Klingt’s

… um auf Thomas Klings letztes Buch zurückzukommen. Das Umschlagbild zeigt in einer bukolisch wirkenden, von Efeu und anderm Grünzeug verschatteten Szenerie einen Mann mittleren Alters – man darf ihn für den Autor halten –: wie er, den Kopf ins Laub gereckt, mit zaghaft ausgebreiteten Armen und zusammengepressten Knien auf einem antikischen Säulenstumpf sich um Balance bemüht. Die zweifellos ikarisch motivierte Haltung des Dargestellten wirkt durch und durch unfrei, wirkt in ihrer inszenierten Monumentalität zunächst lächerlich, auf den zweiten Blick aber einigermassen anrührend, da man plötzlich zu erkennen glaubt, dass hier nicht ein Höhenflug imaginiert wird, vielmehr ein Absturz oder jedenfalls das fatale Schwanken zwischen dem Sturz von der Säule und dem Abheben in höhere Sphären.
Auswertung der Flugdaten heisst der Titel zum Buch, der Flug muss demnach bereits stattgefunden haben, die entsprechenden Daten sind erhoben, fragt sich nun – was ist von der Elevation, was ist nach dem Sturz geblieben? Den Umschlag habe ich entsorgt, nun liegt der Band, neutral in weisse Pappe gebunden und ohne Aufdruck von Name und Titel, in auffälliger Unauffälligkeit neben andern Büchern auf dem Gartentisch und ist zu lesen. Kling – der Kalauer hat seine Richtigkeit – klingt bei der Lektüre mit; ich jedenfalls kann seine Stimme, die Art seines Vortrags nicht trennen davon, nicht vergessen dabei: «Farbglut zitternd ins werk zu setzen / Mir mein’ kunst erlaubt.» Und aber wie bringt man ein Gedicht von Kling zum Klingen; er selbst war, wie mir scheint, gerade umgekehrt daran interessiert, jeden Wohllaut abzuschmettern, ihn schon beim Aufkommen untergehn zu lassen in Dissonanzen oder in einem plötzlichen lautlosen Halt!.. Ohnehin war eher der Rhythmus seine Stärke, das Knacken und Knirschen der Verse macht seine spröde Musikalität aus.
Hier zeigt sich, ohne Zagen und Zittern, der Sprachmachthaber auf dem Säulenstumpf; nämlich: «… der doch wie kein anderer der deutschen Dichtung für kolossale Erhabenheit, für erhabene Kolossalität steht.» Steht also da, von den lyrischen Flugdaten wörtlich wie wirklich bestätigt: «erhobenen haupts, die hände ausgebreitet». Von Schwanken oder Zögern kann da keine Rede sein, dieser Autor ist sich seiner Sache sicher und seiner selbst auch. Die Auswertung der Flugdaten erbringt dafür allerdings nur einen einzigen Beleg, das aus vier Terzetten komponierte Gedicht «Amaryllis Belladonna L.», welches dem Band eine unauffällige, aber starke Mitte gibt und das überhaupt zum Stärksten gehört, 
was ich kenne von Kling. Belladonna kann als die «Blume des Bösen» par excellence gelten, horrend schön, wundersam giftig, kurz – ein mörderisches Gewächs; hier ist’s:

doch diese augen leuchten schwarz noch im vergehn.
gross, als ob der garten, ins herbar gepresst, so einfach
zu begreifen wäre wie ein netz. die äderungssysteme

stehen auf und haben weite: strahl und gift. so rauscht
die blüte, findet sich gedruckt; hat altersfarbe, stockt
und hat das licht um im papier sich selbst zu sehn.

ist dies der druck, den die linné’sche lumen­uhr –
der zeiger reckt den hals –, ist dies ein platzen, regnen
und verrinnen? ist farben­rast dies, andacht, rasen, kö­-

pfe­hängenlassen? und hat die eigene farbenskala,
aufgeschäumtes rot, mit festem blick. der stockfleck
nennt die stunde; blitzen. nachtgesicht lädt auf.

Abgesehn von einem fragwürdigen Anthropomorphismus («der zeiger reckt den hals») und zweidrei rhythmischen Schwachstellen ist das ein untadelig gebauter Text, der sich – schwarz leuchtend sozusagen – abhebt von den übrigen Beiträgen des Buchs, Gedichten wie Essays, die mehrheitlich in unproduktivem Originalitätskrampf befangen bleiben, Zeugnisse eines pathetischen Siegerwillens, der an seinen eignen Ansprüchen scheitert.
Sicherheit und Selbstgewissheit hat Thomas Kling besonders eindrücklich bei seinen Lesungen, aber auch im Gespräch zum Tragen gebracht. Dabei empfand ich – vorm innern Aug das unwillkürlich sich einstellende Bild eines Feldpredigers an der Front im Feindgebiet – seinen schnarrenden Ton, sein harsches Wortgebell oft als bedrängend und irgendwie ungut. Der Qualität seiner Gedichte war die Dramaturgie der Pausen und des Aufbrausens jedenfalls abträglich, wie sein Sprechen insgesamt, das zwar einen auktorialen Willen durchzusetzen schien, dabei aber dem 
Wort die Luft entzog, seinen Klang schon bei dessen Aufkommen abschmetterte, ihn scherbeln liess.
Persönlich kannte ich Kling kaum, das Gespräch unter Literaten, nach gemeinsamen Lesungen, dominierte er durch seine ungewöhnliche Geistesgegenwart, die jeden Beteiligten – mich auch – verstummen oder entnervt abwinken liess. Klings Reden war dezidiert monologisch gerichtet, zwar voll von Anspielungen und Assoziationen aller Art, doch immer souverän und effektvoll gebündelt, um ihn selber zur Geltung zu bringen. Irgendwann 
möchte ich Kling lesen können, ohne ihn dabei hören zu müssen; aber noch ist die Erinnerung an seine provokante Rhetorik bei mir so stark, dass sie jede aktuelle Leseerfahrung über seinen Texten erschwert und verunklärt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00