Frank Geerk: Vom Licht der Krankheit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Frank Geerk: Vom Licht der Krankheit

Geerk-Vom Licht der Krankheit

UTOPIA, TÄGLICHE ÜBUNG

Immer wieder den Körper verlassen,
Auch die Gefühle, zuletzt die Gedanken.
Einwärts fallen, immer nur einwärts,
Hingegeben dem Sog,
Der dich immerzu aufnimmt
Ganz ohne Wiederkehr –
Aber siehe, du tauchst wieder auf,
Um neu zu verfügen,
Selbstlos, was du verlassen hast.

 

 

 

Krankheit, Alter und Tod

sind aus unserem alltäglichen Bewußtsein verdrängt. Wir leben mit der Illusion ewiger Gesundheit und Jugendlichkeit und des ständigen Wachstums von Macht und Gewinn. Doch plötzlich treten Umstände ein, die unser Weltbild erschüttern und zutiefst verändern.
Frank Geerk, der als Autor und Essayist die unterschiedlichsten Umbruchzeiten des Denkens, Fühlens und Handelns beschrieben hat, folgt hier den Spuren der eigenen Erkrankung. In seinem vielleicht persönlichsten Buch legt er Zeugnis ab vom Dunkel, das sich im eigenen Körper ausbreitet und den mühsam und unter Qualen wiedergefundenen Zeichen des Lichts. Die Krankheit begann mit einem leichten Zittern der linken Hand. Es folgten Lähmungserscheinungen, die schließlich den ganzen Körper mehr oder weniger erfaßten. Eine Odyssee durch die verschiedenen Kliniken in Deutschland und der Schweiz begann.
Statt in Depression zu versinken, schrieb Frank Geerk Gedichte über seine Erkrankung, trat in einen intensiven Dialog mit sich selbst ein. Rückhaltlos offentbart er sich hier mit allen Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen. Er scheut die Auseinandersetzung nicht, versucht, in das eigene Dunkel einzudringen. So gewinnt er unter Schmerzen eine neue Gelassenheit und Heiterkeit, die ihm eine andere Sicht auf das Leben eröffnet.

Von Loeper Literaturverlag, Klappentext, 2000

 

Die besseren Menschen Frank Geerks

Logische Surrealismen
Seit über zwei Jahrzehnten immer wieder, da betritt Frank Geerk mein Arbeitszimmer, läßt sich schwer auf die Couch nieder, stemmt beide Füße auf den Boden, legt die Arme lang über die Rückenlehne und schaut mich begeistert von unten herauf an. „Stell dir vor“, sagt er dann etwa, „sie haben mich verhaftet!“ Oder er ruft:

Ich bin fürchterlich krank! Gestern radelte ich 500 km!

Und sehr oft stößt er in seiner Leidenschaft einfach einen abgrundtiefen Seufzer aus und bemerkt schlicht:

Jetzt habe ich soeben das Beste geschrieben, was ich jemals geschrieben habe!

