zu fuß zurück

Bereits in dem Band gottes knochen nimmt das überforderte lyrische Subjekt die Züge eines Sonderlings an: „gottes sonderbare kreaturen / immer sonderbarer lebst du, immer näher.“ Diese Figur begegnet uns in exemplum recht häufig – so in Gestalt des (heiligen) Narren oder des glücklosen Ritters zum Beispiel in „kasimir-markt“ und „aus der geschichte des rittertums“, aber auch als mißratener Sohn in dem Gedicht „formular für eine erklärung“, der seinem Vater schließlich erklärt: „recht hast du vater doch ich habe unrechter“.
Dieser notorisch kurzsichtige, vergeßliche, ängstliche Protagonist, der fortan mal unbekümmert, mal verdutzt und mal versonnen durch seine litauische Heimat, die weite Welt und ferne Vergangenheiten irrt, stellt sich beim Unterlaufen von festgefÜgten Deutungsmustern ausgesprochen geschickt an. Er schwankt zwischen Ernst und Farce, zwischen Absicht und Versehen:

ich fühle mich heute
wie ein kater
in der regenrinne
ungewiss wie ich hineinglitt
wohin es mich verschlägt

Überdies ist es dem Dichter gelungen, mit dieser sehr wandelbaren Gestalt seine Erkundung des Sakralen fortzusetzen und sich dabei der Ironie wie der Inversion zu bedienen; in exemplum finden sich ab und zu feine Andeutungen:

dein gott war logisch
meiner nicht
er mag paradoxa

So verleiht Ališanka dem lächerlichen, linkischen, heiligen Mißlingen ein zeitgemäßes, leises Pathos:

ich wußte nicht wie leben
versuchte es so und anders
wie in diesem witz
nichts kam dabei raus
ich sehe mich um
es geht allen ähnlich
nur manchen misslingt es wohl schöner

Seine Gedichte sind eine freundliche Ermunterung zu Versuch und Irrtum, zum „Unfesten“ als Lebensform.

Claudia Sinnig, Nachwort, Dezember 2010

 

Eugenijus Ališanka,

einer der wichtigsten jüngeren Lyriker der Gegenwart, legt nach seinem vielbeachteten Werk aus ungeschriebenen geschichten (2005) einen neuen Gedichtband vor. Ein ruhelos Reisender, a poet on the road, durchmißt er die Räume des neuen Europas, auf den Spuren seiner politischen und kulturellen Topographie. Leere Wachtürme stehen in versehrten Landschaften; die Städte und Provinzen zwischen Vilnius und Venedig bergen ungezählte Erinnerungen, eigene und fremde, eingefärbt von uralter Erfahrung. Wie Zbigniew Herbert, den Ališanka ins Litauische übersetzt hat und dem er als Autor viel verdankt, hält sein lyrisches, Rollen spielendes Subjekt Zwiesprache mit Dichtern und Philosophen: Epikur und Empedokles, Dante und Proust, Miłosz und Barthes.
Seine reimlose, prosodische Lyrik kommt erzählerisch, oftmals auch recht ironisch daher: wenn etwa Odysseus ins heutige „nichtraucher-europa“ heimkehrt. Diese Gedichte verweisen nicht auf sich selbst, sondern öffnen den Blick für die Wirklichkeit, die sich in ihnen verfangen hat. Mit traumwandlerisch leichter Hand geschrieben, wirken sie wie die Seiten eines imaginären Reisetagebuchs:

eine reise ist ja nichts anderes
als die verheißung eines neuen lebens,
la vita nuova, die eschatologische flucht ins paradies, in das du noch gar nicht
hinein willst

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2011

 

Am Beispiel des Lebens

− In exemplum, dem Gedichtband des litauischen Lyrikers Eugenijus Ališanka, gehen Denken und Schauen eine produktive Verbindung ein. −

