Karl Krolow: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Gedichte

Krolow-Gedichte

SIEH DIR DAS AN

Sieh dir das an, das könnte
einer sein, der einfach weg geht
aus seinem weltlichen Leben,
nachdem er sich mit einem Rest
Saint Emilion den Mund gespült hatte,
der höflich verschwindet, ohne Panik
seinen Abgang voraussah, als er sich
zum erstenmal fragte, was er hier solle
unter anderen, die das alles
ganz selbstverständlich hinkriegen.
Niemand gab ihm Feuer fürs Weiterleben,
und die sinnliche Revolution
verschaffte keine Erleichterung.
Von diesem Augenblick an
fiel es ihm nicht mehr schwer,
sich zu sagen, daß es
ziemlich gleichgültig sein müsse,
in welche Richtung man sich
entferne.

 

 

 

„Die stille Oberfläche des Gefühls“

Und Karl Krolow, der ist doch Ihr Nachbar, stimmt’s? Jemand unterwegs hat mich gefragt, und ich habe OH JA gesagt und ER WOHNT MIR GEGENÜBER und mir kam die Auskunft schon wie ihre eigene Interpretation vor. Beinah übereifrig war ich, froh darüber, endlich in einem angenehmen Thema gut untergekommen zu sein.
Mit dem ich dann allerdings immer fast sofort wieder aufhöre. Von einem ziemlich hohen Mitteilungswert, so empfinde ich es, ist bereits diese Ortsbestimmung. Wir wohnen so nah, aber wir sehen uns so selten. Wochenlang gar nicht, doch dann, ungeplant, kurz hintereinander häufig, zufällig, ich will Karl Krolow zitieren und sage: EINFACH so. Auf Briefkästengängen, Stichwegen. Ich habe meine Hin- und Rückwege nicht mit seinen Hin- und Rückwegen koordiniert, obwohl sich das wahrscheinlich machen ließe, denn wir leben beide so: im Gerüst fester Gewohnheiten. In Ordnungssystemen, durch die wir, immer da wo sie in die Außenwelt der kurzen Besorgungen sich von den Schreibtischwelten abzweigen, sehr rasch hindurchzukommen bestrebt sind, wir beide wirken, so unterwegs, aufeinander wie zwei, die es ganz schön eilig haben.
Treffen wir uns gern, bleiben wir dann gern beieinander stehen, denn das tun wir nun, wir geben uns die Hand, wir stellen fest, daß wir uns sehr lang nicht gesehen haben, daß wir uns gestern erst gesehen haben, wir reden schnell weiter, als hätten wir etwas hinter uns zu bringen, wir befinden uns den häßlichen verbauten Grundstücken neuer Nachbarn gegenüber; in der Nähe unseres überhaupt nicht hermetisch abgesicherten, überhaupt nicht idyllischen Künstlerkolonialismus gibt es immer diesen praktischen Gesprächsstoff, diese Umweltfragen immer, und wir müssen nicht über Literatur sprechen, sobald wir es aber doch tun, bezichtigen wir uns ironisch und leichthin sofort dieser törichten Überflüssigkeit, aber Verlass ist darauf, daß wir uns nicht UND WORAN ARBEITEN SIE GERADE fragen. Ich bin, als Dialogpartner von Karl Krolow, etwas zügiger motorisiert, weil ich das sein muß, und ich bleibe doch hinter ihm zurück; als seine langsamer Konkurrenz beim Sprechen, bei der Begabung für ein abwechslungsreiches, schillerndes Parlando, und ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich finde, daß es schade ist um Karl Krolows Inspiriertheiten hier in der Briefkastenzone zwischen den bürgerlichen Gärten unseres Viertels, schade um seine ganzen Sätze bloß für mich, eine Art von Verschwendung, dauernd ganz in der Nähe vom Sprechton der Gedichte.