In dem vorgegebenen Rahmen über Frank Geerks Bezug zum Sinn der Literatur bzw. seines Lebens zu schreiben, kann für mich nur heißen, einer nun fast 25jährigen Freundschaft entlangzuerzählen, einer katastrophalen Freundschaft im reinen Sinn des Worts. Katastrophe und Literatur liegen nahe beieinander oder führen sich selbst mit Vorsatz und emsig aufeinander zu. Katastrophen sind Umkehr und Wendung des vorgegebenen Wegs, viel seltener, als man denkt, Unheil und Verhängnis. Gemeinsam haben Frank Geerk und ich viele Katstrophen erlebt, große und kleine, deutliche und verschwommene, schmerzende und erheiternde, und wir haben sie als dem Lebens- und Schreibsinn zugehörig registriert. Es begann schon bös. Ich hatte, als wir uns das erste Mal trafen, hart die Zähne zusammengebissen, und er antwortete mit einem kurzen Kopfnicken und schaute in eine andere Richtung. Ein Jahr zuvor war sein erstes Buch erschienen, ein Roman in freien Rhythmen, es hieß Gewitterbäume und hätte nach dem Wunsch des Autors den Titel tragen sollen „Ein Gefühl wie Falltür-Öffnen“. Geerk mochte das Buch bereits nicht mehr besonders. Meine eigene Schriftstellerei war ein Gerücht in meinem Kopf. Geerk war dreiundzwanzig und ich zwanzig. Er las Kafka und ich Mombert.
Frank Geerk zog damals mit einem Dutzend Gedichte, den „Bösen Gesängen“, und einer Band durch diverse Beat-Keller Deutschlands und der Schweiz und hatte in der Freizeit, und weil er Stipendiat der Deutschen Studienstiftung war und denen etwas bieten mußte, Philosophie und Psychologie belegt. Im selben Jahr verließ ihn Lin und Yvette mich. Sie zogen in eine gemeinsame Wohnung. Wir beschlossen, sie zurückzuerobern. Seit der bezüglichen Katastrophe während der Silvesternacht 1969/70 in Paris blieben wir befreundet.
Es hat dieselben Frauen gegeben in unserem Leben, aber schön hintereinander, mit Ausnahme der Poesie – Zeitschrift für Literatur, die wir für fünfzig Ausgaben dreizehn Jahre lang teilten, eine Geliebte, die zwischen 1972 und 1985 kaum Eifersucht kannte und eines gewöhnlichen Mordes starb, der uns beide nicht reut. Aber in ihrem Namen ist zum ersten Mal Rainer Brambach (1917–1983) zu erwähnen, den Frank Geerk selbst in diesem Buch mit eigenem Beitrag vorstellt. Ohne Brambachs Begleitung, vielfachen Rat und feurige Ermunterung hätte es die Poesie kaum jemals gegeben; er wirkte manchmal als ungenannter Mitherausgeber – und wesentlich beeinflußte er das Schreiben Frank Geerks und Denken, Fühlen und Sein, die hinter diesem Schreiben stehen.
Geerks Kinderzimmer habe ich nie gesehen. Vater und Mutter bestätigten mir, er sei 1946 in den Trümmern Kiels geboren, Bruder und Schwester das Aufwachsen im deutschen Grenzort Weil am Rhein – das häßliche Haus an der Baslerstraße neben dem Polizeiposten und die nahen Felder, Hecken und Gräben, in und zwischen denen er eine unverdrossen als glücklich geschilderte Kindheit verbrachte, wurden mir gezeigt. Aber an das Zimmer seiner Adoleszenz, in dem er Hölderlin und Pound las und Gewitterbäume schrieb, erinnere ich mich gut. Er bewohnte es noch als Student an der Basler Uni dann und wann, zu Besuch bei den Eltern, die von Weil nach Lörrach, ebenfalls ein Grenzort zum nahen Basel, in eine kleine Villa oben am Waldrand gezogen waren. Zwischen diesem Ortswechsel der Familie Geerk innerhalb des südlichsten Baden und entlang der Schweizer Landesgrenze und dem ersten veröffentlichten Buch, da lag ein mehrjähriger Abstecher als Internatszögling der Rudolf-Steiner-Schule nach Freiburg im Breisgau. Die Steinersche Pädagogik half gewiß ein erstes Mal, das Herz der Welt der Literatur zu öffnen und darin tätig zu werden; was sie sonst noch mit Frank Geerk anrichtete, ist spurenhaft in den späteren Büchern nachzulesen. Dieser Hinweis mag genügen, wir wollen ja nicht gemein werden, obschon vielleicht die Vermutung angebracht scheint, die damaligen Erfahrungen hätten Frank Geerks breit in der ganzen Persönlichkeit abgestützte Oppositions-Willigkeit zu ungestörtem Wachstum gebracht.
Das Zimmer des Jugendlichen, wie gesagt, habe ich noch kennengelernt. Es hatte, wie das mit solchen Refugien zu sein pflegt, den Auszug des Bewohners überstanden. Die Atmosphäre des Hauses blieb bis zu dessen Verkauf und dem Wegzug der Eltern aus der Gegend erhalten: deutsche Bürgerlichkeit, reinlich, wohlgeordnet, exakt-gepflegt, gastfreundlich und auf sehr wohlerzogene Weise herzlich. In Franks Zimmer aber stapelten sich hauptsächlich seine Bilder: Er wollte nicht Dichter, sondern Maler werden. Der Gekreuzigte lieferte das bevorzugte Motiv.
In der Vitrine im Eßzimmer lagen die Kriegsauszeichnungen und -erinnerungen des Vaters. Dr. Jens Geerk hatte als Erster Ingenieur eines U-Boots mehr Feindfahrten mitgemacht als von der Admiralität erlaubt. Der Vater war ein liebenswürdiger, blitzgescheiter Held, der schon vor dem Krieg ein abenteuerliches Leben geführt hatte, danach Physik studierte, ein bekannter Atomphysiker geworden war und in den sechziger Jahren zum kaum verheimlichten Stolz seines jüngsten Sohns, der noch immer gerne einen spannenden Krimi schreiben würde, in eine berühmte Affäre des israelischen Geheimdienstes verwickelt worden war… Und die Mutter? Sie erschien mir als eine solche, wie sie in den Büchern steht, die nicht mehr geschrieben werden – das Geerksche Familienleben des Elternhauses gab sich nach außen intakt und nach innen gepflegt, und Frank Geerks schwieriges Bedürfnis, selbst ein entsprechender Familienvater zu sein – und wenn nicht, so die Rolle möglichst bravourös zu spielen –, erklärt sich leicht aus den Verhältnissen. Bedürfnis und Rolle, beide sind literarisch eindrücklich dokumentiert in dem Gedichtband Zorn und Zärtlichkeit, der Geerks Vater-Werden und seine ersten Begegnungen mit seinem ältesten Sohn inspiriert dichterisch behandelt, sowie in den beiden Romanen Herz der Überlebenden und Das Ende des Grünen Traums, in denen – unter anderem – die Strukturen und Verhaltensmuster des Personals einer deutschen Kleinfamilie an Weite und Unendlichkeit der Welt zerbrechen. Es handelt sich dabei um drei extrem autobiographische Bücher, deren Fiction ausschließlich in häufig, aber streng logisch verwendeten Surrealismen liegt. Sie alle sind Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre geschrieben, und vielleicht ist es für ihren Autor bezeichnend, daß er seitdem vom familiären Thema-Strang dieser drei Hauptwerke die Finger gelassen hat.