Litauen ist ein Land der Lyrik. Das liegt zuerst einmal daran, dass die archaischste heute noch gesprochene indoeuropäische Sprache über einen Formen- und Klangreichtum verfügt, der seinesgleichen sucht. Zum anderen hat die sowjetische Zensur bis zur Wiederherstellung des unabhängigen Staates vor zwei Jahrzehnten dafür gesorgt, dass Gedichte interessanter waren als Romane und natürlich aufregender als die gleichgeschaltete Presse, weil man in eine Verszeile Andeutungen einschmuggeln konnte, die im Klartext nie durchgegangen wären.
In der Demokratie hat die Prosa die Lyrik überflügelt – an Auflagenzahlen wie an erreichter Aufmerksamkeit. Doch Poesiefestivals sind noch immer ein fester Bestandteil des Kulturlebens, und Gedichtbände haben (bei 3,5 Millionen Einwohnern!) dieselben Auflagen wie im deutschen Sprachraum. In Litauen gibt es sie noch, die „reinen“ Lyrikerinnen und Lyriker – und nicht als Auslaufmodelle.
So wie Volksmusik und ambitionierte zeitgenössische Kompositionen in Litauen ein größeres Nahverhältnis haben als das im deutschen Sprachraum vorstellbar ist, war auch die Lyrik länger der liedhaften Tradition verpflichtet. Daneben gab und gibt es einen formstrengen Klassizismus, der sich etwa bei Tomas Venclova, dem international bekanntesten litauischen Lyriker, aus der Tradition der russischen Altmeister wie Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam speist. Auch der noch wenig übersetzte Aidas Marcenas, der im Oktober dank eines Stipendiums des Bank Austria Literaris seine Poesie in Wien vorstellen wird, liebt die alten strengen Formen, allen voran das Sonett.
Eugenijus Ališanka, der einzige litauische Lyriker, der neben Tomas Venclova mit Gedichtbänden in deutscher Übersetzung vertreten ist, hat mit beiden genannten Traditionen nichts gemein. In seinen bisher sechs Lyrikbänden finden sich von Anfang an freirhythmische und reimlose Gedichte ohne feste Strophenformen. Und wichtiger als die litauische Poesie war für ihn wohl die internationale, die er gut kennt, denn er hat aus dem Polnischen und Englischen übersetzt und viele Jahre das litauische Festival Frühling der Poesie organisiert, zu dem er Poeten aus zahlreichen Ländern eingeladen hat. Mittlerweile ist er selbst auf den internationalen Poesiefestivals zu Hause.
Ališanka ist 1960 im sibirischen Bernaul geboren, wohin seine Großeltern während der sowjetischen Okkupation deportiert worden waren, und im Vilnius der 1960er-Jahre aufgewachsen, wo er Mathematik studierte. Biografische Fakten haben lange keinen Eingang in seine Poesie gefunden – ihm schwebte das Gedicht als Kristall vor, gereinigt von konkreten Orten, Ereignissen oder Namen.
Mittlerweile hat er eine Kehrtwende vollzogen, die schon am Band aus ungeschriebenen geschichten abzulesen war, der 2005 in deutscher Übersetzung erschienen ist. In dem 2010 in der Edition Thanhäuser publizierten Essayband Baltische Adria, verfasst von Ališanka und dem slowenischen Autor Ales Debeljak, wird die Biografie selbst zum Thema. Das Konkrete wird für Ališanka immer wichtiger, was wiederum nicht heißt, dass seine Gedichte nun um Orte und Namen kreisen, aber „sie geben dem ganzen einen Geschmack, eine Färbung und eine Verbindung mit der Realität – und diese Realität ist interessant“, wie der Autor selbst kommentiert.
In dem mit einem Abstand von fünf Jahren nun endlich auf Deutsch erschienenen Band exemplum stecken sehr viele Realitätspartikel, und schon ein Blick auf die Gedichttitel zeigt Berlin, Wiepersdorf oder Venedig. Ališanka wurde als „poet on the road“ bezeichnet, er ist ein intensiv Reisender, der Europas Hauptstädte ebenso kennt wie entlegene Gegenden. Aber dem Kasimir-Markt von Vilnius widmet er ebenso selbstverständlich ein Gedicht. Seine kulturellen Reminiszenzen von der Antike bis zu Nietzsche oder Roland Barthes sind nie aufdringlich, sondern eingeschmolzen in Bildern und sinnlichen Wahrnehmungen, und sie blitzen in den oft interpunktionslosen Satzgefügen mit ihren syntaktischen Mehrfachbezügen nur kurz zwischen anderen Wortgruppen auf.
exemplum heißt der Band – ein Titel, den man nicht übersetzen muss. Der Autor wollte damit natürlich kein Beispiel im moralischen Sinn geben, sondern nach eigener Aussage „ein Beispiel des Lebens, Denkens und Fühlens“. Viele verschiedene Töne und Sprechhaltungen sind diesen Gedichten eigen, Denken und Schauen gehen eine produktive Verbindung ein, und Ironie ist ihnen nicht fremd. Das Nachwort der Übersetzerin Claudia Sinnig ist eine wunderbare Einführung in Ališankas poetischen Kosmos – auch wenn die litauische EU-Skepsis übertrieben dargestellt wird und ein sinnstörender Satzfehler zum Innehalten zwingt.
In der Übersetzung finden sich auch einige weniger glückliche Formulierungen, doch im Grunde gelingt es ihr, Texte zu kreieren, denen der Drive, die vorwärtsdrängende Dynamik des Originals eigen ist und die bei all den komplexen syntaktischen Bezügen eine musikalische Leichtigkeit haben, der man sich lesend gern überlässt.