Ich spüre wirklich so etwas wie einen Leistungsdruck angesichts der Krolow’schen Schlagfertigkeiten, die beinah mit sich allein auskommen können. Ich liefere wenig hinzu und Karl Krolow reagiert dauernd auf sich selber, wobei er nicht in Hitze gerät, seine Beiläufigkeit schwächt, wie mir zuliebe, die raschen guten Einfälle ab, ich lobe ihn trotzdem für irgendeinen treffenden Sarkasmus – über die klimatologischen Bedingungen in unseren Arbeitsateliers? Über die Geräuschangewohnheiten eines Nachbarn? Über ein Lyriker-Symposion? – und er wischt mein Kompliment schnell weg, ich muß lachen und komme schon deshalb wieder nicht hinter ihm her, denn er hat längst das Thema gewechselt und ist, fluchtartig schnell und sicher mit den Pointen und unserem gemeinsamen Lebensgeschmack, jetzt bei etwas anderem. Und dauernd finde ich mich doch eine Spur zu langweilig für ihn, der wie aus einer Schule der Geläufigkeit plaudert, der mich unterhält. Wenigstens von meinen paar Stichworten wünschte ich mir eine gewisse Zündstoffhaftigkeit!
Warum fühle ich mich so nachzüglerhaft? Längst brauchen wir beide nie mehr miteinander grundsätzlich zu werden. Wir hören die gleiche Frequenz, aber das erwähnen wir nicht. Nicht so ausdrücklich, nicht als Feststellung. Es erweist sich ja. Könnten – oder MÜSSTEN – wir sonst einen Erfahrungsaustausch über die individuelle Wirkung von Medikamenten für wichtig halten? Heute wäre außerdem über die Schwierigkeit zu reden, mit bevorstehenden Feiertagen zurechtzukommen und eine Art Sympathie für die Arbeitnehmerbeglückungen hinzukriegen: uns beiden sind selbstverständlich die unauffälligen Alltage lieber. Wie gut es tut, gelegentlich und vorübergehend – denn bald trennen sich diese kurzen Wege – richtig aggressiv zu sein, richtig zynisch, richtig rebellisch, einfach nicht einverstanden mit allem! Wir wollen jetzt mal absolut elitär sein! Hochfahrend hochmütig und nicht anzupassen. Wir wissen selber und voneinander, und zwar nicht aus unseren Unter- und Übertreibungsdialogen, wie wenig bequem wir es haben, auf unserer Frequenz. Feierlichkeit kommt nicht zustande. Mein Nachbar kann sich nie vor seiner eigenen Intelligenz drücken, und jeder Stilisierung seiner Person käme unverzüglich die Selbstkritik in die Quere. Er travestiert sich, in jedem Nebensatz mindestens. Also dürfen unsere Hauptsätze die affirmativen Sonntagsausflügler verspotten, zum Beispiel. Gemeinsam finden wir uns durchaus tragikomisch.
Und dieser Wind heute, sage ich. Ein schrecklicher Wind, finden Sie auch? Jetzt zeigt sich Karl Krolow erstaunt. Sehr lässig, wie es seine Spezialität ist, erkundigt er sich nach meinem Befund. Auf Wetterlagen neugierig. Er hat es nicht so windig gefunden, bisher bis zu meiner zu starken Behauptung. Gewiß, es ist zugig, sagt er. Leger und souverän gibt er den Außenweltzumutungen seine Zensuren. Sie müßten sich wie abgetan, wie unerheblich, wie nicht der Rede Wert empfinden, alle diese Bedingungen. Dann wieder Verstehen wir gemeinsam den gemeinsamen Reizstoff der Hochdruck- oder Tiefdruckeinflüsse als Umzingelungen, zwischen denen es aufzupassen gilt, möglichst nicht den Alltagsboden unter den Füßen zu verlieren dieses immer gefährdete und täglich neu zu rettende, dieses rettende Terrain. Wir sprechen aber nicht vom Überleben, um das es aber ständig geht, während wir sprechen: jetzt von der wahrhaftig heute zu plakativen Sonnigkeit. Falls es nicht um eine demnächst zu absolvierende Reise geht: Zwei Stationen. Mehrfaches Umsteigen. Kennen Sie dieses Hotel? Man muß auf jeden Fall vermeiden, in einer GÄSTEHAUS genannten UNTERNEHMUNG einquartiert zu werden. Fahrkartenautomaten benutzen wir beide nicht wie herrlich auch immer irgendein kommunales Verkehrsnetz sich zu sämtlichen Buchhandlungen hin verzweigt.