Der Wille zur Freude

HAUTNAHE FRAGEN

Wem nütze ich noch? Wem schade ich heut?
Wieso stehe ich auf? Ich leg mich ja doch wieder hin!
So fragte ich häufig beim Frühstück.
Seit mich dein Brüllen weckt, Jan,
Stellen sich andere Fragen –
Ich renne sofort in dein Zimmer,
Wo du, ein ruderndes, hungriges Bündel,
Dich aus der Nacht in den Tag zurückschaufelst.
Ich schäle dich frei aus dem Schlafsack,
Du klammerst dich an mich, erwartungsvoll. –
Was nütz ich dir heut? Wie schad ich dir nicht?
Wie stehe ich da, bevor ich mich hinleg am Abend?
1

Bei aller Themenbreite des Geerkschen Werks und der Vielfalt seiner Motive und Erfindungen liest sich das Gedicht, 1981 veröffentlicht, wie ein zusammenfassendes Motto über das existentielle Schreibprogramm des Dichters.

Wie stehe ich da, bevor ich mich hinleg am Abend?

Die Zeile kann nur schreiben, wer sich der Welt zutiefst verantwortlich fühlt, ihre Anforderungen zu seinen eigenen macht und trachtet, ihnen zu genügen.

Wie nütz ich dir heut? Wie schad ich dir nicht?