Cornelius Hell, Der Standart, 23.7.2011

Ein ruheloser Welt-Erkunder

− Übungen in Zweifel und Polemik – Gedichte und ein Essay des Litauers Eugenijus Ališanka. −

Es mag kein Zufall sein, dass Eugenijus Ališanka (Jahrgang 1960) in Vilnius Mathematik studierte, bevor er sich ganz dem Geschäft des Dichtens verschrieb. Die Klarheit, ja Nüchternheit mathematischer Ratio zieht den Litauer ebenso an wie das Regelwerk der Rhetorik, das komplizierten Denkfiguren elegant zur Sprache verhilft. Ein Stimmungslyriker ist Ališanka nicht, vielmehr ein präziser Vermesser eigener Widersprüche und der Paradoxien der Welt, der – nicht ohne Witz, Ironie und Melancholie – an allen Gewissheiten rüttelt. exemplum heisst sein – von Claudia Sinnig souverän übersetzter – zweiter Gedichtband auf Deutsch, dessen reimlose Verse Titel tragen wie: „fast ein weltuntergang“, „geschichte der gotteslästerungen“, „billigtarif“, „am anfang war kein wort“, „C3“, „lego“, „via negationis“ oder „never never“. Nietzsche-, Kleist- und Roland-Barthes-Zitate werden hier zu Reibungsflächen, der Exemplum-Begriff zu einem Raster, der Nachahmung und Abweichung gleichermassen vereint. Keine Frage, Ališanka spielt raffiniert mit Traditionen und Quellen, um die hehren „Vorbilder“ durch sein knappes, kritisch distanziertes Parlando zu unterlaufen.

Instrument des Zweifels
Nicht Respekt, sondern Zweifel ist das Instrumentarium dessen, der sich seiner Identität immer neu vergewissern muss. Ein beständiges Ich gibt es bei Ališanka nicht, nur eines, das Rollen erprobt, um sie wieder zu verwerfen. Weder Theoreme noch Definitionen kommen ihm bei. Symptomatisch heisst es in „curriculum vitae“:

hungrig geboren
absolvent des klassenspiels
diplomierter melancholiker
das ganze leben tagelöhner
am längsten ausgeübte tätigkeit – taschendieb
kurzzeitig messdiener für den einen
und sargmacher für den anderen gott
zur zeit saisonschriftsteller
lebe allein mit frau und sohn
habe mehr bücher publiziert als geschrieben
zehn erklärungen verfasst
appelle und bewerbungen
ein paar stellungnahmen
für die verkehrspolizei dieses jahr ausgezeichnet
mit einem preis des kultusministeriums
laureat im schienen-marathon
ich bitte um arbeit entsprechend meiner qualifikation
irgendwo am boden
selbst für den lohn
eines hirten mit flöte

