Gisbert Kranz (Hrsg.): Gedichte auf Bilder

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gisbert Kranz (Hrsg.): Gedichte auf Bilder

Kranz-Gedichte auf Bilder

AUFSTAND DES VIADUKTS

Es war ein Volk, das wollte nie
Zum Nachbarn sich bequemen,
Obwohl die Brücke immer schrie:
Ich will euch ’nüber nehmen.

Der Maler sprach: Die Brücke schreit,
Und so ist dirs befohlen,
Und bist zu gehn du nicht bereit,
Sie kommt und wird dich holen.

Das Volk, es denkt: Die Brücke lenkt
Mich ab von meinen Zielen.
Ich bleibe in mich selbst versenkt,
Kann ganz alleine spielen.

Die Brücke Brücke schreit nicht mehr,
Der Maler hat gefackelt.
Doch welch ein Schrecken hinterher!
Die Brücke kommt gewackelt.

Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum;
Sie kommt in vielen Stücken,
Sie nähert sich als wie im Traum
Als viele, viele Brücken.

Das Volk, erschreckt, will endlich gehn
Zum Nachbarn über Brücken.
Doch jetzt kann das nicht mehr geschehn:
Die Brücke ist in Stücken.

Kris Tanzberg, 1970
zu Paul Klees Bild Revolution des Viadukts

 

 

 

Vorwort

Le superflu, chose très nécessaire
Voltaire: „Le Mondain“

Paul Klee fand es schwer, zu einem poetischen Motiv „ein Formmotiv zu erfinden, das sich vollständig mit ihm deckt“. Ebenso schwer ist es, zu Gemälden, Skulpturen oder Graphiken Wortkunstwerke zu schaffen, die ihnen vollkommen entsprechen. Da müßte der Dichter schon zu jenem Urgrund hinuntersteigen, in dem die Gesetze des Seins verborgen liegen, dem sich Mathematik und Traum von entgegengesetzten Seiten nähern und aus dem alle Bilder und alle Worte emporquellen; er müßte etwas von jener Urharmonie und jenem Urzwiespalt erfahren, der das halb bewußte, halb unbewußte Leben hervorbringt, das allen Künsten gemeinsam ist.
Wem dies nicht gegeben ist, der begnügt sich damit, das Bild zu beschreiben, zu rühmen oder zu kritisieren, es anzusprechen oder reden zu lassen, seinen Inhalt oder seine Entstehung zu erzählen, es zum Anlaß von Meditationen oder witzigen Bemerkungen zu nehmen oder es mit eigenen Erlebnissen zu verbinden.
Alle diese Möglichkeiten, ein Bildwerk zum Gegenstand eines Gedichts zu machen, wurden immer wieder versucht, schon seit fast drei Jahrtausenden, heute von mehr Dichtern als je zuvor. Das Bildgedicht ist älter als die Kunstkritik, und es gab schon Theoretiker, die meinten, es sei auch wertvoller als die Kunstkritik.
Überrascht war ich, als ich auf der Suche nach einer Auswahl aus diesem Reichtum feststellte, daß es so etwas noch nicht gab. Eine Anthologie von Bildgedichten, zusammen mit Reproduktionen der Kunstwerke, auf die sie sich beziehen, – wenn ich eine wünschte, mußte ich sie selber machen.
Die Vorzüge eines solchen Unternehmens lagen auf der Hand: Zum ersten Male wäre eine uralte literarische Gattung in ihrer Mannigfaltigkeit, ihren Möglichkeiten und ihrer Problematik zu übersehen. Ein wesentlicher Teil der Resonanz, die einzelne Werke der bildenden Kunst gefunden haben, wäre dokumentiert, was heute, wo man der Rezeption von Kunst mit ihren soziologischen Implikationen besondere Beachtung schenkt, ein dringendes Desideratum ist. Auf keine andere Textart läßt sich zur Analyse und Interpretation ein Kommunikationsmodell so ergiebig anwenden wie auf das Bildgedicht; denn es hat einen außersprachlichen und außerliterarischen Gegenstand, der unabhängig von ihm da ist und außerdem gesehen und mit dem Text verglichen werden kann. Wenigstens hier, wo Bild und Text tatsächlich zusammengehören, wäre jene „wechselseitige Erhellung der Künste“ möglich, die nach langer Ächtung in den letzten Jahren rehabilitiert worden ist. Gerade weil das Bildgedicht die Unterschiede zwischen Bildkunst und Sprachkunst voraussetzt und die Grenze zwischen ihnen unangetastet läßt, vermag es in seinem Medium das zu ergänzen und zu deuten, zu transponieren und zu interpretieren, was das Bildwerk in einem anderen Medium vergegenwärtigt. Nicht nur für die Kunstwissenschaft und die Literaturwissenschaft wäre eine repräsentative Sammlung von Bildgedichten aufschlußreich; auch Soziologie, Linguistik, Psychologie, Komparatistik und Ästhetik könnten dieses Material verschiedenen Untersuchungen zugrundelegen. Die Anthologie der Texte, parallel gesetzt zu einer Galerie der Bilder, böte Stoff zu Übungen in der Sekundarstufe II, in Kollegs und Seminaren. Einige der dabei möglichen Verfahrensweisen habe ich in zwei theoretischen Büchern gezeigt. Last not least: Der normale Leser, für den Gedichte ja geschrieben werden, hätte ein großartiges Lesevergnügen.
Daß eine Sammlung von Bildgedichten ganz Europa einbeziehen müsse, war mir bald klar. Die Verflechtungen und Beziehungen über Länder- und Sprachgrenzen hinweg sind mannigfaltig. Auch hier zeigt sich, daß die europäische Kultur eine Einheit ist und daß jede einzelne ihrer Lebensäußerungen nur im europäischen Ganzen verstanden werden kann. Da es kaum Vorarbeiten gab, stürzte ich mich in das Abenteuer, selbst auf Entdeckungsfahrt zu gehen. In vielen Bibliotheken sah ich Tausende von Gedichtbänden durch. Hunderte von Briefen wurden gewechselt. Nach wenigen Jahren hatte ich mehr als sechstausend Bildgedichte gesammelt. Ohne die Hilfe und den Ansporn von vielen Gelehrten und Schriftstellern wäre das Werk nicht zustandegekommen.
Die Auswahl aus der Fülle des Materials geschah nach folgenden Kriterien: 1. Es sollten Verse ausgelesen werden, die wie die Bilder, auf die sie sich beziehen, von Rang sind. 2. Die großen Namen der europäischen Literatur- und Kunstgeschichte sollten vertreten sein; außereuropäische Dichter und Künstler schieden aus. 3. Zu einem Bild sollten sich möglichst mehrere Gedichte gesellen, damit nicht nur Text und Bild, sondern auch Text und Text miteinander verglichen werden können. Der letzte Grundsatz führte zu einer Zusammenstellung von in mancher Hinsicht ergiebigem Vergleichsmaterial. Ezra Pound sagte:

Das Kunstwerk, das am lohnendsten ist, ist zugleich dasjenige, das zu seiner Auslegung hundert Werke einer anderen Kunstgattung notwendig machte. Ein erlesenes Bildwerk ist der Kern für hundert Gedichte.

Wenn wir ein Bild mit den Augen verschiedener Dichter betrachten können, verhilft uns die Pluralität der dichterischen Deutung zu einem tieferen Verstehen des Kunstwerks, in manchen Fällen auch zu einer Erkenntnis seiner Problematik. So wünschenswert der zweite und dritte Grundsatz der Auswahl sind: beide schränken die Anwendung des ersten Grundsatzes gelegentlich ein. Es konnte sich nicht darum handeln, sozusagen „die schönsten Bildgedichte Europas“ zu versammeln, sondern eine Dokumentation zu bieten. Deshalb ist die Qualität der hier gebotenen Gedichte unterschiedlich. Doch darf sich eine Anthologie, die auch historisch einigermaßen repräsentativ sein will, nicht auf Spitzenleistungen beschränken. Im übrigen seien zwei Erinnerungen gestattet: Ein Text ist nicht schon deshalb gut, weil er von einem viel genannten Autor stammt. Daß ein Autor weithin unbekannt ist, beweist noch nicht, daß seine Verse nichts taugen.
Gewisse Lücken der Anthologie erklären sich daraus, daß die ursprünglich getroffene Auswahl für eine Publikation zu umfangreich war. Ich machte aus einer großen Anthologie mehrere kleine mit jeweils besonderer Akzentuierung. Wer hier religiöse Bilder oder etliche deutsche Künstler und Schriftsteller vermißt, wird sie in den anderen von mir herausgegebenen Bildgedicht-Anthologien finden. Nur durch Teilung des Bestandes war es möglich, zu den Texten auch die Bilder zu reproduzieren. Das Risiko einer kostspieligen Anthologie mit 600 Gedichten und 300 Bildern wollte kein Verlag übernehmen. Ich mußte mich bescheiden und hatte dann doch mehr Glück als Marino. Dieser Barockpoet wollte die vielen Bildgedichte, die er in den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts geschrieben hatte, in einem Prachtband erscheinen lassen, in dem jedem Gedicht die Reproduktion des entsprechenden Bildes gegenübergestellt sein sollte. Wie verärgert war er, als sein Verleger die ,Galeria‘ ganz billig ohne Illustration herausbrachte!
Ohne die Bilder wäre die Absicht der Anthologie nicht zu erreichen: die vergleichende Betrachtung von Bildkunst und Wortkunst zu ermöglichen. Wegen dieser Absicht ist eine Sonderart des Bildgedichts hier nicht vertreten, nämlich die Beschreibung erdachter Kunstwerke in Versen, wie sie seit Homers Ekphrasis des Achilles-Schildes in der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung Europas oft geübt wurde. Von einer anderen Art, dem kumulativen Bildgedicht, das sich nicht auf ein einziges Bild, sondern auf mehrere oder gar auf das Gesamtwerk eines Künstlers bezieht, wurden nur wenige Beispiele aufgenommen.
Daß von den hier versammelten 176 Bildgedichten (von 144 Autoren) mehr als drei Viertel aus dem 20. Jahrhundert stammen, ist insofern berechtigt, als das Bildgedicht an Zahl wie an Qualität in keiner Zeit so reich geblüht hat wie in dieser.
Die fremdsprachigen Texte wurden meist eigens für diese Ausgabe und oft zum ersten Male übersetzt. Wo kein anderer, Übersetzer angegeben ist (das ist bei 77 Texten der Fall), stammt die Übersetzung von mir. 25 Texte erscheinen hier als Erstdruck, und zwar von Walter Bauer, Ronald Bottrall, Beat Brechbühl, Herbert Budek, Carlo Carduna, Hermann Claudius, Jan Czerski-Brant, Walter Helmut Fritz, Lothar Klünner, Kurt Marti, Dagmar Nick, Antonio Ribeiro, Wieland Schmied, Kris Tanzberg; Edith Wiedner und Rudolf Otto Wiemer. Andere Texte wurden bisher nur in Zeitschriften oder Zeitungen veröffentlicht.