Beide Fragen stehen der zusammenfassenden Schlußfrage zum Lebenstag voran. Sie handeln vom Leitprinzip der Geerkschen Literatur, von ihrer Ästhetik, die hier für einmal durchaus mit dem Sinn zu verwechseln ist. Frank Geerk hat kaum eine Zeile veröffentlicht, die sich nicht völlig vorteilhaft auf ihren Allgemeinnutzen hin untersuchen ließe, was sowohl den Zusammenhang, in dem sie steht, als auch ihre definitive Aussage betrifft.
Ästhetik des Nutzens, der Nützlichkeit, Be-Nutzbarkeit innerhalb einer Literatur, insbesondere jener Geerks, wird nicht unter ökonomischem Aspekt begriffen. Es geht hier nicht um materialistische Schreibweise, im Gegenteil um den unmittelbaren Reichtum an Ethik. Es sei unterstrichen, daß sich die spezifische Ästhetik von Geerks Dramen, Romanen und Gedichten in der Behauptung konzentrieren läßt: Schön ist, was wohltut. Unmittelbare Wirkung ist gleich Sinn, ist gleich Ästhetik, und die Bewegungsrichtung der Wirkung verläuft geradeaus auf ein Wohltun zu. Ohne dieses Ziel werden keine zwei Wörter aneinandergereiht. Sinn, final begriffen.
Ich sage nich: Schönheit gleich das Gute. Geerks Literatur hat ihre naiven Seiten, wie die Literatur von uns allen. Jedoch ist Geerk natürlich nicht in abwertender Bedeutung naiv. Seine Literatur weiß in ihrer ganzen Geradlinigkeit um die seltsamen, dunklen Umwege durchs Unglück und Unglücklichsein genau Bescheid, analysiert sie und führt den Leser diese Wege entlang. Jedoch auch in den verzweifeltsten Momenten, die der Autor seinen Protagonisten, seinem Publikum und seiner eigenen Sprache zumutet, bleiben diese drei Größen von Frank Geerks persönlichem „Willen zur Freude“ geführt.
Unter dieser Autorität mögen nun Geerks literarisches Personal, Leser und Sprache in alle möglichen Fallen tapsen und an Existenzränder geraten – ästhetisch bleibt ihnen erhalten eine durch alle Zweifel intellektueller und anderslautender Erfahrung bewahrte Reinheit des Herzens. Diese bezieht sich auf die Erfahrung der Reinheit des glücklichen Moments. Der glückliche Moment ist in der Dichtung Frank Geerks das Äquivalent des Dichters als Zustand. Dieser gewährt wiederum die Erfahrung des Daseinssinns auf ganz anderen Gebieten, der Erotik, des intellektuellen Spiels und Verstehens, des sozialen Seins, der politischen Erkenntnis, der geschwisterlichen Umarmung, des geistigen Schauens, des Essens und Trinkens usw.

