Hans Christoph Buch: Zu Georg Heyms Gedicht „Spitzköpfig kommt er…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Heyms Gedicht „Spitzköpfig kommt er…“ aus Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe in 4 Bänden. Band I: Lyrik. 

 

 

 

 

GEORG HEYM

Spitzköpfig kommt er…

Spitzköpfig kommt er über die Dächer hoch
Und schleppt seine gelben Haare nach,
Der Zauberer, der still in die Himmelszimmer steigt
In vieler Gestirne gewundenem Blumenpfad.

Alle Tiere unten im Wald und Gestrüpp
Liegen mit Häuptern sauber gekämmt,
Singend den Mond-Choral. Aber die Kinder
Knien in den Bettchen in weißem Hemd.

Meiner Seele unendliche See
Ebbet langsam in sanfter Flut.
Ganz grün bin ich innen. Ich schwinde hinaus
Wie ein gläserner Luftballon.

 

Doppelte Vorwegnahme des eigenen Todes

In keiner anderen Epoche ist die wechselseitige Beeinflussung von Kunst und Literatur greifbarer als im deutschen Expressionismus, genauer: in dessen Aufbruchsphase vor dem Ersten Weltkrieg. Bei der Lektüre des dreistrophigen Poems fühlt man sich an die traumwandelnden Tiere auf den Bildern von Franz Marc erinnert, der auf Postkarten an die von ihm verehrte Dichterin Else Lasker-Schüler, alias Prinz Jussuff, nicht nur den berühmten „Turm der blauen Pferde“, sondern auch einen „Traumfelsen mit gelber Gazelle“ und einen „Feuerochsen mit Zitronenpferd“ aquarellierte. Das war im Frühjahr 1913, ein Jahr nachdem der vierundzwanzigjährige Georg Heym beim Schlittschuhlaufen in der Havel ertrank, als er seinen ins Eis eingebrochenen Freund Ernst Balcke retten wollte, und drei Jahre bevor Franz Marc vor Verdun gefallen ist.
Selten hat eine Generation genialischer Stürmer und Dränger sich beim Versuch, nicht bloß die Kunst, sondern das Leben radikal zu erneuern, so rücksichtslos selbst verzehrt – und das auch ohne Krieg, den der pubertäre Dichter in seinem Tagebuch herbeisehnte mit den Worten:

Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.

Ein Mondgedicht also, aber anders als der junge Goethe („Füllest wieder Busch und Tal“) ist der expressionistische Bürgerschreck nicht per du mit dem Erdtrabanten, den Klopstock zu seinem „Gedankenfreund“ ernannte, sondern schlägt den volkstümlichen Ton des Kinderlieds an, wie er beispielhaft bei Matthias Claudius erklingt:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.

An die Stelle der Natur aber tritt die Großstadt, und die überlieferte Zentralperspektive wird durch eine diagonal aufsteigende Bewegung ersetzt, wie sie ähnlich auf Bildern von Franz Marc anzutreffen ist: „Kubistisch“ heißt der Fachausdruck dafür, obwohl es sich nicht um einen explosionsartig zerspellten Raum, sondern eher um ein spiralförmiges Sichemporschrauben handelt, das in barocker Dichtung, Kunst und Musik dem Lob Gottes, hier aber der Selbstdarstellung des Autors dient – übersteigert und überspannt im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei wirkt das Gedicht, im Vergleich zur expressionistischen Lyrik der zwanziger Jahre, weniger schrill als schräg: vom spitzköpfigen Mond am Anfang – eine Hommage an Jakob van Hoddis’ Vers: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ – bis zu dem gewollt prosaischen Wie-Vergleich am Schluß, wo das zum Nachtgespenst mutierte Ego des Dichters als grüner Luftballon in den Himmel entschwebt.
Und es klingt wie die doppelte Vorwegnahme des eigenen Todes, wenn Georg Heym sich wünscht, daß „jemand dem Ballonhändler die Schnur durchschnitte“, und sich in einem letzten Traumnotat zusammen mit Rudolf Balcke, dem Bruder seines ertrunkenen Freundes, am Ufer eines verschneiten Sees erblickt:

Ich sehe empor. Und sehe einen Luftballon in rasender Fahrt über die Baumkronen streifen. Über der Gondel, in den Stricken, hängt ein Mann, braune Jacke, kein Kragen, kein Hut. Schwarze struppige Haare, schwarzer Vollbart, das große Auge eines Wahnsinnigen… Dieser Traum hat mich irgendwie furchtbar erschreckt.

Hans Christoph Buch, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00