So viel Ablehnung von Welt – wirkt das nicht negativistisch, misanthropisch, pathologisch einzelgängerhaft, auch paranoisch? Ach nein, wir wissen das besser. Wenn wir nachher zurückkommen, bald wieder uns unterbringen in den unfertigen Manuskripten und weitermachen, dann machen wir mit unseren Einlassungen auf die Welt weiter, dann hört es auf mit der einfachen puren Verweigerung, dann findet eigentlich ja das Gegenteil davon statt, und auch noch den tödlichsten Satz aus einem Krolow-Gedicht verstehe ich als eine Liebesbemühung, tödliche Sympathieerklärung. Die untilgbare Sehnsucht nach dem Grundgefühl von Günthers TROST-ARIA, ich werde sie immer mithören.
Ich denke: Von jetzt an hältst du ihn auf, wir sollten uns verabschieden. Doch da überquert dieser als Jäger für die Freizeit verkleidete Hausbesitzer die Straße, und wir müssen schnell noch über ihn und seinen Hund reden, an dem er seine gesamte Meinung zur Lage der Gegenwart abdressiert. Und dann kann einer von uns die Straßenseite nicht wechseln, auch dieses Auto ergibt einen Satz, unpointiert bei mir, aperçuhaft bei Karl Krolow: so kurz und schnell geht er wieder nicht vorüber, der kurze und schnelle Austausch. Karl Krolow ist mein einziger Kollege, mit dem ich in die sonderbar kathartischen Miniaturen von Albernheitsanfallen geraten kann, richtige Lachanfaälle, haltlos wie von Entronnenen, und man erschrickt fast auch ein bißchen darin, weil das Lachen wie ein Respektbeweis ist gegenüber von Trauer, Melancholie, Depression. Die Ernsthaftigkeit, die wir zu ernst nehmen für den wortwörtlichen Umgang, über die wir also immer schweigen, tritt als Gelächter aus uns heraus, und wir, die wir den Mund halten, bekommen jetzt den Mund nicht mehr zu, vor Lachen, mit dem wir eigentlich aufhören wollen, so etwas passiert uns nie, wenn wir uns allein irgendwo auf der Straße getroffen haben, nur während andere um uns herum und zwar seriös sind und während es selbstverständlich wie immer, objektiv gesehen, überhaupt nichts zu lachen gibt, erst recht nichts für uns beide mit den Selterswasserhandgriffen, und vielleicht lachen wir deshalb: Nun vorüber. Und der Hobbyjäger blickt mit einem mürrischen Stolz auf seinen Jagdhund an kurzer Leine und Karl Krolow tut ein Problem als Stoffwechsel ab, ich finde seine Schuhe sehr schön und sage es. „Es ist ein gutes Zeichen, / wenn man solche Kleinigkeiten / wahrnimmt und fast so gut / wie das Gefühl / in Ruhe gelassen zu werden.“ Wirklich, zum Thema unserer Nachbarschaft lasse ich unterwegs nicht viel verlauten. Was freut mich dennoch daran? Die kurze Auskunft über unsere synonyme Nähe genügt mir für mein langes Vergnügen. Daß wir einander gegenüber wohnen, kommt mir so richtig vor. Fast vernünftig. Auch so, als erübrige sich damit die Frage: Und wer von den Kollegen steht Ihnen denn nahe? Bezogen auf DIESEN Kollegen wenigstens, den ich nicht einholen kann, scheint hier die Geographie selbsttätig zu antworten. Ein günstiger Zufall hat vor einem Jahrzehnt die äußeren Erscheinungen gut zu den inneren Wünschen gruppiert. Das Bewußtsein vom Nachbarn ist folgerichtig und unvermeidlich täglich. Diese landschaftliche und architektonische Konsequenz aus meinem Gefühl paßt mir sehr. Karl Krolows zwei Schritten, mit denen er jetzt den Garten seiner Frau betritt, ein blumiges Gefild und IHRE Art von Lyrik, man sieht ihnen schon an, daß er nicht vorhat zu bleiben. Hier wird er sich nicht aufhalten. Sein Wort zum Frühling oder Herbst, Hochsommer oder Winter des laufenden Jahres, es wird trotz der äußersten Kühle und Vergänglichkeit seines spurenhaft winzigen Auftauchens im Garten doch auch für die gegenwärtige Jahreszeit wieder fallen, dann nicht vergänglich sein und, sollte es „kühl“ wirken, auf einen Trick und ein Versteckspiel zurückgehen. Ist denn der kurze Augenschein noch nötig? Es fallt mir zu leicht, mich NICHT darüber