Lyrik, Roman und Theaterstück
Betrachtet man rückblickend dieses bisherige, etwa 25jährige „Gesamtwerk“ vom heutigen Standpunkt, 1992, aus, so lassen sich zwei Besonderheiten feststellen, die für einen Schriftsteller unseres letzten Jahrhundertdrittels bemerkenswert sind. Zum einen verteilt es sich gleichgewichtig auf drei (wenn man will, vier) verschiedene literarische Sparten, zum andern wird kein einziges aufgegriffenes Thema anders behandelt als unter seinem religiös-geistigen und/oder sozial-gesellschaftspolitischen Aspekt. Die Sparten heißen Lyrik, Roman und Theaterstück. Als vierte wäre die Essayistik zu nennen, jedoch verfängt diese sich so sehr in den diversen Themata, die von Geerks Primärliteratur eingefangen sind, daß man ihr kaum mehr als eine schriftstellerische Zuträger-, in der Velofahrerterminologie des begeisterten Radlers Geerk: Wasserträgerfunktion zubilligen mag. Weiterhin fällt eine Eigenart dieses Drei-Sparten-Werks auf, für die der Autor wohl nur unbewußt, will heißen: rein instinktiv verantwortlich ist. Während sich in Lyrik, Romanen und Erzählungen die erwähnten Annäherungen und Auseinandersetzungen an und mit religiösen und gesellschaftlichen Fragen durchdringen und gegenseitig bedingen, befaßt sich die Theaterarbeit Geerks ausschließlich mit letzteren. Wo in den Theaterstücken religiös-existentielle Problemstellungen situationsbedingt auftauchen, lösen sie sich – sofern sie das überhaupt tun – auf der sozialen Ebene oder werden philosophisch-psychologisch, jedenfalls denkerisch behandelt. Sooft mystische Erfahrungsbereiche in Lyrik und Erzählung eindringen, sooft werden sie in der dramatischen Erfindung umgangen. Damit, scheint mir, wird dem literarischen Mittel eine Sinnzuweisung erteilt. Daß sie, wie ich hervorhebe, einigermaßen absichtslos sich bisher so ergeben hat, weist ihr eine um so größere literarische Bedeutung zu.
Geerk hat in allen seinen Büchern, die auf Gewitterbäume folgten, eine außerordentliche Sensibilität für zeitbedingte gesellschaftliche Strömungen und Interessen bewiesen und entwickelt. Auch wo er als Herausgeber fungiert (lange Jahre mit mir zusammen am Redaktionspult der Poesie und verantwortlich für mehrere namhafte Anthologien), bewegt er sich weder in historischer noch in modistischer Absicht im Trend der Zeit. Das soeben fertiggestellte Paracelsus-Buch ist ein weiterer Beitrag zur Aufarbeitung aktueller Belange. In einer kulturgeschichtlichen Epoche, die weltweit geneigt ist, jede geistige Erfahrung und Erfahrungsmöglichkeit vom gehirnlichen Verstehen abzuziehen und auf das zu verlegen, was man am besten mit „Performance“ bezeichnet, was also „body“-bedingt erlebt wird, bietet jene Kunst-Welt, die den Körper per se benötigt, das Theater, dem heutigen Literaturschaffenden, der geistige Themata verarbeitet, die Gelegenheit schlechthin, in ihr mit sich herumzuspielen.
Frank Geerk verweigert hier jedoch jede Innovationsbereitschaft. Keine modernen Weihe- und Mysterienspiele! Das ganze Vertrauen des Schriftstellers wird in eine klassische Dramaturgie investiert, die Kunst des Dialogs auf die althergebrachte Form von pädagogischem Disput beschränkt. Der bewährte Deus ex machina taucht gerne auf. Die Handlung vorwärtstreibende Bühnengespräche besitzen informativ-erzählenden Charakter, unterbrochen von Stichwortgebern. Mir ist klar, daß das eine unzulässige Zusammenfassung bedeutet. Es handelt sich aber um ein so signifikantes Merkmal der dramatischen Arbeiten Geerks, daß es sich nicht aus purem Zufall so ergeben kann: Subtile psychische Entwicklungen oder auch nur Regungen verschwinden auf Geerks Theaterboden zugunsten von Handfestigkeit, die genau das vorzeigt, was sie kennzeichnen will.
Geerk verwendet also das Theater als Ideenträger mit einer gewissen Brutalität. Ob man sich damit einverstanden findet, berührt nur einen innerdisziplinären Diskurs. Worauf ich hinauswill, ist, daß sich an seiner Theaterarbeit am deutlichsten nachweisen läßt der große Abscheu des Schriftstellers Frank Geerk vor allem, was nach „L’art pour l’art“ auch nur im entferntesten riecht. Der Sinn der Kunst, der Literatur – oder noch schlimmer: von sich selbst – in sich selbst zu suchen, im alleinigen Bestehen, in der ästhetisierten Existenz, im Verharren, in der Bewegungslosigkeit, in Passivität und Introversion, das nein, das, bitteschön, nicht!
Ihm ist jedes Befindlichkeitsschreiben fremd, ja feind. Das Liebesgedicht ist dem Politsong gleichwertig; der Erkenntnis sind die ethische Folgerung und aus ihr sich resultierende Tat auf derselben Ebene zur Seite gestellt. Im oft so mühseligen täglichen literarischen Tun geschieht der Lebens- bzw. Literatursinn; ein Geschehenlassen bleibt unakzeptabel. (Frappant und darauf beruhend war der Erfolg von Geerks Lyrik in literarischen Kreisen Indiens, den ich auf einer gemeinsamen Reise beobachtete. Das Kontemplative, das wir uns aus den indischen Kulturen fast importgeil filtern und worauf wir uns dorthin auch auf die Suche begeben, ist den Intellektuellen vor Ort im selben Überfluß und Überdruß vertraut wie uns selbst die Mängel westlicher philosophischer Systeme und unserer diversen christlichen Konfessionen. Die Wachheit, mit der das Geerksche System lyrischer Praktizierbarkeit aufgenommen, verfolgt und auf seine tägliche Anwendungsmöglichkeit untersucht wurde, ist auf einheimischen literarischen Foren kaum vorstellbar.)

Der Kugelschreiber als moralisches Instrument

DEM BETRIEBSDICHTER X.

Was schreibst du denn, verdammt nochmal?
Still aus der Hand fließt dir der Saft,
bis daß du umfällst schlapp und kahl
und hasts gegen dich selbst geschafft!