Dieses Buch ist – bei aller Freude, die es entzünden kann – ein Behelf. Es hängt mit der Seinsweise der Künste zusammen, daß hier nicht die Gedichte und Kunstwerke selbst, sondern nur gedruckte Texte und Reproduktionen geboten werden können. Mit dem Text ist noch nicht das Gedicht selbst gegeben; es müßte gesprochen werden, da es nur als hörbares Lautgebilde wirklich ist. Die Reproduktionen machen nicht die Kunstwerke selbst präsent, sie können höchstens eine Erinnerung an sie wecken oder eine Andeutung von ihrer Realität geben; sie reduzieren das Format der Originale auf eine Buchseite die Dreidimensionalität auf Zweidimensionalität die Farben auf Schwarz-Weiß; und sie verwischen die Feinstrukturen. Da aber manche Bildgedichte nicht aufgrund der Kenntnis des Originalbildes, sondern aufgrund einer Reproduktion entstanden sind, dürfte dieser Mangel nicht zu gewichtig sein. Das Ideal einer Vereinigung von Bildern und Bildgedichten wäre eine Ausstellung von Original-Gemälden und Skulpturen, auf der Rezitatoren die Bildgedichte vor den einzelnen Bildern sprächen. Oder ein Farb-Ton-Film. Doch selbst bei einer Verwirklichung dieses Ideals hätte die größere Muße zur Betrachtung der Bilder und der Verse immer noch der Leser dieses Buches. Er allein hat so viel Zeit wie er will, um die Bilder im Lichte der von ihnen angeregten Verse zu sehen; um zu studieren, wie ein polnischer Autor ein französisches, ein irischer Dichter ein spanisches, ein schwedischer Lyriker ein italienisches Kunstwerk in Verse „übersetzt“; wie ein Schriftsteller der Gegenwart sich von einer Skulptur der Antike oder einem Gemälde des Mittelalters angesprochen oder befremdet fühlt; wie verschiedene Dichter dasselbe Bild ganz verschieden deuten; kurz – um nach Herzenslust die Brücken zu begehen, die hier zwischen den Zeiten, den Völkern und den Künsten geschlagen sind.

Gisbert Kranz, Frühjahr 1974, Vorwort

 

Das Buch

Bildgedichte – Gedichte auf Werke der bildenden Kunst – sind so alt wie die Dinge überhaupt, denn seit nun bald dreitausend Jahren haben Kunstwerke die Menschen immer wieder zu Wortkunstwerken inspiriert, und im 20. Jahrhundert erfreut sich diese Gattung sogar noch zunehmender Beliebtheit. Die vorliegende Anthologie bietet 176 Bildgedichte von 144 Autoren aus allen Teilen Europas – die englischen, französischen und lateinischen Texte auch in der Sprache des Originals – sowie 57 Reproduktionen von Werken der bildenden Kunst – vom Torso von Milet bis zu Salvator Dali –, auf die sich meist mehrere Gedichte beziehen. 25 Text sind Erstdrucke, viele andere wurden bisher nur in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Die fremdsprachigen Gedichte wurden zumeist eigens für diese Ausgabe übersetzt. Über die Texte und Autoren informiert ein Anhang. Dieses Buch dokumentiert also, wie verschieden Kunst rezipiert werden kann; es ermöglicht die vergleichende Betrachtung von themengleichen Texten, von Bildkunst und Wortkunst, von Originaltext und Übersetzung; und bietet somit dem Leser und Betrachter vielfältige Anregung.

Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1975

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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