zu wundern, daß jemand jährlich lebenslang zu den gleichen wechselnden Erscheinungen seine Mitschrift liefert. Auf das Kommen und Gehen der äußeren Angebote seine innere Antwort gibt. So, mitschreibend, wird gelebt. Die nächste Zeile ist der nächste Atemzug. „Ich habe diesmal schnell reagiert“, sagt mir Karl Krolow, nun am Telephon, wieder mal untertreibend, da er immer schnell reagiert, und er hat eine Rezension gemeint; in dieser Zurückhaltung spricht er von seinen Stimuliertheiten und Reflexen, die natürlich auch mit Selbstdisziplin zu tun haben, und das ANHALTENDE Reagieren ist seine Art zu leben, schreibend.
Von den schwierig-wichtigen Seelentopographien, die ich meine, wenn ich unsere gemeinsame Wohngegend für eine stille Konsequenz halte, wird zwischen Karl Krolow und mir strikt geschwiegen, selbstverständlich. „Die Luft ist ein Reimwort, die Prosa / der Augenzeugen ist anders –“. Setze ich die Zitate überhaupt statthaft ein? Sollte ich meinen Nachbarn fragen? Am Telephon? Oder hinübergehen unangekündigt? Ich halte lieber an der Tradition fest, niemals so etwas wie WERKSTATTGESPRÄCHE zu veranstalten. Und doch unterbreche ich, hier bei diesem Text, ein bißchen auch diese Tradition. Die Gepflogenheit des Lakonismus. Der Palimpseste. Ich verschaffe es nicht, „das gute Gefühl / in Ruhe gelassen zu sein“ – doch wenn ich unser gemeinsames altes „Ausgangsgestein“ bedenke, von dem die ursprügliche Schrift getilgt wurde, freiwillig und ohne Absprache, ist mein Gewissen beim kleinen Grenzübergang hier gut. An der sehr wichtigen Diskretionsschwelle zwischen uns wird nichts nivelliert. Wir wissen, wovon wir nicht reden. Und das ist ein Gesangsduo, über das wir nun schweigen. Vor beinah zwei Jahrzehnten war das ein stimulierender, ein gleichzeitig kühn vorausgreifender UND abschlußartiger Anfang. Ziemlich laut und ziemlich euphorisiert haben wir TOCHTER ZION FREUE DICH miteinander gesungen, vom Whisky weltlich konkret ermutigt zum übergreifenden transzendenten Mut bei diesem definitiven Beginn zwischen uns. Kein Wunder, finde ich, bei dieser Art von Wunder, daß wir von da an so gut ohne die Urschriften ausgekommen sind. Wir haben damals den Imperativ FREUE DICH, eigentlich fast seraphisch in der entschlußkräftigen Angst, zu der wir Mut bekommen hatten, an eine andere Instanz delegiert, inmitten irgendeiner SPÄTEN STUNDE und PARTY und Geselligkeitsgruppierung isoliert, zuversichtlich wie bei allen Beflügelungen durch Whisky, doch mit Hilfe des Kirchenlieds waghalsig bei der Höchstdosis. Wir haben das nicht wiederholen müssen. Wir hätten es auch nicht gekonnt. Das eine Mal hat genügt, diese Verständigung dauert und dauert, hält an, auch die Whisky-Zeiten sind vorüber, wie die Zeiten der Duette und Singspiele, und erst recht wohl deshalb FREUT die weit abgerückte TOCHTER ZION sich dennoch immer für uns beide mit, oder in unserem Auftrag, besonders ja, wenn ihre irdischen Geschwister es nie so genau wissen, ob sie irgendwas Hochgemutes riskieren können. Heutzutage sprechen wir die Kontexte ohne Musikbegleitung. Mit Abschwächung hat das nichts zu tun, eher mit einem intelligenten Schutz für den triftigen Original-Moment, den kurzen ungeplanten Ausbruch. Wir verlassen uns auf die Depotwirkung, mit Recht, während wir, zufällig zusammengetroffen auf dem Stichweg zwischen unseren Häusern, uns über die schwächeren und bei Gewöhnung sich abnutzenden Effekte des Medikaments X unterhalten, im Ton der Mißbilligung, und während gegen unseren immateriellen Wirkstoff weiterhin nichts Nachteiliges vorliegt: keine Kontraindikationen also für mich, bei der Zufuhr der K. K.-Substanz.