Hirnhändler und Bleichgesichter
die drücken jeden, den man mag
in das Papierverließ! Ein deutscher Dichter
erfüllst du dankbar deinen Schreibvertrag.

Und Ohren stumpf von Ohropax
Und jedes Wort ein letzter Gacks,
versäumst du emsig Tag für Tag.

Und da dein Lohn ein Spottbetrag
Und dein Verschleiß bis aufs Gebein,
ist dein Gedicht dein Totenschein
.2

Wer hat schon die Gelegenheit, einem Schriftsteller beim Schreiben zuzuschauen? Er sitzt am Tisch mit gekrümmtem Rücken, Stirn gerunzelt, der Kugelschreiber gleitet über das Papier, die Hand stockt, der Blick geht hoch, die Augen verengen sich, die Stirnfalten gleiten in die Waagrechte, der Blick richtet sich in unendliche Ferne. Nach einem Moment wiederholt sich das in umgekehrter Reihenfolge, der Kugelschreiber gleitet über das Papier.
Franks Kugelschreiber glitt über das Papier. Er saß mit gekrümmtem Rücken am Tisch; die linke Hand schützte das Blatt, als wehre der Schüler einen neugierigen Blick seines Banknachbarn ab. Die rechte Hand stockte. Die blaßblauen Augen hoben sich vom Blatt und richteten sich in unendliche Ferne. Undsoweiter vice-versa.
Ich habe Frank unzählige Male beim Schreiben zugeschaut. Das erste Mal kurz nach Lins und Yvettes Abgang. In einem Hotelzimmer im Odenwald, unweit der „Siegfried-Eiche“ und des „letzten dreischläfrigen Galgens Deutschlands“ (sic!), fanden wir Ruhe. Er benützte den kleinen Tisch am Fenster; ich schrieb mein erstes Buch auf meinem Bett. (Die Schreibmaschine teilten wir uns. Sie war, und ich schwöre, daß es kein Witz ist, auf einem quergestellten Brett über eine Ecke der Badewanne installiert und von der Toilettenschüssel aus gut bedienbar.) Die jüngste Beobachtung seines Schreibens geschah wieder auswärts. Wir tranken Bier auf einer Restaurantterrasse in Benares; ich versuchte, Affen zu fotografieren, und Frank blickte sinnend auf den Ganges. Plötzlich begann er seine Kleidung abzuklopfen und in seiner Umhängetasche zu wühlen, und ich hätte die logische Frage für ihn formulieren können:
„Hast du was zum Schreiben da?“
„Sicher“, antwortete ich.
„Gib mal her!“
Er setzte sich an dem wackligen Tisch zurecht, runzelte die Stirn, senkte den Blick, und der Kugelschreiber glitt über das Papier, stockte manchmal, der Blick hob sich, die Augen verengten sich, schauten in die Ferne, konzentrierten sich wieder aufs Papier, der Kugelschreiber glitt weiter. Was schrieb Frank? Gleich würde er sich auf den Schenkel klatschen, abgründig seufzen und begeistert behaupten, einen völlig umwerfenden Einfall notiert zu haben.
Was immer Geerk auf der Terrasse am Asi-Ghat geschrieben hat, sein Kugelschreiber fing seine unmittelbar sittliche Reaktion auf eine indirekte Erfahrung auf. Vielleicht ist das der Sinn des Schreibens überhaupt? Sicher hatte, was er schrieb, mit den Affen, die ich fotografierte, nichts zu tun.
Jederzeit vermag Geerk, ein Schriftsteller, die Realität um sich herum zu vergessen, und sie gerät zum Schreibtisch seines Einfalls. Wahrscheinlich geht es jedem Schriftsteller so. Bei Frank Geerk, der sich in seinen Veröffentlichungen sehr direkt um reale Probleme und „Welt“ bemüht, fällt es nur besonders auf. Das Wort Einfall hat ja auch eine militärische Bedeutung, und Einfällen begegnet Geerk mit dem Kugelschreiber. Er ist kein Träumer wie ich, sondern ordnet seine Einfälle sogleich auf ihre Tauglichkeit, sie mit dem Kugelschreiber zu bearbeiten. Das billige Zwei-Franken-Instrument, das er vorzugsweise verwendet, dient ihm dazu, den bedrohlichen Aspekt, den jeder Einfall hat, in eine vorläufig reichlich segensreiche, gewinnbringende Richtung zu lenken. Der Gewinn ist jene Moral, die angesichts jedweder Bedrohung zwischen Atomkrieg und Herpes, zwischen familiären Schwierigkeiten und Rockmusik, zwischen fälligem Mietzins und national-internationalem Terrorismus dem Pessimismus trotzt: Einfälle sind bäumig.