Kühle Übertreibung macht den Reiz dieser Selbstdarstellung aus, die im „selbstporträt nach empedokles“ eine noch kühnere Variante findet. Hier ist das Ich ein Zusammensetzspiel aus Torsi, Accessoires und Schaufenstergegenständen, eine gleichsam zufällige Assemblage.
Mit zersetzender Ironie begegnet Ališanka indes nicht nur dem Ich, sondern auch Lebensentwürfen, dem Hamsterrad des Alltags, literarischen Moden und Genres, dem „nichtraucher-europa“, dem Pathos der Liebe und dem lieben Gott. Seine Übungen in Zweifel und Polemik liessen sich (zumindest teilweise) unter das Motto stellen: „Ich experimentiere, ergo sum.“ In der Tat ist es Ališanka um existenzielle Beweglichkeit zu tun, während ihn Sprachexperimente wenig interessieren. Nirgends der Ehrgeiz, zur ästhetischen Avantgarde zu zählen, keine verkrampfte Wortakrobatik, dafür ein schonungsloser Blick, der die Wirklichkeit demontiert, um sie eigenwillig wieder zusammenzusetzen. Diesen Blick praktiziert Ališanka nicht zuletzt auf seinen ausgedehnten, weltweiten Reisen.
Mehrere Gedichte des Bandes zeigen den Reisenden in Greenwich, Venedig oder Berlin. Zeigen ihn am Wannsee in Zwiesprache mit Kleist und den Dämonen der Nazi-Zeit („senkrechter rauch aus dem schornstein / senkrechte steine / hölzerne charly-kreuze und wannsee-kalmus / der see zählt die fische / vor der schliessung im winter / … / auch ich mache knocheninventur?“) oder in Wiepersdorf vor „leeren wachtürmen“ und „stacheldrahtzäunen zum schutz von seltenen arischen gewächsen“. Mit wenigen Strichen wie Spatenstichen reisst Ališanka die Kruste der Historie auf, um düstere Schichten freizulegen. Der oft als „intellektueller Dichter“ apostrophierte Litauer scheut den Blick in Abgründe nicht, hat er die Geschichte doch am eigenen Leib erfahren. Geboren im sibirischen Barnaul, als Kind zwangsdeportierter Eltern, erlebte er in Vilnius die Agonie und den Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Seine Wissbegierde stillt er seither, „schon ganz europäer“, als ein Odysseus der Strassen und Worte.

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 10.8.2011

Reimlose Betrachtungen vom europäischen Rand

Eugenijus Ališanka wurde 1960 in Sibirien geboren und wuchs 1962, seit der Rückkehr der Eltern aus dem Exil, in Litauen auf. Er hat Mathematik studiert und ist als Lyriker, Essayist, Übersetzer und Herausgeber tätig. Die hier versammelten und ins Deutsche übertragenen Gedichte erschienen 2006 im Original. Ališanka ist ein wendiger und intelligenter Dichter, er entzieht sich unter anderem durch konsequente Kleinschreibung ohne Verwendung von Satzzeichen herkömmlicher Kategorisierung. Zufall, Ironie und (gedankliche) Beweglichkeit zeichnen seine Alltagsbilder aus, die aber alles andere als alltäglich sind. Am (mitunter erfundenen) Beispiel („exemplum“) seiner selbst, sucht einer am Rande Europas und der Sowjetunion nach Identität. Im Unterschied zu anderen litauischen Dichtern, wie etwa Tomas Venclova (oder Brodsky in Russland), muss sich Ališanka nicht mehr mit der in Gedichten transzendierten Rekonstruktion kultureller Traditionen Europas begnügen – der eiserne Vorhang ist weg, die bedrückende Sicherheit fort, der wirtschaftliche Druck an ihre Stelle getreten. Im Nachwort des Bandes schreibt die Übersetzerin Claudia Sinnig deshalb folgerichtig: „Seine Gedichte sind eine freundliche Ermunterung zu Versuch und Irrtum, zum ,Unfesten‘ als Lebensform.“ Vielleicht ist es gerade dies, was mich (neben seinem liebvollen Gemecker) an einen Abiturienten erinnert: Den Kopf voll mit Wissen, das Leben in der Theorie vor sich, die Praxis wartet, hier einfach mit dem Unterschied, dass Ališanka aus der Schule „Litauen“ auf das Leben „Europa“ blickt.

CURRICULUM VITAE

hungrig geboren
absolvent des klassenspiels
diplomierter melancholiker
das ganze leben tagelöhner
am längsten ausgeübte tätigkeit – taschendieb
kurzzeitig messdiener für den einen
und sargmacher für den anderen gott
zur zeit saisonschriftsteller
lebe allein mit frau und sohn
habe mehr bücher publiziert als geschrieben
zehn erklärungen verfasst
appelle und bewerbungen
ein paar stellungnahmen
für die verkehrspolizei dieses jahr ausgezeichnet
mit einem preis des kultusministeriums
laureat im schienen-marathon
ich bitte um arbeit entsprechend meiner qualifikation
irgendwo am boden
selbst für den lohn
eines hirten mit flöte

Andreas Gryphius, amazon.de, 19.1.2012

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Eugenijus Ališanka – Poetisch musikalische Lesung mit Saulius Petreikis am 17.5.2012.

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