P.S. Eigentlich habe ich ein Nachwort schreiben sollen, in der Nachwort-Tradition, und diese Idee des Verlegers, Karl Krolow und mich zusammenzutun, ausgerechnet auf seinem schön gelegenen Olymp, seiner BIBLIOTHEK SUHRKAMP, sie hat mir wohl von Anfang an allzugut gefallen: so traute ich mir Nachwortgemäßes zu, diese Mischform aus Paraphrase und Gestus eines Auswählenden. Absichtlich habe ich sie nicht so radikal vernachlässigt. Wahrscheinlich bekomme ich einfach unweigerlich einen Subjektivitätsanfall beim Lesen Krolowscher Sätze, spätestens aber anschließend, also nach dem Lesen, vor dem Schreiben, während ich einfach kehrtmachen muß angesichts der ordentlichen Absperrungen für die üblichen Rezipienten-Aussagen. Für diesen Mitteilungswert von Rezensionen. Ich meine: der ist längst von anderen erbracht, bei einem Dichter wie diesem, einem Langzeitpoeten, der sich durch die Jahre von 1943 – mit seinem ersten Gedichtband – bis in die Prosa-Emanation von 1979 publiziert hat, durch die jeweils fälligen biographischen Bedingungen, durch die optischen und die akustischen Angebote SEINER Jahreszeiten, seiner seelischen Zumutungen. Ich finde schon, ganz abgesehen (was ich nie GANZ machen kann) von allen diesen Sekundärverlautbarungen über diese wahren Profis, daß ich am ehesten das noch nicht Gewohnte zu K.K. sagen kann, wenn ich es riskiere, unter „die stille Oberfläche des Gefühls“ zu gehen. Aber wohlgemerkt: mit diesem Zitat von Krolow selber. Er möchte lieber darüber bleiben, das heißt: er läßt es lieber so aussehen. Dieser Hochsommer-Spezialist aus meiner Auswahl: wird er finden, ich habe seine Winter zu kurz kommen lassen? Gewiß doch soghaft durch ihn, beim Ankreuzen MEINER Gedichte in dem Band II der Gesammelten Werke, dieser Biographie-Begleitung durch Verse, dieser poetischen Mitschrift der Jahre 1965-1974, wurde ich sozusagen ähnlich transsubjektiv wie er selber, wenn er reizbar reagiert, zum Beispiel nachmittags um halb fünf, Ende Mai, in der ehemaligen Apéritifzeit, umringt und bestürzt vom immer wieder doch so plötzlich eindringenden GRÜN, auf dieses bestimmte und vor seiner Niederschrift noch nicht unverwechselbare, noch nicht unvertauschbare Flair der schwierigen Stunde, des komplizierten und vor seinen Wörtern zu flüchtigen Augenblicks: nun geht er über sich selber hinaus, der subjektiv bemerkte Moment, und „Grüne Silben / kommen zu Wort.“ Sind nicht die Wörter selber jetzt auch verwandelt, hier im Gedicht, wirkt nicht die Metamorphose über den Eindruck hinaus bis ins Innere der Buchstaben? Wie von einer Sehstörung, deren Paradoxon in der Präzision, in der ENT-Störung liegt, überhaupt erst entdeckt, wirkt das schnappschußhafte Langzeitbild vom „Familientisch“, um den die ausgedachten Verwandten sich in einer viel gewichtigeren, viel körperlicheren Anwesenheit gruppieren, als die bloß wirkliche sein könnte: die erfundene, die erinnerte Anwesenheit ist ziemlich ewig, ganz schön für immer sind „die behenden Rotweinflecken / die sich jeden Abend vergrößern.“ Es beruhigt mich aufs Beunruhigendste, und ich habe darauf gehofft, wenn ich in der letzten Zeile JEMAND SCHLEICHT SICH HINAUS lese.
Gut zu wissen, daß mein Nachbar, so lange er sich mit Sätzen hinausschleicht, im Zimmer bleibt, in der Gegend, die immer einmal wieder – ich wünsche das uns beiden – „so schön ist…, als wäre hier Schubert gewesen.“
Je mehr ich darüber nachdenke, so gut aufgehoben zwischen den Zitaten, wieso ich den Nachwort-Prototyp verfehle, desto selbstverständlicher wirkt das auf mich. Ich zähle nicht ab: wie viel Krolowsches Grün hast du schon in die Auswahl aufgenommen? Ich frage nicht nach dem Gleichgewicht zwischen Schnee, Tod, Schwalbe, Vergnügen und Hitze, ich kann auf das zweite „Schiff an der Wand“ nicht verzichten, wahrscheinlich, weil es einfach zu zielsicher „durch Laub fährt“. Ich bin an die Höchstgrenze gegangen, hier mit der Entscheidung für nicht mehr als 70 Gedichte: für jemanden, der zu diskret ist und einfach zu skeptisch für die Indikative, der also mit einer Gelassenheit, über deren Ernst man sich nicht täuschen sollte, auffordert:

Sieh dir das an, das könnte
einer sein, der einfach weggeht
aus seinem weltlichen Leben…

Gabriele Wohmann, Nachwort

 

Beiträge zu diesem Buch:

Hans Bender: Die Flexibilität bleibt groß
Süddeutsche Zeitung, 8./9.3.1980

Hans-Jürgen Heise: Zwei, die es eilig haben. Lyrik von Karl Krolow, ausgewählt von Gabriele Wohmann
Die Welt, 3.5.1980

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + ÖM + IMDb +
Archiv 1 & 2Internet Archive + Kalliope + Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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