BÄUMIG

Heut abend fiel uns gar nichts auf,
was aufzuschreiben wäre.
Das Glas, der Tisch, der Stuhl, der Boden,
die bodenlose Leere.

Da geht die Tür auf, kommt ein Baum
mit Blättern dicht gesegnet,
mit Ästen, Wurzeln, starkem Stamm,
er sagte leis: es regnet.

Ein Baum an unserm Tisch,
das lohnt sich aufzuschreiben.
Ein Baum, der Wein statt Wasser will,
das lohnt sich aufzuschreiben
.3

Ein paar Hundert Abende meines Lebens verbrachte ich mit Brambach und Geerk in der Kneipe. Sie schrieben nicht immer an ihren „Kneipenliedern“, doch lagen diese legendär in der Luft. Darüber schreibt Geerk selbst in seiner Würdigung unseres Freundes Rainer Brambach. Die „Kneipenlieder“, Vers für Vers, decken sich mit ihrer Absicht auf jeder Ebene ihres Entstehens. Ihr Entstehen war ihr Sinn – aber eben gerade nicht im Gedankengebäude der „l’art pour l’art“, sondern in der existentiellen Erfahrung: Während ich schreibe, bin ich ich selbst. Daß zwei dazugehörten, bedeutet nichts als eine sehr berührende Verfeinerung dieses erlebten Wissens: Ich selbst bist du.

Trotzdem!
Die alte Suche nach dem Du, in dem das Ich sich findet – wohlgemerkt: und umgekehrt! – läßt die Liebenden der Gewitterbäume gegen Ende des Buches ausrufen:

„Du bist ich!“
„Du bist ich!“
„Iduch!“
„Iduch!“
4

Sie fahren fort:

„Und bald müssen wir wieder
Auseinander.“
„Ja,
Wahrscheinlich.“
5

Diese anrührend immerwährenden – und: jugendlichen – Zeilen setzen sich als Großes durch das ganze sozial reich engagierte Werk Frank Geerks fort. Man weiß nicht, von wem das „Wahrscheinlich“ ausgesprochen wird, vom Mann oder von der Frau. Es hängt ebenso als Drohung über jeder aufgegriffenen Geschichte wie als Verheißung, und darin liegt viel poetischer Trotz.
Handkehrum hat Geerk etlichen seiner Bücher theoretische Nachbemerkungen hinzugefügt, in denen er in Form von fordernden Sentenzen und aktuellen Informationen nochmals in andern Worten zusammenfaßt, worum es ihm geht. In Zorn und Zärtlichkeit heißen sie „Aufmerkungen“, im Ende des Grünen Traums sind es die „Botschaften“ der Indianerhäuptlinge, im Handbuch für Lebenswillige nennt er sie einfach „Anmerkungen“. Es läßt sich an ihnen sehr gut die dialektische Spannung nachvollziehen, unter welcher der Dichter steht, unter der er leidet und die ihn paradoxerweise anspornt, voller Lust zu schreiben. Sie ist eine Quelle der Einfälle, und sie ist eine ständige, schmerzliche Mahnung, daß kaum etwas ist, wie es sein sollte. An ihr wetzen sich die Widersprüche so lange, bis sie formuliert werden müssen – im ohnmächtigen Bewußtsein, daß sie dadurch keineswegs eine Lösung finden.
Mit dieser Spannung umzugehen, sie zu hegen und zu pflegen, sie aufzubauen und ihr nachzugeben, hat viel mit der gemeinen täglichen Disziplin des Schriftstellers zu tun, die Frank Geerk verpflichtend ernst nimmt: Etwas zu schreiben, das gelingt, ist körperlich und moralisch erschöpfend. Geerk schreibt immer in quasi zwei Richtungen: „gegen“ und „für“. Gegen die Umstände und für sie. Gegen sich selbst und für sich selbst: trotzdem.

