Das Gedicht? Nicht ich! 

Minima poetica

Nicht ich schreibe das Gedicht, das Gedicht schreibt sich durch mich, wird geschrieben, indem es, von mir diskret gesteuert, sich aus sich selbst entfaltet: sich erfindet („pli selon pli“).

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Ich als der, der das Gedicht aufschreibt, muss das erste Wort haben – ein kontextfrei gesetztes Wort, eine Wortverbindung als Impulsgeber genügt. Dabei kommt es nicht auf die Wortbedeutung, nicht auf eine intendierte Aussage an, sondern auf das Wort als Lautgestalt, die Wortverbindung als Klangereignis.

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Das Gedicht, noch virtuell, erwächst aus einer beliebigen lautlichen Vorgabe, die einer beliebigen Quelle – Gespräch, Stimmengewirr, Radionachrichten, Werbespruch, Zeitungslektüre – entstammen kann.

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Hintergehbar ist das Gedicht und ist auch die Wahrheit des Gedichts nicht; vielmehr als um den Nachvollzug dessen, was mit dem Gedicht gemeint und wie das Gedicht gemacht (gewesen) sein könnte, geht es darum, mit dem Gedicht etwas anzufangen, ihm einen Sinn, eine Perspektive zu geben, die über das hinausreichen, was der Autor intendiert haben mag.

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Die Wahrheit des Gedichts ist das, was als Gedicht gegeben ist. Diese Wahrheit … dieses Gedicht zu verstehen, setzt nur eins voraus – dass man liest, was dasteht; was als mögliche Bedeutung mitgegeben ist und wie das Gedicht im Einzelnen verfertigt wurde, ist für dessen Sinnhaftigkeit unerheblich.

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Wer lesen, wer hören kann, kommt dem Gedicht und seiner Wahrheit nah genug.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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