Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Schreiben in Haft (Teil 2)

Schreiben in Haft

Teil 1 siehe hier

Dichtung in Haft – gewöhnlich bleibt es bei der Zeugenschaft, der Vergegenwärtigung von Schmerz, Hunger, Krankheit, Angst; bisweilen – seltener – von Hoffnung, Gott- und Weltvertrauen. Sentimentalität und Pathos, wie auch immer intoniert, prägen die poetische Rhetorik. Auffallend dabei ist die auf den ersten Blick befremdliche Tatsache, dass die Verfasser solcher Dichtung (unabhängig davon, ob es sich um Laien oder professionelle Autoren handelt) so gut wie ausnahmslos die gebundene Form poetischer Rede verwenden, mit regulärem Versmass und meistens auch mit korrekt gesetzten Reimen, derweil man doch meinen möchte, dass in Gefangenschaft freie Rhythmen in reimlosen Versen bevorzugt werden sollten als Reaktion auf den Freiheitsentzug.
Doch so ist es nicht. Hundertfach liesse sich anhand von Lagerlyrik aus dem sowjetischen Gulag oder aus deutschen KZs belegen, dass gerade unter repressiven Haftbedingungen durchwegs die strenge Form gepflegt wird. Meine Erklärung oder auch bloss meine Vermutung dazu wäre: Die strenge künstlerische Form zwingt zu geistiger Disziplin in geistferner Isolation; und darüber hinaus: Die konsequente Formstrenge macht deutlich, dass geistige Freiheit auch in gebundener Dichtung sich behaupten kann.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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