Paracelsus
Vor einigen Jahren stieß Geerk mehr oder weniger zufällig – nach Stoffen aus der Basler Stadtgeschichte suchend – auf die Figur des Paracelsus. Er scheint in ihr etwas gefunden zu haben, das seiner eigenen neugierigen Schriftstellerpersönlichkeit merkwürdig entspricht und gleichzeitig einen Orientierungspunkt liefert, nach dem sich der ganze Mensch richten mag. Ohne jegliche konfessionelle Wertung kann man Paracelsus als schriftstellerisches Animations- und Studienobjekt des nun über Vierzigjährigen gleichgewichtig neben den gekreuzigten Christus des Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen stellen. Stand der junge Mann resp. Künstler im psychologischen Anziehungsbereich der Imitatio Christi (an die berühmte Anklage wegen Gotteslästerung wollen wir eigentlich gar nicht erinnern), so findet sich der selbstbewußte Schriftsteller heute in einem Renaissencerebellen bestätigt, der die gegensätzlichsten sogenannten „guten Eigenschaften“ des Menschen in sich ertrug, erforschte, erweiterte und zur Anwendung brachte.
Frank Geerks Literatur ist als Form des Daseins selbstverständlich eine des Werdens. Literatur als Form des Seins, das tönt retrospektiv, aber man kann es, wie Frank, auch progressiv auffassen, in die Zukunft weisend, die platterdings ungewiß ist, aber darin liegt der – oft naive, oft Vergeltung und Korrektur fordernde, oft als Irrtum wegzusteckende – Versuch, aus der Gegenwart gestalterisch in die Zukunft hineinzuwirken. Für Frank Geerk bleiben Utopien, die er als moralisch verantwortbare Zukunftsmöglichkeiten durchdacht hat, anstrebbare Ziele, für deren Verwirklichung er bereit ist, Bücher zu schreiben. (Beispielsweise ist er einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die ich kenne, der sich irgendwann einmal vorsätzlich entschlossen hat, von seinem Beruf bürgerlich zu leben, denselben Anspruch an diesen Beruf zu stellen wie ganz selbstverständlich jeder Bäcker es tut, Handwerker, Wissenschaftler, Postbote, Händler. Es mutet jeden, der sich in der literarischen Szene auskennt, als utopische Idee an.) Frank Geerk wird diese Bücher voller Verve schreiben, und es wird ihm schräg aus den Augen gleiten, ob er mit seinen Büchern neben dem Ziel liegt, es trifft oder darüber hinausschießt: Das Schreiben dafür, als Zurverfügungstellung eines literarischen Wegs, der analog dem Weg der mittelalterlichen Labyrinthe in den Kathedralen, der in unzähligen Schlaufen rund ums Zentrum führt, dann direkt hinein und auf entsprechend verschlungenem Pfad wieder zum Ausgangspunkt, auf diese Weise direkt die Vervollkommnung des individuellen Anthropos umrundet, bleibt Zweck genug.
Paracelsus hat unter anderem die Hauptfigur eines im bisherigen Gesamtwerk Frank Geerks gewichtigen Dramas ergeben. Der alten Schwindeldiskussion, inwiefern ein Schriftsteller mit seinen Figuren ganz oder teilweise zu identifizieren sei, wollen wir hier keineswegs auf den Leim kriechen. Auf einen wesentlichen Sinn-Aspekt vielleicht weniger der geschriebenen Literatur Geerks (soweit sie veröffentlicht ist) als vielmehr seiner Tätigkeit des Schreibens als solcher sei deswegen abschließend mit dem Finger gedeutet. Es handelt sich letztlich um den vornehmsten Aspekt dieser Literatur: In allen Figuren, die Frank Geerk entworfen und erfunden hat, versteckt sich scham- und kraftvoll seine verzweifelte Hoffnung, sie würden im Verlauf ihres Schicksals, das er ihnen oktroyiert, die Chance ergreifen – bessere Menschen zu werden, als er selber einer ist.

Tadeus Pfeifer, aus Joseph Bättig / Stephan Leimgruber (Hrsg.): Grenzfall Literatur. Die Sinnfrage in der modernen Literatur der viersprachigen Schweiz, Universitätsverlag Freiburg, Paulusverlag, 1993

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00